von Johannes Wiedorfer und Julia Müller
Reinhard Jirgl überrascht mit seinem neu erschienenen Roman Nichts von euch auf Erden (2013 Hanser Verlag) durch seine Wahl des Genre Science Fiction — die Handlung spielt im 25. Jahrhundert. Er kreiert eine erschreckende Zukunftsvision, eine Utopie des Menschengeschlechts, welche sowohl eigene Gedankenkonstruktionen, Ideen aktueller Forschungsprojekte, zahlreiche intertextuelle Bezüge, als auch die ihm eigentümliche Sprachgewalt vereint.
Eine „Imagosphäre“, ein hochkomplexes Gebilde der Halluzinationselektronik aus einem extrem widerstandsfähigen Glasfaserflechtwerk überspannt die Erde einige hundert Meter über der Oberfläche. Sie erzeugt ein oranges Licht, von den Erdmenschen wahrgenommen als immerwährende „orangenrote Abendstimmung“ (Jirgl 2013: S. 16). Der Mensch bestimmt die klimatischen Bedingungen. In Folge einer selbst initiierten genetischen Veränderung herrscht eine gewaltfreie Atmosphäre mit ritualisierten Interaktionsmustern zwischen den Erdmenschen, die von sprachlichen Konventionen bis hin zur Abschwächung des Sexualtriebs reichen. Sie wohnen isoliert in Halbkugeln aus dem gleichen Material wie dem der Imagosphäre und kommunizieren miteinander durch Holovisionen, frei im Raum projizierte 3D-Bilder.
Ein lang gehegter Menschheitstraum, die Überwindung des Todes und der Angst vor diesem, ist Realität geworden. Doch die Kehrseite wird dem Leser in Person der neuen Menschheit vor Augen geführt: Dreidimensionale Geschöpfe, die kaum mehr die Unterscheidung zwischen einem körperlich Anwesenden und seiner virtuellen Vergegenwärtigung zulassen. Der Tod im landläufigen Sinn ist damit nicht mehr von Bedeutung. Die Utopie des nahezu paradiesisch wirkenden „Friedens auf Erden“ wird jedoch schon bald in eine Dystopie gewendet.
Im Kontrast zur Erde konstruiert Jirgl die kriegerischere Mars-Welt mit ihrer Zerstörungswut und zahlreichen moralischen Verwerfungen, die sich bis hin zum Verspeisen von lebendigen Kleinkindern in Restaurants steigert, um „[d]as-Ernährungsproblem, die-Überbevölkerung, die-Armut — alle =auf ‑1-Streich ![zu lösen]“ (Jirgl 2013: S. 432).
Da die Versuche des Erzeugens einer lebensermöglichenden Marsatmosphäre scheitern, bemühen sich die Erdmenschen schließlich um die Realisierung eines neuen Plans, des „Uranus-Projekts“. Der Höhepunkt menschlicher Selbstübersteigerung. Die Marsachse soll durch eine Sprengung so verändert werden, dass sie im selben Winkel wie die Erde zur Sonne steht. Der letzte Schritt zur Urbarmachung des roten Planeten. Die Marsbewohner kehren deshalb vorübergehend zur Erde zurück und stellen dort die alten Machtverhältnisse wieder her. Durch den Einschlag des Marsmondes wird schließlich die Menschheit auf der Erde ausgelöscht. Übrig bleiben die „morphologischen Bücher“, die über das Geschehen nach der Menschheit berichten.
Doch ist diese realistisch wirkende Vision einer erdähnlichen Umgestaltung des Mars‘ im 25. Jahrhundert wirklich neu? Offenbar bedient sich Jirgl im Hinblick auf seine dystopische Idee heutiger Forschungsprojekte, die er konsequent weiterdenkt, wie der schon existierenden „Terraforming“-Programme für die Marsbesiedelung bei der US-Raumfahrtbehörde Nasa. Ähnlich heutiger Machtverhältnisse stehen sich drei Großmächte auf dem Mars gegenüber — die panamerikanische Union, der Zentraleuropäische Block und die asiatische Einheit. Trotz Strebens nach rücksichtsloser Verfolgung ihrer jeweils eigenen Interessen sind diese beim „Terraforming“ darauf angewiesen, zusammenzuarbeiten.
Der Autor folgt in seinem Roman auch seiner bekannten Auffassung vom scheiternden Wesen Mensch. Wie schon der Romantitel vorgibt, bewegt sich die Menschheit bis zum 25. Jahrhundert immer weiter auf ihren Untergang zu, der nicht von dieser Welt ist. Dieser recht pessimistische Ansatz spiegelt Jirgls Standpunkt:
„Die Menschheit ist so, wie sie ist, einmal genug. […] Das hat offenbar mit der Type zu tun, mit dem Bemächtigungstrieb, mit dem Raubbau und dem um jeden Preis sich durchsetzen müssen. […] Diese Unflat der Artenvielfalt ist etwas, was mir doch Sorge macht. […] Wenn das ein Pendant findet im Weltall, das ähnlich beschaffen ist, ich glaube das wär zu viel.“ 1
Als ein solches Menschheitsexemplar entpuppt sich im Verlauf des Romans die Hauptfigur mit dem Namen „BOSXRKBN 18–15‑9–14‑8–1‑18–4“. Denn als zur Herrenrasse der Marsianer gehörend erfüllt dieser „Held“ nach Auswanderung auf den Mars bereitwillig ohne Skrupel und Gewissensbisse die ihm zugedachte Funktion, Ströme von Zwangsarbeitern schnellstmöglich den Arbeits- und Vernichtungslagern zuzuführen. Es gestaltet sich als sehr schwierig bzw. unmöglich, der Hauptperson in ihren martialischen Schilderungen, ihrer abgestumpften Moralität und bloßen Pflichterfüllung ohne größte innere Distanz zu folgen. Reflexions- und Kritikbereitschaft auf Seiten eines Lesenden sind unabdingbar, insbesondere durch deutliche Bezüge zur Ideologie und Volksverhetzung des NS-Regimes.
Erst am Ende des Romans lässt Jirgl den Leser tiefer in das Wesen der Figur hineinblicken, indem sich diese selbst als Mensch, für den Kälte und Verschwinden quasi einer Erfüllung gleichkommen, reflektiert. Konsequent folgt der Protagonist einem Zentralsatz des Buches, welcher den Todestrieb als höchstentwickelte Form der Liebe präsentiert, „[d]enn !Dies ist das-Eigentliche, das dem-Menschen=von-Jeher überhaupt einen Sinn hat geben können.“ (Jirgl 2013: S. 412)
Jirgl erzählt seine Utopie, parallel zur thematischen Orientierung, die an sich schon provoziert und herausfordert, auf Ebene der Sprache in beeindruckender Manier. Rufen amoralische Ideen, wie das „Recht auf den einen [gesetzlich legitimen] Mord“, bereits eine ablehnende Haltung des Lesers zur Handlung und den Personen auf, so verstärken Syntax, Interpunktion und Formatierung des Textes diese Distanzierung in Form von herausfordernder (Un-)Lesbarkeit. „-?Könntich mal nen !Spiegel haben. –Um keinn Preis! — Antwortet das Krähteng sofort & schrabbt den Betonflur entlang seinen Blechkübel, aus dem Schwaden eisernen Stinkens wolken. -?“ (Jirgl 2013: S. 271)
Doch diese Herausforderung fasziniert gleichermaßen wie sie ein Verstehen hemmt. So decken und überschneiden sich passagenweise retrospektives Erzählen und gegenwärtige Handlung. Jirgls Sprache spricht die der Holovisionen, die historische Erinnerungs- und Kommunikationsfunktion für die Figuren seines Romans zugleich darstellt. Unschwer bedient sich diese an Motiven, die bereits in anderen Werken des Autors zentral sind. Schreckensbilder vergangener regimetreuer Überwachung und medizinischer Versuche stehen in unmittelbarer Gleichzeitigkeit zu zukünftigen Deportationen zum Mars oder Erdmond.
Neben diesen Bildern, die Erinnerungen an Holocaust, Stasibespitzelung, ja selbst Besiedelung Australiens hervorrufen, zeigen sich weitere explizite intertextuelle Bezüge: Sein „Recht auf den einen Mord“, das er an der Person seiner eigenen Mutter in Anspruch nimmt, ist motivisch eingegliedert in Ausführungen zum Brutusmord an Caesar und Vergleiche zu Ödipus. Des Weiteren zeigt diese Passage implizite Parallelen zum Bürgerlichen Trauerspiel Emilia Galotti.
Daneben fungiert das alttestamentliche Buch Esra als großes Sinnbild des Romans. Zitate leiten Kapitel ein und kommentieren Jirgls Text, bestimmen abschnittsweise sogar die Formatierung des Romans. Doch Jirgls Roman konstruiert Hoffnungslosigkeit (für die Menschheit), bietet im Gegensatz zum biblischen Text (für das Volk Gottes) keine Aussicht auf erfolgreiche Neuansiedlung, Staatsgründung oder Identitätsstiftung.
Der Leser gerät einerseits in einen Sog aus desillusionierender Sprachgewalt und fatalistischer moralischer Gleichgültigkeit, einen Kosmos der zeitlichen, historischen sowie räumlichen Gleichzeitigkeit. Andererseits lassen sich, gemäß Jirgls Vorstellung einer chaotischen und unvorhersehbaren Geschichte, abseits jeglichen Determinismus’, viele Interpretationsansätze, beispielsweise ob der Text von Menschenhand oder Büchern künstlicher Intelligenz verfasst ist, und Leseanreize innerhalb des Textes finden.
Jirgls Ästhetik macht betroffen, bietet Freiraum für eine ethisch reflexive Mitgestaltung des Lesers und besticht durch selten gesehene lyrische Sprachlichkeit, welche das Genre Science-Fiction auf eine neue Qualitätsebene katapultiert. Unbedingt lesenswert!
Reinhard Jirgl: Nichts von euch auf Erden
Hanser Verlag 2013
510 Seiten
Anmerkungen
- (http://mediathek.daserste.de/sendungen_a‑z/339944_druckfrisch/14918722_reinhard-jirgl-nichts-von-euch-auf-erden, 05:52 – 06:18) ↩