Die letzten Buchstaben des Worts

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von Kristina Becker

„So the words you could not say, I’ll sing them for you”

Geor­ge Micha­el, Jesus to a Child

Du nimmst einen Bis­sen und schaust auf den Tel­ler. Das Essen ist fast kalt gewor­den. Es bil­den sich kei­ne Dampf­fä­den mehr, die sich lang­sam in der Luft, in Schlei­fen ver­lie­ren. Der Tel­ler­rand lau­warm, der Löf­fel heiß von der Spül­ma­schi­ne. Du siehst mich starr an, als du merkst, dass nicht das Essen heiß ist, son­dern der Löf­fel. Es schmeckt trotz­dem. Aber jeder Bis­sen irri­tiert. Wie gut wür­de es schme­cken, wür­de es heiß geges­sen wer­den? Jeder Bis­sen hin­ter­lässt einen Rest Ver­lan­gen, ein Unbe­ha­gen. Der hei­ße Löf­fel, fast höh­nisch, erin­nert uns an das, was gewe­sen sein könn­te. Du löf­felst dei­ne rote Sup­pe und sagst etwas auf Rus­sisch. Du wischst dir mit dem Hand­rü­cken dei­nen Mund ab und siehst mich fra­gend an.

 

Rot heißt auf Rus­sisch Mund. Es heißt, wenn wir die Spra­che wech­seln, wech­seln wir die Per­sön­lich­keit. Ich sehe dich an, wenn du sprichst. Manch­mal den­ke ich, wir wech­seln unser Aus­se­hen, wenn wir die Spra­che wech­seln. Ich sehe, wie dein Mund sich krümmt und die glän­zen­den Zäh­ne frei­legt. Sie sind weiß und lie­gen dicht neben­ein­an­der. Ein­ge­reiht. Erin­nerst du dich, wie ich mir ein­mal einen Zahn gezo­gen habe? Er war locker und hing an einem dün­nen Gewe­bef­a­den in mei­nem Mund. Ich nahm einen Faden und band ein Ende um den Zahn. Das ande­re leg­te ich um den Griff mei­ner Kin­der­zim­mer­tür und mach­te einen Kno­ten. Ich muss­te sie nur zuschla­gen und der Zahn war weg. Ich stand und sah auf die Tür, die weiß war, wie der Zahn in mei­nem Mund, der an zwei dün­nen Fäden, aus zwei ver­schie­de­nen Rich­tun­gen hing. Mach einen Schritt weg von der Tür. Schlag sie zu und der Zahn ist weg. Ich hob die Hand und woll­te die Tür von mir weg­drü­cken, woll­te mich gegen sie leh­nen und sie ins Schloss hau­en. Als ich ein­at­me­te und einen Schritt zurück ging, lag der Zahn auf dem Boden.

 

Jedes Mal, wenn mir ein Zahn aus­fiel, leg­te sich mei­ne Zun­ge in den ent­stan­de­nen Zwi­schen­raum. Sie bohr­te sich in das wei­che, wacke­li­ge Gewe­be. Als wür­de sie etwas suchen. Als wür­de sie ver­su­chen, die Lücke zu fül­len. Sie sto­cher­te in dem wei­chen Fleisch, bis Blut kam.

 

Manch­mal ist etwas so lan­ge her, dass wir wie­der mit­ten­drin sind. Die Geschich­ten zie­hen ihre Krei­se und kom­men zu uns zurück. Manch­mal lie­gen die Din­ge so weit zurück, dass wir nicht mehr wis­sen, wann sie waren. Sie lie­gen so weit zurück, manch­mal wis­sen wir nicht mehr, ob sie waren. Die Gedan­ken kom­men zurück und die Geschich­ten kom­men zurück und mit jeder Erin­ne­rung, erzäh­len wir sie uns neu. Jede Erzäh­lung unter­schei­det sich von der letz­ten. Jede Erzäh­lung unter­schei­det sich von der nächs­ten. Sie trägt die Spu­ren der letz­ten und die nächs­te wird ihre Spu­ren tra­gen. Wenn wir erzäh­len, weben wir. Wenn wir erzäh­len, ver­kno­ten wir. Das löch­ri­ge Netz der Geschich­ten spinnt sich von selbst weiter.

 

Wir kau­en. Du wischst dir mit der Ser­vi­et­te den Mund ab und fal­test das sau­cen­be­fleck­te Stück nach vor­ne. Du ver­schließt die Spu­ren vor dem Blick der ande­ren und legst die gefal­te­te Ser­vi­et­te unter dei­nen Tel­ler­rand. »Und schmeckt es euch?«, fragst du. »Ja. Ist da schwar­zer Knob­lauch drin?« – »Ja, den habe ich ges­tern im Rewe gese­hen! Habe ihn gleich mit­ge­nom­men.« – »Ist da was drin? Schwar­zer Knob­lauch?« fragt er. »Ja, den gibt’s auch, der ist fer­men­tiert.« –»Ach­so« sagt er, wäh­rend er zum Tel­ler schaut und den nächs­ten Bis­sen nimmt. »Übri­gens« fängt er an und ver­schluckt sich.

 

Auf Dari macht man sich kei­ne Sor­gen. Auf Dari isst man Sor­gen. Lass mich dei­ne Sor­gen essen. Gib mir dei­ne Sor­gen und ich esse sie und ich spu­cke sie aus. Und wenn sie aus­ge­spuckt auf dem Boden lie­gen, wer­den sie anders sein. Sie wer­den sich in mei­nem Inne­ren ver­kno­tet und ver­hed­dert haben. Sie wer­den auf dem Boden ver­schwim­men, wenn das M des Munds, als das W des Was­sers raus­kommt. Wie das Was­ser, das ich ver­schüt­te, wenn ich zu Besuch bin und wir am Tisch sitzen.

 

Spra­che heißt auf Rus­sisch yas­ik. Das­sel­be Wort bedeu­tet Zun­ge. Ich has­se es, wenn du rauchst. Wir ste­hen drau­ßen auf der Ter­ras­se und du bläst den Rauch in die Schwär­ze der Nacht. Du stehst da mit mei­nem Schal über dei­nen Schul­tern. Der Schal mit den zwei Brand­lö­chern, weil ich mei­ne Ziga­ret­te am Toas­ter ange­zün­det habe und ein paar bren­nen­de Krü­mel raus­ge­fal­len sind. Du sagst: »Wenn ich dar­über nach­den­ke, habe ich das, was ich nicht gesagt habe, immer mehr bereut, als das, was ich gesagt habe. Du ent­schul­digst dich so oft für das, was du sagst, aber immer­hin sagst du es. Das, was dir wich­tig ist. Ich konn­te das nie, ich habe mich immer nicht getraut oder dach­te, es ist nicht so wich­tig. Dar­an den­ke ich oft noch lan­ge.« Du bläst den Rauch aus, wäh­rend du dei­nen Kopf zur Sei­te drehst, und fängst an, mit dei­nem Fuß ein Stein­chen unter der Soh­le hin und her zu schie­ben. Ein Frosch unter­bricht unse­re Stil­le mit sei­nem Qua­ken. Ich sage: »Drück sie aus. Drück die Ziga­ret­te aus. Drück sie aus auf mei­ner Zun­ge, damit kei­ne Wör­ter mehr rauskommen.«

 

Wenn du mit mir sprichst und ich dich nicht ver­ste­he, ist es, als wür­den dei­ne Fra­gen zwi­schen uns ste­hen. Kom­men sie zurück zu dir? Hörst du ein Echo, in der Stil­le unse­rer Ant­wor­ten? Erin­nerst du dich an die Stil­le der Fra­gen, die du dei­nen Eltern nicht gestellt hast? Hast du mir dei­ne Sprach­lo­sig­keit gege­ben, damit ich dich nicht fra­gen muss? Wen siehst du noch, wenn du mich ansiehst? Oma kann mich nicht mehr anse­hen. Wenn sie mich sieht, sieht sie ihren Vater und weint. Ich kann­te ihn nicht. Sie weint und spricht in den Raum zwi­schen uns. Ihr kennt die­sen Raum, ihr wart dort. Ihr habt zwi­schen uns gespro­chen und ich habe euch nicht ver­stan­den. Die Stil­le füll­te den Raum. Sie hallt nach, reißt Löcher, zieht Gren­zen. Ich besu­che Oma nicht mehr.

 

Hörst du, wie mei­ne Stim­me nach oben geht, auch wenn ich nichts fra­ge? Die­se Nacht lie­ge ich früh im Bett und las­se das Fens­ter einen Spalt offen. Ab und zu fährt ein Auto vor­bei. Aber ich war­te auf die Tram. Genau alle sie­ben­ein­halb Minu­ten fährt sie mit einem Klin­geln ein. Ich wick­le mich in die Decke ein und döse vor mich hin, als ich das lei­se Brem­sen und Quiet­schen auf den Glei­sen höre. Die Türen öff­nen sich. Steigt jemand ein? Die Türen schlie­ßen sich und mit einem Auf­heu­len des Motors fährt die Tram rau­schend wei­ter. In die­ser Nacht träum­te ich wie­der, dass mei­ne Zäh­ne aus­ge­fal­len wären.

 

Ich bei­ße zu has­tig zu und mei­ne Zäh­ne rei­ben quiet­schend anein­an­der. Wir haben zu lan­ge gewar­tet, bis wir mit dem Essen ange­fan­gen haben und jetzt ist es schon kalt gewor­den. »Also, was ich sagen woll­te«, fängt er an, wäh­rend er auf den Tel­ler sieht und den nächs­ten Bis­sen nimmt. Er kaut und spricht wei­ter, bevor er run­ter­schluckt. Mit halb­vol­lem Mund sagt er: »Wir hat­ten«, nicht ohne eine Pau­se zu machen um wei­ter­zu­kau­en »vor einer Wei­le«, er nimmt einen Schluck Was­ser und spült den Rest run­ter. »Wir haben dar­über gespro­chen«, sagt er und schiebt den nächs­ten Löf­fel nach. »Ihr habt es noch nicht gewusst«, presst er zwi­schen Kar­tof­fel­stück­chen her­aus, die er zwi­schen den Wor­ten hin und her schiebt. »Des­we­gen sage«, er räus­pert sich. »Des­we­gen sage ich es«, fängt er an und ver­schluckt sich ein zwei­tes Mal. »Sag mal, war­um schluckst du nicht ein­fach run­ter, bevor du sprichst?«, sagt sie zu dir. »Ja aber ehr­lich, was soll das eigent­lich?«, sage ich, wor­auf du zum ers­ten Mal ohne Essen im Mund sprichst. »Wenn ihr mich gelas­sen hät­tet, hät­te ich es schon längst gesagt! Wenn ihr mich nicht unter­bro­chen hät­tet.« – »Ja, wann denn, du hast doch die gan­ze Zeit geges­sen, statt ein­fach zu spre­chen?« – »Und das ist auch nicht beson­ders schön am Tisch, ehr­lich gesagt.« – »Ihr lasst mich doch gar nicht spre­chen« sag­te er und leg­te sei­nen Löf­fel ab. »Die gan­ze Zeit unter­brecht ihr mich, ihr wollt es doch gar nicht hören, was ich sagen will.« – »Dann sag es doch ein­fach, wir haben vor­her genug gewar­tet und nur dein Kau­en gehört« sage ich zu dir, wor­auf ich auch mei­nen Löf­fel ablege.

 

Die Toma­ten, die wir jeden Som­mer essen, sind seit drei­ßig Jah­ren die glei­chen. Jedes Jahr trock­nest du die Samen auf einem Küchen­pa­pier in der Son­ne und hebst sie für das nächs­te Jahr auf. Wir essen immer wie­der die glei­chen Toma­ten und sie wer­den mehr. Für ein oder zwei Mona­te im Jahr ste­hen die klei­nen Pflan­zen im Wohn­zim­mer ent­lang der Ter­ras­se und im Ess­zim­mer in der Son­ne. Sie wach­sen lang­sam, bis es warm genug ist, um sie raus­zu­brin­gen. Ein­mal hast du mir eine Pflan­ze vor­bei­ge­bracht und sie auf mei­nem Bal­kon ein­ge­pflanzt. Du pflegst die Toma­ten, deren Samen Oma damals mit­ge­nom­men hat. Der Bal­kon war son­nig und der Topf war groß, aber ich habe sie ver­ges­sen und sie sind ver­trock­net. Ich woll­te sie nicht, ich dach­te schon, ich wür­de nicht an sie den­ken, aber ich woll­te es dir nicht sagen. »Nimm sie«, hat­test du gesagt. »Hier, ich habe eine Schau­fel dabei und pflan­ze sie gleich ein. Wo ist dein Topf?« – »Er steht drau­ßen auf dem Bal­kon.« Ich wuss­te nichts über Toma­ten und auch nichts über ande­re Pflan­zen. Du hat­test mir gesagt, wie oft ich sie gie­ßen soll­te. Ich hät­te dich fra­gen kön­nen, aber ich habe sie ver­ges­sen und es erst bemerkt, als sie ver­trock­net waren.

 

Die klei­nen Buch­sta­ben lie­gen vor dei­nen Füßen. Weißt du noch, wie Oma mich ein­mal ange­schrien hat­te, war­um mei­ne Füße so groß sind? »Sie sind viel zu groß, du bist doch eine Frau! Dei­ne Mut­ter hat nicht so gro­ße Füße. Ich auch nicht. Nie­mand hat so gro­ße Füße! War­um du als ein­zi­ge?«, warf sie mir vor und merk­te nicht, wie ich vor mich hin gelacht habe. Ent­nervt ging sie nach neben­an und hol­te ein Paar Haus­schu­he. Ich wuss­te nicht, dass sie Socken für mich gestrickt hat­te, die zu klein waren. Sie hat sie auf­ge­trennt und jede zuvor geknüpf­te Masche her­aus­ge­zo­gen, um von vor­ne zu begin­nen und sie alle erneut auf­zu­neh­men. Sie frag­te mich, ob ich ihr eine Notiz auf einem Zet­tel vor­le­sen könn­te. Sie konn­te ihre Bril­le wie­der nicht fin­den und ohne konn­te sie die Buch­sta­ben nicht sehen. Ich stand auf und mei­ne Füße knack­ten, als ich auftrat.

 

Wie­so haben so vie­le Spra­chen das­sel­be Wort für Zun­ge wie für Spra­che? Wie konn­tet ihr mir eine Spra­che geben, die ihr nicht hat­tet? Wenn wir mit­ein­an­der spre­chen, schwei­gen wir gemein­sam in der Sicher­heit der Stil­le. Die­se Stil­le kennt kein Miss­ver­ste­hen, sie kennt nur das War­ten. Die Wor­te lie­gen mir auf der Zun­ge, aber mein Mund lässt sie nicht raus. Ich set­ze an, etwas zu sagen, aber die Wör­ter ste­cken fest. Die letz­ten Buch­sta­ben blei­ben im Mund hän­gen. Sie kle­ben sich an mei­ne Zäh­ne und ich krie­ge sie nicht weg, egal wie oft mei­ne Zun­ge über die Stel­len geht.

 

Nachts bei­ße ich die Zäh­ne fest zusam­men. Der Druck zieht tags­über bis hoch in die Ohren. Wir sit­zen am Tisch, die Gesprä­che dre­hen sich im Kreis, das Ohr pocht. Ein Kloß im Hals ver­fes­tigt sich. Er schwillt an und der Hals wird immer enger, bis sich die Mund­win­kel nach unten zie­hen und die Augen­brau­en zusam­men. Der Druck wan­dert nach oben, den Mund­bo­den ent­lang und seit­lich den Kie­fer hin­auf, bis genau neben das Ohr. Das Kie­fer­ge­lenk ver­steift sich, die Mus­ku­la­tur ver­spannt sich, du presst die Zäh­ne zusam­men und der Kloß fängt an zu pochen. Das Essen vor dei­nen Hän­den, du kannst den Löf­fel nicht in die Hand neh­men. Der Hun­ger bleibt, denn der Kloß ist zu groß. Wie konn­tet ihr mir eine Spra­che nicht geben, die ihr hat­tet?  Das ers­te rus­si­sche Wort, das du mir bei­gebracht hast, ist chleb. Brot. Ich kann dein Essen nicht mehr hin­un­ter­schlu­cken. Wenn ich den Kühl­schrank auf­ma­che, ist er voll. In ihm ste­hen Glä­ser mit ein­ge­mach­ten Toma­ten, mit Essig­gur­ken, Auber­gi­nen, Kraut. Sie ste­hen dort, seit­dem du sie gebracht hast. Manch­mal öff­ne ich sie, aber ich mache sie sel­ten leer. Ich ver­su­che alles zu essen, aber ich kann nicht. Es heißt, wir ver­dau­en Geschich­ten. Es heißt, der Darm ist das zwei­te Gehirn. Es heißt, Spin­nen spin­nen ihre Net­ze aus dem Bauch heraus.

Kris­ti­na Becker, 1992 im Baye­ri­schen Wald als Kind post­so­wje­ti­scher Migrant*innen gebo­ren, stu­dier­te Kom­pa­ra­tis­tik in Augs­burg und Ciné­ma et Audio­vi­suel in Paris. Der­zeit lernt sie Dari, stu­diert Ethik der Text­kul­tu­ren und arbei­tet in einer PR-Agentur.