Klaffende Wunden der Gegenwart

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Eine Rezension zu Sacha Baron Cohens »Borat Subsequent Moviefilm«

von Steven Gabber

Grenzen der Zeitkritik

An der Figur des Borat schei­den sich die Geis­ter. 15 Jah­re sind ver­gan­gen seit der ers­te Teil sei­ne Zuschauer*innen mit sei­ner sati­ri­schen Bis­sig­keit geschockt hat, ohne dabei ein Blatt vor den Mund zu neh­men. Nun ist es wie­der soweit. Als Ama­zon Ori­gi­nal erschien am 23.10.2020 das Sequel zum Skan­da­lon. Es über­rascht kaum, dass der bri­ti­sche Pro­du­zent und Strip­pen­zie­her Sacha Baron Cohen sich wie­der für das Mocku­men­ta­ry-For­mat ent­schei­det, gewis­ser­ma­ßen eine Pseu­do-Doku­men­ta­ti­on. Im ers­ten Teil soll­te Borat, Jour­na­list auf staat­li­cher Mis­si­on, das fer­ne Ame­ri­ka erkun­den um kul­tu­rel­les Kapi­tal in die eige­nen Lan­des­gren­zen, kon­kret das als tota­li­tä­res Regime insze­nier­te Kasach­stan, zu beför­dern. So weit, so gut. Die­se Kam­pa­gne gilt zu Beginn des zwei­ten Teils als geschei­tert, der zen­tral­asia­ti­sche Staat auf öffent­li­cher Büh­ne als bla­miert. Zur Ver­söh­nung, so das Motiv des Sequels, sol­le Borat durch das Über­rei­chen eines offi­zi­el­len Präs­ents eine kor­rum­pie­ren­de Ver­söh­nung mit den Ver­ei­nig­ten Staa­ten in die Wege lei­ten. Das Geschenk ist nie­mand weni­ger als sei­ne eige­ne fünf­zehn­jäh­ri­ge Toch­ter Tutar, gespielt von der für ihre Per­for­mance preis­ge­krön­ten Bul­ga­rin Mari­ja Bakalowa.

Das absur­de Grund­sze­na­rio legt den Grund­stein für die durch­weg iro­nisch-komö­di­en­haf­te Dar­stel­lungs­wei­se des Films. Das Erfolgs­re­zept lau­tet erneut: Die gro­tes­ke Kari­ka­tur Borat trifft auf Men­schen des rich­ti­gen Lebens, die sich oft nicht völ­lig im Kla­ren über ihr Mit­wir­ken in einem Hol­ly­wood­film sind. Höhe­punk­te der Komik ent­ste­hen dann, wenn Borat sei­ne abstru­sen Wer­te und Nor­men, die von Miso­gy­nie bis hin zum Anti­se­mi­tis­mus rei­chen, in der ame­ri­ka­ni­schen Gesell­schaft wie­der­erkennt und gar selbst zur Iden­ti­fi­ka­ti­ons­fi­gur wird.

Unter den Kri­ti­ken des ers­ten Films befin­den sich (lei­der) zahl­rei­che Fehl­lek­tü­ren, die es ver­säu­men zwi­schen der fik­tio­na­len Figur Borat und ihrem Dar­stel­ler und Pro­du­zen­ten Sacha Baron Cohen (der ganz neben­bei als jüdi­scher Bri­te alles ande­re als ein Anti­se­mit ist) zu unter­schei­den. Die über­spitz­ten Ansich­ten der Haupt­fi­gur wur­den nicht sel­ten zur Bot­schaft des Films erklärt: Er glo­ri­fi­zie­re Frau­en- und Frem­den­hass, Tier­quä­le­rei oder Anti­se­mi­tis­mus und zie­he dabei ein unbe­tei­lig­tes, falsch dar­ge­stell­tes Land durch den Dreck. Man­chen Rezipient*innen ent­ging dabei, dass die eigent­li­che Ziel­schei­be Cohens die ame­ri­ka­ni­sche Gegen­warts­kul­tur mit allen ihren zwei­fel­haf­ten Schat­ten­sei­ten ist. Eine Gesell­schaft, die durch sati­ri­sche Kon­fron­ta­ti­on mit der Figur Borat dekon­stru­iert wird: Auf sei­ner Ent­de­ckungs­rei­se trifft er auf ras­sis­ti­sche Gun-Shop-Owner, ver­rann­te Sek­ten­füh­rer und chau­vi­nis­ti­sche Sou­ve­nir­händ­ler, wobei Per­so­nen des öffent­li­chen Lebens kei­ne Sel­ten­heit dar­stel­len. Als die laten­te Bedro­hung ent­puppt sich gera­de nicht die Außen­welt, son­dern der fau­li­ge Kern der ame­ri­ka­ni­schen Zivi­li­sa­ti­on, so ein mög­li­ches Fazit für das Prin­zip Borat.

Teil zwei bie­tet nun, da dem Publi­kum rund 15 Jah­re zum Ver­ste­hen der Mit­tel und Wege des Vor­gän­gers zur Ver­fü­gung stand, eine neue Chan­ce, sei­nen Zuschauer*innen die Kinn­la­de her­un­ter­fal­len zu las­sen. Die Erwar­tun­gen sind groß und die Mess­lat­te für moder­ne Schock­äs­the­tik hoch.

Schema F: Alter Wein in neuen Schläuchen

Längst bekannt ist uns Cohens aggres­si­ves Hand­werks­zeug für sei­ne Fil­me. Dies soll sich auch im Sequel nicht ändern, so setzt Cohen erneut auf alt­be­währ­te kine­ma­ti­sche Koch­re­zep­te. Wie­der gibt es Laden­be­sit­zer, die mora­li­sche Gren­zen über­schrei­ten, wenn etwa eine Tor­ten­bä­cke­rin auf Wunsch mit Zucker­guss schreibt: “Jews will never be bet­ter than us”, ein Pas­tor, der nicht an Zufäl­le glaubt, von der Abtrei­bung einer ver­meint­lich inzes­tuö­sen, pädo­phi­len Schwan­ger­schaft abrät oder ein Bau­markt­be­sit­zer sei­nem Kun­den Borat bei der Aus­wahl des per­fek­ten Käfigs für sei­ne Toch­ter berät. Dubio­se Preis­ver­hand­lun­gen fin­den dies­mal nicht mit Hotel­an­ge­stell­ten und Auto­händ­lern, son­dern mit Schön­heits­chir­ur­gen statt, die die min­der­jäh­ri­ge Figur Tutar auf ihren künf­ti­gen “Besit­zer” vor­be­rei­ten sollen.

Die Recy­cling-Maß­nah­men machen auch vor dem Sound­track nicht halt, auf­fäl­lig häu­fig wer­den ein­zel­ne Songs nach dem Copy-Pas­te-Sche­ma über­nom­men, anstatt etwa moder­ne­re Wer­ke der betei­lig­ten Künstler*innen wie der Gypsy-Band “Maha­la Rai Ban­da” oder der Brass­grup­pe “Ori­gi­nal Koča­ni Orke­star” zu wür­di­gen. Hier wur­de ein­deu­tig am fal­schen Ende gespart.

Inso­fern dem Publi­kum der ers­te Teil prä­sent geblie­ben ist, kann es unzäh­li­ge Sche­ma­ta wie­der­erken­nen. Was das Mot­to Recy­cling etwas genieß­ba­rer macht, ist der etwas hand­fes­te­re Hand­lungs­strang, der den ein­zel­nen Sze­nen ein­ge­wo­ben ist: Wäh­rend in Teil eins die meis­ten Begeg­nun­gen Borats recht belie­big anein­an­der­ge­reiht erschie­nen, besitzt das Sequel durch erheb­li­che Antei­le geskrip­te­ter Sequen­zen einen weni­ger frag­men­ta­ri­schen Cha­rak­ter. Dafür ist nicht zuletzt die her­aus­ra­gen­de Bak­a­lowa ver­ant­wort­lich, die sich als gut­tu­en­des Gegen­ge­wicht zur Borat-Figur zeigt und ver­hin­dert, dass patri­ar­cha­le Ein­sei­tig­keit einsetzt.

Wunden der Gegenwart

Eine der größ­ten Plus­punk­te des Films ist sein unüber­seh­ba­rer Zeit­be­zug. Er legt sei­ne Fin­ger in die klaf­fen­den Wun­den des Jah­res 2020: Die Figur Borat wird als Pati­ent Null insze­niert, die die Welt unwis­send mit COVID-19 infi­ziert. Borat steht plötz­lich selbst inmit­ten der sozia­len Unru­hen in den USA, wird Zeu­ge der Lock­down­maß­nah­men und gerät dabei an hys­te­ri­sche Ver­schwö­rungs­theo­re­ti­ker: Gera­de QAnon-Anhän­ger bie­ten dem Prot­ago­nis­ten Unter­schlupf wäh­rend der Coro­na-Pan­de­mie und sind nicht nur bereit, ihr abstru­ses “Geheim­wis­sen” mit ihrem Gast zu tei­len, son­dern beglei­ten ihn auch auf eine March-for-Our-Rights-Ral­ly, wo Borat mit einem Song auf offe­ner Büh­ne eini­ge Wut­bür­ger zum Mit­grö­len ani­miert. Unter ande­rem schun­kelt der Mob, wenn es über Oba­ma, Fau­ci oder Clin­ton heißt “Chop ‘em up like the Sau­dis do.”, “Inject ‘em with the Wuhan Flu.”. Hier erreicht der Film den Höhe­punkt sei­ner poli­ti­schen Wir­kungs­ge­walt und ent­blößt ein tief gespal­te­nes, von der Rea­li­tät ent­frem­de­tes Ame­ri­ka. Die iso­lier­ten Pole der Gesell­schaft wer­den selbst von der Figur Borat zum “big­gest thre­at” erklärt und als pre­kä­re Bla­sen erkannt.

Doch der Film belässt es dies­mal nicht dabei, die Pro­blem­fel­der auf natu­ra­lis­ti­sche Art in ihrer Nackt­heit dar­zu­bie­ten. Im Gegen­satz zu sei­nem Vor­gän­ger ent­hält das Sequel weit­aus ver­söhn­li­che­re, oder gar opti­mis­ti­sche Impul­se. Anstatt nihi­lis­ti­scher Sta­tik zei­gen sich tat­säch­li­che Fort­schrit­te, den Sire­nen aus dem Sumpf wer­den regel­rech­te Stim­men der Ver­nunft ent­ge­gen­ge­stellt. Einen Licht­schim­mer inmit­ten des sonst so zyni­schen Uni­ver­sums Cohens bie­tet die Baby­sit­te­rin Jeansie Jones. Sie fun­giert als mora­li­sche Fes­tung, die als Hel­fer­fi­gur die Prot­ago­nis­tin auf ihren unter­drück­ten Zustand auf­merk­sam macht und ihr Bei­stand leis­tet, sich von den Fes­seln des Patri­ar­chats zu lösen. Das soge­nann­te “Daughter’s Owner’s Manu­al”,  das als staat­li­cher Rat­ge­ber Frau­en von ihren Grund­rech­ten und Eigen­in­ter­es­sen abhal­ten sol­le, dif­fa­miert Jones zu einem repres­si­ven “manu­al full of lies”. Die eman­zi­pier­te Tutar begreift in ihrem Ado­les­zenz­pro­zess  Män­ner­herr­schaft als eine brö­ckeln­de und unbe­grün­de­te Ideo­lo­gie, die mit der Rea­li­tät nicht not­wen­di­ger­wei­se über­ein­stimmt, und kon­fron­tiert ihren Vater damit. Einst eine sta­ti­sche Figur, zeigt sich der Prot­ago­nist nun tat­säch­lich fähig, ernst­haf­te Ver­än­de­run­gen in sein mora­li­sches Wer­te­sys­tem zu brin­gen. Borat durch­läuft eine stei­le Ent­wick­lung vom frau­en­ver­ach­ten­den Hei­rats­stra­te­gen zu einem lie­ben­den Vater, der nun ent­ge­gen der insze­nier­ten “Norm” die eige­ne Toch­ter sogar sei­nen Söh­nen vor­zieht und sie schließ­lich auf­op­fe­rungs­voll vor einer Par­tie mit Rudy Giu­lia­ni bewahrt. Anstatt über mar­gi­na­li­sier­te Frau­en zu reden, wie es noch der Vor­gän­ger tat, stellt das Sequel Weib­lich­keit in den Mittelpunkt.

Das­sel­be gilt auch für die Kon­fron­ta­ti­on mit dem Anti­se­mi­tis­mus der Figur Borat. In einer Syn­ago­ge führt er ein Gespräch mit der Holo­cau­st­über­le­ben­den Judith Dim Evans, ein bril­lan­ter Auf­hän­ger, um auf die fata­le Ten­denz von holo­caust­leug­nen­den Ver­schwö­rungs­theo­rien auf­merk­sam zu machen, deren Bekämp­fung häu­fig schlep­pen­der vor­an­geht als ihr Wachs­tum auf digi­ta­len Platt­for­men, die unter dem Deck­man­tel der Mei­nungs­frei­heit zen­so­ri­sche Maß­nah­men ver­wei­gern. Der Film nutzt eben­die­se Chan­ce, um sich als auf­klä­re­ri­sches Medi­um der Kon­fron­ta­ti­on zu zei­gen. Evans, eine abso­lu­te Sym­pa­thie­trä­ge­rin in ihrer Begeg­nung mit Borat, ver­starb vor Ver­öf­fent­li­chung des Fil­mes. Erst die Ent­hül­lung, dass sie in die Sze­ne ein­ge­weiht war, eine per­sön­li­che Wid­mung an die Ver­schie­de­ne im Abspann und der erneu­te Hin­weis auf Cohens anti­ras­sis­ti­sche Ansich­ten konn­te die Wogen von erneu­ten Anti­se­mi­tis­mus­vor­wür­fen glätten.

Fazit

Cohen zeigt sich in Borat Sub­se­quent Movie­film als erfah­re­ner Fil­me­ma­cher, der zwar an sei­ner Schock­äs­the­tik fest­hält, jedoch weit­aus mehr Ener­gie inves­tiert, sei­nen Film vor fal­scher Rezep­ti­on zu schüt­zen. Hier­für arbei­tet er häu­fig pla­ka­ti­ver in sei­ner Kari­kie­rung der Haupt­fi­gur als zuvor. (Ins­be­son­de­re weib­li­che) Kon­trast­fi­gu­ren sind hilf­rei­che mora­li­sche Ori­en­tie­rungs­punk­te in Borats bizar­ren Uni­ver­sum, gera­de weil sie nicht mehr am Ran­de ste­hen, son­dern Dreh- und Angel­punk­te des dyna­mi­schen Hand­lungs­strangs dar­stel­len. Fer­ner bie­tet der enor­me Zeit­geist des Films zahl­rei­che Mög­lich­kei­ten für das Publi­kum, eine eige­ne Hal­tung zum Gezeig­ten aufzubauen.

Borat ist jedoch nach wie vor eine als Scha­blo­ne die­nen­de Pro­jek­ti­ons­flä­che für Ste­reo­ty­pen gegen­über rund 19 Mil­lio­nen Kasach*innen, auf deren Rücken Cohens Spä­ße aus­ge­tra­gen wer­den. Kasach­stan ist für den Groß­teil des Publi­kums nichts als eine tabu­la rasa, wil­der Osten, ein welt­po­li­tisch unbe­deu­ten­der Sowjet­split­ter. Gera­de das Gen­re der Mocku­men­ta­ry bie­tet zahl­rei­che Mög­lich­kei­ten für Miss­ver­ständ­nis­se, denn nicht alle Zuschauer*innen neh­men eine iro­ni­sche Distanz zum Gesche­hen ein. Der Grat zwi­schen Unmiss­ver­ständ­lich­keit und Bana­li­tät ist schmal. Der zwi­schen schwar­zem Humor und Black­fa­cing auch.

Fest steht: Das Sequel soll­te als hoch­po­li­ti­scher Kom­men­tar auf die Gegen­warts­kul­tur ernst­ge­nom­men wer­den. Cohen über­lässt nichts dem Zufall und zeigt außer­or­dent­li­ches Gespür für die Pro­ble­me sei­ner Zeit, auch wenn sich nicht jeder und jede mit sei­nen Wegen und Mit­teln anfreun­den kann.