© Yannis Drakoulidis / MGM/Warner
Luca Guadagninos Film Bones and All
von Hannah Bauer
Als sich die Zähne in den Finger schlagen, das Fleisch abziehen und nur einen merkwürdig nackten Knochen zurücklassen, zieht sich unweigerlich der Magen zusammen. Das intensive Knacken, das das Bild untermalt, tut sein Übriges. Die Protagonistin Maren (Taylor Russell) wird von ihrem Vater (André Holland) nach strengen Regeln erzogen — kein Treffen mit Freunden, erst recht keine Übernachtungsparties. Die eben erwähnte Szene erklärt diese Autorität schnell: Maren ist ein Eater, eine Kannibalin, die Menschenfleisch zu sich nehmen muss, um zu überleben. Zu Beginn des Films entzieht sie sich dem Regime ihres Vaters, um sich mit Freunden zu treffen. Dort kann das Mädchen zum ersten Mal seit langem den Drang nicht mehr unterdrücken. Sie und ihr Vater fliehen, es dauert allerdings nicht lange, bis dieser seine Tochter verlässt. Er habe immer gehofft, ihr Zwang verschwinde irgendwann, doch jetzt könne er ihr nicht mehr helfen. Maren macht sich auf eine Reise durch den mittleren Westen der USA, um ihre verschwundene Mutter und, mit ihr, Erklärungen zu finden. Auf ihrer Reise trifft das Mädchen zum ersten Mal Menschen, die so sind wie sie. Zuerst Sully (Mark Rylance), ein älterer Mann, der ihr das Riechen beibringt. Eater können andere ihrer Art wittern. Er bietet ihr an, sich ihm anzuschließen und von ihm zu lernen. Doch Maren misstraut Sully von Anfang an und verschwindet heimlich. Wenig später findet das erste Aufeinandertreffen von ihr und Lee (Timothée Chalamet) — dem zweiten Hauptcharakter — statt. Lee ist auch ein junger Eater, ebenfalls allein unterwegs. Schnell schließen sich die beiden zusammen und beginnen gemeinsam die Suche nach Marens Mutter.
Mehr als nur kannibalistischer Horror
Ab diesem Punkt entfaltet sich die Vielfältigkeit des Films. Zwischen Lee und Maren entwickelt sich eine Beziehung, eine Romantik, angetrieben durch die Isolation der beiden. Neben dem offensichtlichen Element des Horrors, das durch den expliziten Verzehr von Menschenfleisch immer präsent ist, werden Komponenten eines Liebesfilmes eingebaut. Die Suche nach Marens Mutter bettet die Horror-Romanze in den Rahmen eines Roadtrips ein. Diese Kombination hört sich merkwürdig an und das ist sie auch. Aber es funktioniert. Durch diese unterschiedlichen Handlungsebenen, entsteht ein Kontrast, der die einzelnen Erzählstränge intensiver hervortreten lässt. Die dargestellte Nähe der beiden Charaktere hat einen kannibalistisch-fahlen Beigeschmack, man wartet unweigerlich auf einen kräftigen Biss. Gleichzeitig sind die pastelligen, sanften Liebesszenen und Landschaftsaufnahmen eine willkommene Pause zum Durchatmen.
Die vielfältigen Facetten des Films spiegelt Regisseur Luca Guadagnino auch in dem Einsatz von sehr unterschiedlichen Ästhetiken und Stimmungen wider. Kontrastreiches Hell-Dunkel-Spiel wechselt sich mit verwaschenen Sommertönen ab. Die Sogkraft dessen wird besonders in der Szene deutlich, in der Lee und Maren in einen blutigen Todeskampf verwickelt sind, dazwischen aber immer wieder Aufnahmen einer Vogelfamilie eingespielt werden.
Never change a winning team
Luca Guadagigno und Timothée Chalamet schreiben mit Bones and All das nächste Kapitel ihrer erfolgreichen Zusammenarbeit, die 2017 mit dem Welterfolg Call Me By Your Name begann. Beide hatten dadurch ihren internationalen Durchbruch. Chalamet wird seitdem als einer der prägenden Schauspieler und Ikonen der jungen Generation gehandelt. Bones and all zeigt, warum dies der Fall ist. Der junge Schauspieler scheint wie geschaffen für die melancholische Charakterinszenierung Guadagninos. Taylor Russell liefert ebenfalls eine absolut überzeugende Performance ab, glaubwürdig spielt sie Marens moralische Verwirrung auf der Suche nach einem Leitfaden, um mit ihrer Lebenssituation umzugehen. Ihre Leistung wurde auch von der Kritik anerkannt. Bei den Internationalen Filmfestspielen von Venedig wurde die junge Schauspielerin 2022 mit dem Marcello-Mastroianni-Preis Beste Nachwuchsschauspielerin ausgezeichnet. Zudem erwähnenswert ist die Arbeit von Mark Rylance. Er setzt die beängstigende Verwirrtheit seines Charakters so glaubhaft um, dass man das eine oder andere Mal fast die Augen von der Leinwand abwenden muss.
Zuneignung, die man rechtfertigen muss
Immer wieder wird die Thematik des Kannibalismus auch als subtiles Aufzeigen der unergründbaren Grenzen von Gut und Böse und für die diversen Graustufen dazwischen genutzt. Man entwickelt eine gewisse Zuneigung für Lee und Maren und hofft, dass das Paar eine Lösung findet — obwohl sie kurz vorher einen Familienvater gegessen haben. Man rechtfertigt diese Zuneigung vor sich selbst. Sie müssen es ja tun, sie leiden ja schließlich darunter. Das wiederum wirft die Frage auf, inwiefern man jemand als „Böse“ klassifizieren kann, der sich auf Grund eines Zwangs so verhält. Alle Eater leben vereinsamt am sozialen Rand, verdammt durch ihre Bedürfnisse. Um die sein zu können, die sie sein müssen, zahlen sie einen hohen Preis. Ist das schon Strafe genug? Besonders im Gedächtnis bleibt eine Szene im Kuhstall, in der Maren Lee fragt, ob er denn schon mal darüber nachgedacht habe, dass sie — die Kühe und ihre Opfer — Gefühle und Familie haben. Das zeigt, dass Maren und Lee ihr Handeln hinterfragen und vor allem wissen, dass es moralisch nicht rechtfertigbar ist. Für den Zuschauer relativiert diese Szene jedoch kurz die Grausamkeit des Kannibalismus. Durch die im Film aufgemachte Gleichstellung von Mensch und Tier stellt sich überdies die Frage, inwiefern der alltägliche Fleischkonsum Parallelen zum Verhalten der Eater hat.
Bones and All lässt sich in keine Schublade stecken, sowohl bei der Genreeinordnung als auch in der ethischen Bewertung. Durch die ständige Balance zwischen Sympathie und Entsetzen, Ekel und Ästhetik wird es dem Zuschauer unmöglich gemacht, das Geschehen in einem Schwarz-Weiß-Raster einzuordnen. Diese Gratwanderung verstört und begeistert zugleich. Kann man kein Blut sehen, sollte der Film vermieden werden — allen anderen wird er wärmstens ans Herz gelegt.