Die Zukunftssicht in Michel Houellebecqs La possibilité d’une île (2005)

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Michel Hou­el­le­becq ist der­zeit der gro­ße Star der fran­zö­si­schen Lite­ra­tur­sze­ne und zieht seit Jah­ren höchs­tes Inter­es­se von Publi­kum und Kri­tik auf sich und sein Werk. Die im Zen­trum sei­nes Schaf­fens ste­hen­den Roma­ne sind dabei vor allem wegen ihrer oft kras­sen Dar­stel­lung der zeit­ge­nös­si­schen Rea­li­tät und der aktu­el­len Situa­ti­on der west­li­chen Gesell­schaft umstrit­ten, aber Hou­el­le­becq beschäf­tigt sich nicht nur aus­gie­big mit unse­rer Gegen­wart, son­dern zeich­net in zwei sei­ner Roma­ne auch ein Bild der Zukunft, die er für die Mensch­heit erwar­tet. Erst­mals skiz­ziert Hou­el­le­becq eine sol­che Zukunfts­welt in sei­nem bekann­tes­ten Roman,
Les par­ti­cu­les élé­men­tai­res (1998), der sei­nen end­gül­ti­gen Durch­bruch bedeu­te­te und ihm inter­na­tio­na­len Ruhm ein­brach­te. In sei­nem jüngs­ten gro­ßen Werk,
La pos­si­bi­li­té d’une île (2005), nimmt er die­ses The­ma erneut auf und behan­delt es weit­aus aus­führ­li­cher, wobei er eine klar anti-uto­pi­sche Zukunft ersinnt und dadurch einer Lite­ra­tur­gat­tung, die in Frank­reich zu ihrer ers­ten kon­kre­ten Aus­prä­gung kam, neue Kraft ein­zu­flö­ßen ver­mag; die­se fik­ti­ve Zukunfts­welt Hou­el­le­becqs samt ihrer Ver­knüp­fung zur Gegen­wart und zur lite­ra­ri­schen Tra­di­ti­on soll in die­sem Bei­trag behan­delt wer­den. In
Les par­ti­cu­les élé­men­tai­res stellt Hou­el­le­becq die Zukunfts­ge­sell­schaft nur knapp in einem Pro­log und einem Epi­log dar, die die eigent­li­che Hand­lung, wel­che in der zwei­ten Hälf­te des 20. Jahr­hun­derts ange­sie­delt ist, umschlie­ßen. In die­ser Rah­men­er­zäh­lung erfährt der Leser, dass eine neue mensch­li­che Spe­zi­es ent­wi­ckelt wur­de, die auf einem ver­än­der­ten gene­ti­schen Code basiert, der sie einer­seits unsterb­lich macht und ande­rer­seits vom sexu­el­len Ver­lan­gen befreit hat. Durch die­se Besei­ti­gung jeder sexu­el­len Begier­de soll die neue Mensch­heit zum Glück geführt wer­den — dies war die Grund­über­le­gung des Wis­sen­schaft­lers Michel Djer­zinski, der Haupt­fi­gur des Romans. Dass die natür­li­che Mensch­heit kei­ner­lei Aus­sich­ten auf ein glück­li­ches Leben hat­te, wird anhand der Lebens­ge­schich­ten von Michel und sei­nem Halb­bru­der Bru­no ver­deut­licht. Die­se bei­den Lebens­läu­fe bil­den die Bin­nen­er­zäh­lung, und bei­de Bio­gra­phien sind vol­ler Scheuß­lich­kei­ten und Ent­täu­schun­gen. Die bei­den Halb­brü­der erlei­den eine schlim­me Erfah­rung nach der ande­ren und sind vor allem nicht in der Lage, eine funk­tio­nie­ren­de Lie­bes­be­zie­hung auf­zu­bau­en. Erst sehr spät fin­den sie Part­ne­rin­nen, die jedoch ähn­lich frus­trie­ren­de Lebens­ver­läu­fe hin­ter sich haben und nach neu­er­li­chen Schick­sals­schlä­gen Selbst­mord bege­hen und Michel und Bru­no wie­der allein zurück­las­sen. Die Erleb­nis­se der bei­den Brü­der zei­gen aber nicht nur zwei geschei­ter­te Lebens­ent­wür­fe, son­dern — und hier­in liegt eine der gro­ßen Stär­ken des Romans — bil­den eine Gene­ral­kri­tik an der west­li­chen Zivi­li­sa­ti­on an der Schwel­le zum 21. Jahr­hun­dert: Hou­el­le­becq offen­bart hier die ?Gesell­schafts­dia­gno­se eines kata­stro­pha­len Nie­der­gangs des Huma­n­um in allen Berei­chen” (Scho­ber 2001, S. 189). Michel nimmt sein ent­täu­schen­des Leben zum Aus­gangs­punkt für sei­ne wis­sen­schaft­li­che Arbeit, die die Mensch­heit end­gül­tig von ihrer unbe­frie­di­gen­den Exis­tenz befrei­en soll, wobei er eine Grund­idee sei­nes Autors ver­tritt, der über­zeugt ist, dass es der Drang nach Indi­vi­dua­li­sie­rung ist, der die Men­schen in ihr Unglück stürzt (vgl. auch Spil­ler 2004, S. 216f.). Michel setzt die­se Erkennt­nis in wis­sen­schaft­li­che Ergeb­nis­se um und kann eine gene­ti­sche For­mel schaf­fen, die die neu­en Men­schen von sexu­el­ler Begier­de und dem Wunsch nach Indi­vi­dua­li­tät befreit. Nach der Ver­öf­fent­li­chung sei­ner Ergeb­nis­se begeht Michel Selbst­mord, da er in sei­nem wei­te­ren Leben kei­nen Sinn mehr sieht. Sei­ne For­schungs­er­geb­nis­se wer­den begeis­tert auf­ge­nom­men und immer wei­ter ent­wi­ckelt, so dass 2029 der ers­te künst­li­che Mensch geschaf­fen wer­den kann. Schnell set­zen sich die neu­en Men­schen durch, und als im Jah­re 2079 der den Roman beschlie­ßen­de Epi­log ver­fasst wird, gibt es fast nur noch künst­lich ent­stan­de­ne Men­schen, wäh­rend die letz­ten Ver­tre­ter der alten Spe­zi­es nahe­zu aus­ge­stor­ben sind. Die Zukunfts­men­schen ken­nen kei­nen Leid, aber auch kei­ne ech­ten Gefüh­le mehr, wes­halb sie an die eben­falls künst­lich erzeug­ten Men­schen von Hux­leys
Bra­ve New World erin­nern, was auch alles ande­re als ein Zufall ist: Hux­leys Anti-Uto­pie ist der ?spe­zi­fi­sche Inter­text” von
Les par­ti­cu­les élé­men­tai­res (Pöp­pel 2006, S. 64). Dies wird von Hou­el­le­becq auch in aller Deut­lich­keit her­aus­ge­stellt, denn nahe­zu exakt in der Text­mit­te steht ein Dia­log von Michel und Bru­no über
Bra­ve New World, der als zen­tra­ler Teil des Romans zu sehen ist. Inter­es­san­ter­wei­se sehen die bei­den Halb­brü­der die von Hux­ley dys­to­pisch erdach­te Welt posi­tiv-uto­pisch und lesen den Eng­län­der damit gegen den Strich. Dies ist durch ihre zutiefst nega­ti­ven Erfah­run­gen in unse­rer Gegen­wart zu erklä­ren, die ihnen eine Welt à la Hux­ley erstre­bens­wert erschei­nen las­sen, wie Bru­no ihn einem fast schon hym­ni­schen Lob für die­se fik­ti­ve Welt ausführt:

La socié­té décri­te par
Bra­ve New World est une socié­té heu­reu­se, dont ont dispa­ru la tra­gé­die et les sen­ti­ments extrê­mes. La liber­té sexu­el­le y est tota­le, plus rien n’y fait obs­ta­cle à l’épanouissement et au plai­sir. […] C’est exac­te­ment le mon­de auquel aujourd’hui nous aspi­rons, le mon­de dans lequel, aujourd’hui, nous sou­hai­ter­ions viv­re. Je sais bien […] qu’on décrit en géné­ral l’univers d’Huxley com­me un cau­che­mar tota­li­taire, qu’on essaie de fai­re pas­ser ce liv­re pour une dénon­cia­ti­on viru­len­te ; c’est une hypo­cri­sie pure et simp­le. Sur tous les points — con­trô­le géné­tique, liber­té sexu­el­le, lut­te cont­re le vieil­lis­se­ment, civi­li­sa­ti­ons des loi­sirs,
Bra­ve New World est pour nous un para­dis. (Hou­el­le­becq 1998, S. 195f.)

Die­se Mei­nung wird von Michel geteilt, des­sen Urteil den eng­li­schen Autor wohl über­rascht hät­te (Hou­el­le­becq 1998, S. 199): ?Aldous Hux­ley était un opti­mis­te.” Letzt­lich nützt Michel auch Hux­leys Über­zeu­gung, dass die Bio­lo­gie die ent­schei­den­de Ver­än­de­rung der Men­schen her­bei­füh­ren wer­de, denn durch sei­nen neu­en gene­ti­schen Code wird eine Mensch­heit mög­lich, die zu der Hux­leys erstaun­li­che Par­al­le­len auf­weist. Die­se posi­ti­ve Wer­tung von
Bra­ve New World gepaart mit den schreck­li­chen Ereig­nis­sen in den Leben von Michel und Bru­no scheint dar­auf hin­zu­deu­ten, dass die von Hou­el­le­becq erson­ne­ne und Hux­leys Ent­wurf ähneln­de Zukunfts­ge­sell­schaft posi­tiv zu sehen ist. Dies wird auch in der ein­schlä­gi­gen Sekun­där­li­te­ra­tur oft so gese­hen: So spricht Roland Spil­ler (2004, S. 220) von der ?tröstende[n] Welt der Uto­pie”, und Hubert Pöp­pel (2006, S. 65) sieht das Ende mit den neu­en Men­schen als ?Ret­tung und Hoff­nung”. Aber trotz die­ser Wer­tun­gen hin­ter­lässt der Schluss von
Les par­ti­cu­les élé­men­tai­res ob der asep­tisch wir­ken­den neu­en Mensch­heit einen unbe­hag­li­chen Ein­druck beim Leser, und so kann man dem Urteil von Rita Scho­ber (2001, S. 207) fol­gen, die fest­stellt, dass man die­se Zukunfts­pas­sa­ge ?ver­schie­den lesen [kann], als Chan­ce für die Mensch­heit, aber auch als War­nung”. Nor­bert Nie­mann (2001, S. 88) spricht von der ?beun­ru­hi­gen­den Ambi­va­lenz des Schlus­ses” und trifft damit aus mei­ner Sicht den Kern, denn letzt­lich ist das Roma­nen­de nicht klar zu deu­ten und gibt den Lesern die Mög­lich­keit zu eige­nen Wer­tun­gen, die ganz unter­schied­lich aus­fal­len kön­nen. Ist die Hal­tung Hou­el­le­becqs zur Zukunft in
Les par­ti­cu­les élé­men­tai­res also noch unent­schie­den, so erfährt sie in sei­nem neu­es­ten Werk eine ein­deu­ti­ge Prä­zi­sie­rung hin zum Nega­ti­ven: In dem sie­ben Jah­re nach sei­nem gro­ßen Best­sel­ler abge­schlos­se­nen jüngs­ten Roman
La pos­si­bi­li­té d’une île kon­kre­ti­siert Hou­el­le­becq die damals nur ihm Rah­men ange­deu­te­te Zukunft — und nun tre­ten deren furcht­erre­gen­den Aspek­te in aller Deut­lich­keit zuta­ge und las­sen kei­ner­lei Inter­pre­ta­ti­ons­spiel­raum mehr. Man kann
La pos­si­bi­li­té d’une île in vie­ler­lei Hin­sicht als Ver­län­ge­rung und Aus­ge­stal­tung der in
Les par­ti­cu­les élé­men­tai­res ange­dach­ten Ideen zur kom­men­den Mensch­heit sehen, was schon dar­an deut­lich wird, dass wie­der­um eine Ver­schrän­kung zwi­schen Gegen­wart und Zukunft statt­fin­det, die Zukunfts­pas­sa­gen nun aber viel brei­te­ren Raum ein­neh­men und die Zukunft zudem auch eine fer­ne­re ist: War der Epi­log von
Les par­ti­cu­les élé­men­tai­res 2079 ange­sie­delt, so dringt
La pos­si­bi­li­té d’une île bis etwa ins Jahr 4000 vor. In die­ser fer­nen Zukunft gibt es wie in
Les par­ti­cu­les élé­men­tai­res zwei klar getrenn­te Mensch­heits­for­men: Natür­li­che Men­schen, die — auch das eine Ana­lo­gie zum ers­ten Zukunfts­ro­man — am Aus­ster­ben sind, sowie eine neue Mensch­heit, deren Mit­glie­der durch das in die­ser Zukunft tech­nisch mög­li­che Klo­nen ent­ste­hen und sich selbst
néo-humains nen­nen. Die­se
néo-humains bli­cken auf unse­re Gegen­wart zurück, wobei das Ver­fah­ren der Ver­schrän­kung von Zukunft und Gegen­wart gegen­über
Les par­ti­cu­les élé­men­tai­res wesent­lich erwei­tert ist. Die Zukunfts­men­schen haben nun nicht mehr nur in Pro­log und Epi­log das Wort, son­dern in jedem zwei­ten Kapi­tel: Der Roman besteht aus dem Lebens­be­richt von Daniel1 sowie zuge­hö­ri­gen Kom­men­ta­ren von sei­nen Klo­nen Daniel24 und Daniel25, wobei sich Bericht und Kom­men­tar fort­wäh­rend abwech­seln. Daniel1 lebt in unse­rer Gegen­wart und wird zu Beginn des 21. Jahr­hun­derts Mit­glied einer Sek­te, der es gelingt, ihren Mit­glie­dern eine Art Unsterb­lich­keit zu ermög­li­chen, indem sie ihre DNS spei­chert und sie nach ihrem Tod durch Klo­ne ersetzt. Die­se Klo­ne ster­ben auch nach einer gewis­sen Zeit, wer­den aber stets naht­los durch einen neu­en Klon ersetzt, so dass das Erb­gut des Aus­gangs­men­schen bis in die Ewig­keit erhal­ten bleibt. Jeder Klon erhält den Namen des Vor­gän­gers sowie eine Num­mer, die anzeigt, um die wie­viel­te Aus­tau­schung des Ori­gi­nal­men­schen es sich han­delt. Die wich­tigs­te Tätig­keit der Klo­ne besteht in der Kom­men­tie­rung der Lebens­be­rich­te ihres natür­li­chen Vor­gän­gers, wodurch die beschrie­be­ne Rom­an­struk­tur und die Ver­klam­me­rung von Gegen­wart und Zukunft erreicht wer­den. Im Lebens­be­richt von Daniel1 fin­det sich die aus
Les par­ti­cu­les élé­men­tai­res und den ande­ren Roma­nen Hou­el­le­becqs bekann­te Kri­tik an der west­li­chen Zivi­li­sa­ti­on, indem der Prot­ago­nist in sei­ner Nie­der­schrift den gra­vie­ren­den Wer­te­ver­fall unse­rer Gesell­schaft ent­hüllt. Dani­el begeht schließ­lich Selbst­mord, womit sei­ne Lebens­ge­schich­te eine wich­ti­ge Par­al­le­le zu der­je­ni­gen von Michel auf­weist. Die Selbst­mor­de der Haupt­fi­gu­ren bei­der Roma­ne unter­strei­chen den nega­ti­ven Befund über die in ihnen beschrie­be­ne Gesell­schaft der west­li­chen Hemi­sphä­re: Für Hou­el­le­becqs Cha­rak­te­re ist die­se Umwelt so bedrü­ckend, dass sie Selbst­mord als ein­zi­gen Aus­weg anse­hen. Der Lebens­be­richt von Daniel1 ist aber nur ein Teil des Romans, wäh­rend der ande­re — und eben­so bedeu­ten­de — von den Kom­men­ta­ren der Klo­ne gebil­det wird, wobei zunächst Daniel24 das Leben sei­nes Vor­läu­fers kom­men­tiert und nach des­sen Tod Daniel25 die­ses Werk fort­setzt. In den Anmer­kun­gen der Klo­ne fin­den sich nicht nur Gedan­ken über unse­re Gegen­wart, son­dern auch vie­le Hin­wei­se zum Leben in der Zukunft — und letz­te­res wird im Lau­fe des Romans immer wich­ti­ger wie auch die Abschnit­te der Klo­ne immer aus­führ­li­cher wer­den: Zunächst sind die Kom­men­ta­re der
néo-humains nur kur­ze Ein­las­sun­gen, am Ende aber tritt der Lebens­be­richt von Daniel1 voll­stän­dig hin­ter den Bericht von Daniel25 zurück. Der Klon beschränkt sich nicht mehr auf Bemer­kun­gen zum Leben sei­nes Vor­gän­gers, son­dern führt ein ech­tes eige­nes Tage­buch: Die abschlie­ßen­den 50 Sei­ten des Romans wer­den ein­zig durch die letz­ten Auf­zeich­nun­gen von Daniel25 gebil­det, der sich auf eine Rei­se gemacht hat, deren Ereig­nis­se er erzählt, wäh­rend von Daniel1 kei­ne Rede mehr ist, womit der Roman gänz­lich in der Zukunft ange­kom­men ist. Der Leser blickt in die­sem neu­es­ten Roman Hou­el­le­becqs in eine schre­cken­er­re­gen­de Zukunfts­welt, in der zunächst eine Ver­wüs­tung der Erde durch Atom­bom­ben und Natur­ka­ta­stro­phen zu kon­sta­tie­ren ist. In die­ser zer­stör­ten Welt leben nur noch weni­ge Men­schen, die sich auf natür­li­che Art fort­pflan­zen, und eine eben­falls klei­ne Anzahl von
néo-humains. Letz­te­re wur­den im Lau­fe der Zeit gene­tisch wei­ter ent­wi­ckelt: Ihre DNS wur­de im Hin­blick auf die Ener­gie­ver­sor­gung ver­än­dert, so dass sie kei­ne Nah­rung mehr benö­ti­gen und allein durch die Ein­nah­me von Was­ser und bestimm­ten Sal­zen über­le­ben kön­nen. Durch die­se Ver­än­de­run­gen bil­den die
néo-humains letzt­lich eine neue Spe­zi­es: Es ist zu einer ?cou­pu­re défi­ni­ti­ve ent­re les néo-humains et leurs ancê­tres” gekom­men (Hou­el­le­becq 2005, S. 365). Im Prin­zip sol­len die
néo-humains eine ver­bes­ser­te und vor allem glück­li­che­re Ver­si­on der Men­schen des 20. Jahr­hun­derts dar­stel­len, aber gera­de in dem ent­schei­den­den zwei­ten Punkt schei­tert die­ses Vor­ha­ben, denn die
néo-humains sind in kei­ner Wei­se glück­li­cher als wir — und dar­auf wird zurück­zu­kom­men sein. Zunächst sei aber die zwei­te Ras­se die­ser Zukunfts­welt vor­ge­stellt, die letz­ten Über­le­ben­den der natür­li­chen Men­schen. Die­se sind durch Krie­ge und kli­ma­ti­sche Ver­än­de­run­gen voll­kom­men dege­ne­riert und auf einen Zustand zurück­ge­wor­fen, der etwa dem der Stein­zeit ent­spricht. Jede Kul­tur und jede Zivi­li­sa­ti­on sind ver­lo­ren gegan­gen, so dass die­se letz­ten Men­schen unter bar­ba­ri­schen Bräu­chen leben und ein­zig dem Recht des Stär­ke­ren gehor­chen. Stän­dig kommt es zu gewalt­tä­ti­gen Aus­ein­an­der­set­zun­gen unter ihnen, ohne dass sich dabei irgend­wer um die Ver­letz­ten und Ster­ben­den kümmert:

Par­fois ils se jet­tent l’un sur l’autre, s’affrontent, se bles­sent par leurs coups. […] Pro­gres­si­ve­ment ils se déta­chent du grou­pe, leur démar­che se ralen­tit, ils tom­bent sur le dos. […] Des insec­tes et des oise­aux se posent sur la sur­face de chair nue, offer­te au ciel, la picotent el la dévor­ent ; les créa­tures souf­frent enco­re un peu, puis s’immobilisent. Les aut­res, à quel­ques pas, con­ti­nuent leurs lut­tes et leurs ména­ges. Ils appro­chent de temps à aut­re pour assis­ter à l’agonie de leurs com­pa­gnons ; leur regard à ces moments n’exprime qu’une curio­si­té vide. (Hou­el­le­becq 2005, S. 54f.)

Unse­re Nach­kom­men sind voll­stän­dig ver­tiert, und den Gip­fel­punkt des zivi­li­sa­to­ri­schen Nie­der­gangs bil­det die Tat­sa­che, dass sie sogar die Spra­che ver­lo­ren haben (Hou­el­le­becq 2005, 338: ?Rien n’indiquait cepen­dant qu’ils aient pu […] accé­der de nou­veau au lan­ga­ge.”). Auf­grund die­ses erbar­mungs­wür­di­gen Zustands wer­den sie von den
néo-humains nur als ?sau­va­ges” bezeich­net — ja, die Klon­men­schen betrach­ten sie schlicht als Tie­re, wie Daniel24 unmiss­ver­ständ­lich klar macht (Hou­el­le­becq 2005, S. 26): ?Je les [les hom­mes] con­sidè­re jus­tem­ent com­me des sin­ges un peu plus intel­li­gents.” Die
néo-humains haben sich gar die Aus­lö­schung der natür­li­chen Men­schen zum Ziel gesetzt (Hou­el­le­becq 2005, S. 438): ?[La peti­te com­mu­ne néo-humaine] n’avait nullement pour objec­tif de prépa­rer une résur­rec­tion future de l’humanité, mais au con­trai­re de favo­ri­ser, dans tou­te la mesu­re du pos­si­ble, son extinc­tion.” Dazu töten sie immer wie­der Men­schen, die ihren Häu­sern zu nahe kom­men, was sie pro­blem­los tun kön­nen, da sie ihnen in jeder Hin­sicht turm­hoch über­le­gen sind. Die
néo-humains ver­fü­gen näm­lich im Gegen­satz zu den dege­ne­rier­ten Res­ten der natür­li­chen Mensch­heit über eine tech­nisch hoch ent­wi­ckel­te Zivi­li­sa­ti­on mit vie­len moder­nen Hilfs­mit­teln, die uns noch gänz­lich unbe­kannt sind. Doch die­se tech­ni­sche Fort­ent­wick­lung kaschiert nur auf den ers­ten Blick eine Exis­tenz, aus der alles ver­schwun­den ist, was das mensch­li­che Leben lebens­wert macht. Beim Lesen der Lebens­be­rich­te ihrer natür­li­chen Vor­läu­fer mer­ken die
néo-humains fort­wäh­rend, dass sie zu vie­len zen­tra­len Eigen­schaf­ten der alten Mensch­heit über­haupt nicht mehr fähig sind (Hou­el­le­becq 2005, S. 77): ?La bon­té, la com­pas­si­on, la fidé­li­té, l’altruisme demeu­rent […] près de nous com­me des mys­tères impé­né­tra­bles.” Unse­re wich­tigs­ten posi­ti­ven Eigen­schaf­ten exis­tie­ren in der Gesell­schaft der
néo-humains nicht mehr, und die­se haben sich so weit von unse­ren Gefüh­len ent­fernt, dass sie nicht ein­mal mehr zu den ele­men­tars­ten Äuße­run­gen des Emp­fin­dens, näm­lich Lachen und Wei­nen, in der Lage sind:

Etant géné­ti­quement issu de Daniel1 j’ai bien enten­du les mêmes traits, le même visa­ge ; la plu­part de nos mimi­ques, même, sont sem­bla­bles (quoi­que les mien­nes, vivant dans un envi­ron­ne­ment non social, soi­ent natu­rel­le­ment plus limi­tées) ; mais cet­te subi­te dis­tor­si­on expres­si­ve, accom­pa­gnée de glousse­ments carac­té­ris­ti­ques, qu’il appel­ait le
rire, il m’est impos­si­ble de l’imiter ; il m’est même impos­si­ble d’en ima­gi­ner le méca­nis­me. Les notes de mes pré­dé­ces­seurs, de Daniel2 à Daniel23, témoig­n­ent en gros la même incom­pré­hen­si­on. Daniel2 et Daniel3 s’affirment enco­re capa­bles de repro­dui­re le phé­nomè­ne, sous l’influence de cer­tai­nes liqueurs ; mais pour Daniel4 déjà, il s’agit d’une réa­li­té inac­ces­si­ble. Plu­s­ieurs travaux ont été pro­duits sur la dis­pa­ri­ti­on du rire chez les néo-humains ; tous s’accordent à recon­naît­re qu’elle fut rapi­de. Une évo­lu­ti­on ana­lo­gue, quoi­que plus len­te, a pu être obser­vée pour les
lar­mes, aut­re trait carac­té­ris­tique de l’espèce humaine. (Hou­el­le­becq 2005, S. 61f. (Kur­si­vie­rung im Original))

Am schwers­ten wiegt aller­dings, dass die­se künst­li­chen Men­schen den Zustand des Glücks nicht ken­nen und so trotz aller tech­ni­schen Fort­schrit­te sogar ihre Hun­de benei­den (Hou­el­le­becq 2005, S. 76): ?Sa natu­re [cel­le du chien] en elle-même inclut la pos­si­bi­li­té du bon­heur. Je ne suis qu’un néo-humain, et ma natu­re n’inclut aucu­ne pos­si­bi­li­té de cet ord­re.” Damit wirkt das Leben der Klo­ne noch deut­lich schlim­mer als die schreck­li­chen Ereig­nis­se im Leben von Daniel1, die ein Spie­gel­bild der Kata­stro­phen sind, die Michel und Bru­no in
Les par­ti­cu­les élé­men­tai­res erle­ben müs­sen. Andre­as Woy­ke (2006) stellt dies tref­fend heraus:

Das von Lie­bes­ver­lan­gen und aggres­si­ver Ego­ma­nie zer­ris­se­ne Leben von Dani­el 1 erscheint uns erbärm­lich, aber es birgt doch ernst­haf­te Glücks­mo­men­te und wache Erkennt­nis­mo­ti­ve, das ein­tö­ni­ge Leben von Dani­el 25 und sein ober­fläch­lich-abge­klär­tes Wesen sind aber noch weit erbärm­li­cher und ent­beh­ren letzt­lich all das, was ein ganz­heit­lich ver­stan­de­nes Mensch­sein ausmacht.

Von wah­rem Leben kann hier kaum noch die Rede sein, es han­delt sich um eine blo­ße Exis­tenz, und die­ser Befund wird noch dadurch ver­stärkt, dass die
néo-humains völ­lig iso­liert von­ein­an­der in her­me­tisch abge­rie­gel­ten fes­tungs­ähn­li­chen Häu­sern woh­nen und nur sel­ten per E‑Mail mit ande­ren
néo-humains kom­mu­ni­zie­ren, wäh­rend sie kör­per­li­chen Kon­takt allein mit ihren — eben­falls geklon­ten — Hun­den ken­nen. Jahr­hun­der­te­lang leb­ten die Klo­ne wider­spruchs­los unter die­sen Bedin­gun­gen, doch all­mäh­lich setzt ein Wan­del ein, der im Roman an Daniel25 dar­ge­stellt wird: Die­ser glaubt, dass es eine Insel geben müs­se, auf der ein erfüll­te­res Leben mög­lich ist, und bricht auf, die­se zu fin­den. Er beschließt, aus sei­nem siche­ren Bereich aus­zu­bre­chen und Neu­es zu wagen, da ihm sei­ne bis­he­ri­ge Exis­tenz zuneh­mend uner­träg­lich gewor­den ist (Hou­el­le­becq 2005, S. 429): ?Cet­te rou­ti­ne soli­taire, uni­quement ent­re­cou­pée d’échanges intellec­tuels, qui avait con­sti­tué ma vie, qui aurait dû la con­sti­tuer jusqu’au bout, m’apparaissait à pré­sent ins­ou­tenable.” Daniel25 ver­lässt gemein­sam mit sei­nem Klon-Hund Fox zum ers­ten Mal in sei­nem Leben sei­ne abge­schirm­te Behau­sung in der Nähe des süd­spa­ni­schen Alme­ría und begibt sich in die freie Natur. Er berich­tet aus­führ­lich von der nun fol­gen­den Rei­se, die das Bild ver­voll­stän­digt, das der Leser von den
néo-humains und den Nach­fol­gern der natür­li­chen Men­schen bis dahin schon gewon­nen hat. Zunächst schei­nen die neue Frei­heit und der Kon­takt mit der Natur Daniel25 gut zu tun, und er erlangt erst­mals wich­ti­ge mensch­li­che Fähig­kei­ten. So ist er als ers­ter
néo-humain seit ewi­gen Zei­ten wie­der zu Trä­nen in der Lage (Hou­el­le­becq 2005, S. 431): ?Vin­rent les lar­mes, aus­si, dont le cont­act salé me parut bien étran­ge.” Außer­dem ver­steht er nun zumin­dest im Ansatz, was Lie­be bedeu­tet — ein Gefühl, das den
néo-humains bis dahin voll­stän­dig unver­ständ­lich geblie­ben war und des­sen Bedeu­tung Daniel25 nun zu ahnen beginnt, wenn auch nur im Bezug auf sei­nen Hund:

Mal­gré ma lec­tu­re atten­ti­ve de la nar­ra­ti­on de Daniel1 je n’avais tou­jours pas tota­le­ment com­pris ce que les hom­mes enten­dai­ent par
l’amour, je n’avais pas sai­si l’intégralité des sens qu’ils don­naient à ce ter­me ; […] A l’issue pour­tant de ces quel­ques semain­es de voya­ge dans les sier­ras de l’intérieur de l’Espagne jamais je ne m’étais sen­ti aus­si près d’aimer. (Hou­el­le­becq 2005, S. 439 (Kur­si­vie­rung im Original))

Durch die­se Ver­än­de­run­gen ist für Daniel25 — wohl zum ers­ten Mal im Leben eines
néo-humain über­haupt — zu einem wah­ren Glücks­ge­fühl fähig (Hou­el­le­becq 2005, S. 439): ?J’étais heu­reux.” Aber die­ses Glücks­ge­fühl bleibt nur eine kur­ze Epi­so­de ohne Fol­gen, die von den wei­te­ren Sta­tio­nen der Rei­se zum unbe­deu­ten­den Zwi­schen­spiel degra­diert wird. Daniel25 rich­tet sich wäh­rend des feuch­ten Herbs­tes in einem ver­las­se­nen Schloss ein und hat da meh­re­re Wochen lang die Gele­gen­heit, die dort leben­den natür­li­chen Men­schen genau zu beob­ach­ten, wobei sich deren Wer­tung als ?sau­va­ges” als voll­kom­men zutref­fend erweist. Unse­re natür­li­chen Nach­fah­ren sind zu kei­ner­lei pro­duk­ti­ven Tätig­kei­ten mehr fähig und leben in einer äußerst bru­ta­len Gemein­schaft zusam­men, in der blut­rüns­ti­ge Exzes­se und selbst Kan­ni­ba­len­tum an der Tages­ord­nung sind. Spä­tes­tens jetzt ist Dani­els Urteil unverrückbar:

Je savais que j’avais affai­re à des êtres néfas­tes, mal­heu­reux et cruels ; ce n’est pas au milieu d’eux que je trou­ve­r­ais l’amour, ou sa pos­si­bi­li­té, ni aucun des idéaux qui avai­ent pu ali­men­ter les rêveries de nos pré­dé­ces­seurs humains ; ils n’étaient que le rési­du cari­ca­tu­ral des pires ten­dan­ces de l’humanité ordi­naire. (Hou­el­le­becq 2005, S. 451)

Das Leben unse­rer Nach­kom­men hat nichts men­schen­wür­di­ges mehr und gestat­tet kei­ner­lei Aus­sicht auf ein erfüll­tes Dasein — aber auch die Exis­tenz der
néo-humains bie­tet kei­ne Alter­na­ti­ve, wie Daniel25 immer kla­rer wird. Der Tod sei­nes Hun­des Fox, der von den ?sau­va­ges” durch Pfei­le getö­tet wird, trennt ihn vom ein­zi­gen Lebe­we­sen, das ihm zumin­dest ein wenig etwas bedeu­tet hat, und wenig spä­ter muss er sich ein­ge­ste­hen, dass auch sein Aus­bruch aus der gewohn­ten Lebens­wei­se — trotz der all­zu kur­zen Pha­se rela­ti­ver Zufrie­den­heit in den ers­ten Tagen der Rei­se — nicht zu einem glück­li­chen Leben geführt hat (Hou­el­le­becq 2005, S. 471): ?J’étais [..] très loin de la joie, et même de la véri­ta­ble paix ; le seul fait d’exister est déjà un mal­heur.” Er beschließt schließ­lich, den Rest sei­nes Lebens in einer voll­kom­men zer­stör­ten und vege­ta­ti­ons­lo­sen Natur an der Küs­te des Oze­ans zu ver­brin­gen, wobei sei­ne letz­te Aus­sa­ge das Dilem­ma der
néo-humains in aller Deut­lich­keit ver­rät (Hou­el­le­becq 2005, S. 474): ?Le bon­heur n’était pas un hori­zon pos­si­ble.” Die genorm­te und asep­ti­sche Exis­tenz der Klo­ne ist genau­so wenig eine wün­schens­wer­te Lebens­form wie die ver­tier­te Gemein­schaft der natür­li­chen Nach­kom­men der Mensch­heit — ein erfüll­tes Leben ist in bei­den Fäl­len unmög­lich und ech­tes Glück aus­ge­schlos­sen. Hou­el­le­becqs Roman endet somit in aus­weg­lo­ser Düs­ter­nis: Der fran­zö­si­sche Autor sieht für die Zukunft der Mensch­heit nur die Wahl zwi­schen Pest und Cho­le­ra, zwi­schen der see­len­lo­sen Gefühl­lo­sig­keit der
néo-humains und der abso­lu­ten Dege­ne­rie­rung der natür­li­chen Men­schen. Die­ser Befund führt uns zum Titel des Romans, der von höchs­ter Bedeu­tung ist:
La pos­si­bi­li­té d’une île bezeich­net näm­lich nur vor­der­grün­dig die Suche von Daniel25 nach einer neu­en Lebens­form, wich­ti­ger aber ist, dass die­ser Titel auf eine kla­re Ver­bin­dung zu Hux­ley hin­weist. Wie oben gezeigt, ist
Bra­ve New World der Inter­text zu
Les par­ti­cu­les élé­men­tai­res — und einen ähn­li­chen Bezug gibt es zwi­schen einem wei­te­ren Roman Hux­leys und
La pos­si­bi­li­té d’une île. Wie Hux­ley im 1946 ver­fass­ten nach­träg­li­chen Vor­wort zu
Bra­ve New World fest­stell­te, sah er es als Schwä­che sei­nes Romans an, dass der Held nur zwi­schen zwei glei­cher­ma­ßen unbe­frie­di­gen­den Alter­na­ti­ven wäh­len konn­te, näm­lich dem men­schen­un­wür­di­gen Leben ohne jede Kul­tur in den Reser­va­ten der Wil­den und dem mora­lisch und see­lisch ver­küm­mer­ten Leben der hoch­tech­ni­sier­ten Welt:

It seems worth while at least to men­ti­on the most serious defect of the sto­ry, which is this. The Sava­ge is offe­red only two alter­na­ti­ves, an ins­a­ne life in Uto­pia, or the life of an pri­mi­ti­ve in an Indi­an vil­la­ge, a life more human in some respects, but in others hard­ly less que­er and abnor­mal. […] To-day I feel no wish to demons­tra­te that sani­ty is impos­si­ble. (Hux­ley 1958, S. viif.)

Rund fünf­zehn Jah­re nach die­sem Vor­wort will Hux­ley mit
Island (1962) den zuletzt erwähn­ten drit­ten Weg dar­stel­len, ein Leben in ?sani­ty”, das dem Prot­ago­nis­ten von
Bra­ve New World noch ver­wehrt blieb. Mit
Island schafft Hux­ley eine posi­ti­ve Uto­pie, die den Pes­si­mis­mus von
Bra­ve New World rela­ti­viert und der Mensch­heit eine glück­li­che Zukunft mög­lich erschei­nen lässt (vgl. auch Guar­da­ma­gna 2000, S. 318), auch wenn das beschrie­be­ne Para­dies in der Gegen­wart ange­sie­delt ist. Genau die­se opti­mis­ti­sche Lösung ist aber für Michel Hou­el­le­becq kei­ne Opti­on für die Mensch­heit, und man geht wohl nicht zu weit, wenn man den Titel sei­nes Romans, der Hux­leys Titel auf­greift, auch auf die posi­ti­ve Uto­pie des Eng­län­ders bezieht: Hou­el­le­becq ver­neint die ?pos­si­bi­li­té” von
Island ent­schie­den — in sei­ner Zukunft gibt es nur die bei­den Optio­nen, die Hux­ley in
Bra­ve New World dar­ge­stellt hat­te und zwar in einer gegen­über dem Ori­gi­nal noch wei­ter ver­schärf­ten Form: Der Mensch kann für sei­ne Zukunft nur zwi­schen einem Leben auf zivi­li­sa­to­risch nied­rigs­tem Niveau oder einer mate­ri­ell erfüll­ten, aber see­lisch ver­arm­ten robo­ter­ähn­li­chen Exis­tenz ohne all das, was mensch­li­ches Leben aus­macht, wäh­len. Eine drit­te Opti­on besteht laut Hou­el­le­becq nicht, denn es gibt sie eben nicht die ?pos­si­bi­li­té d’une île”. Es bestehen also enge Ver­bin­dun­gen zwi­schen Hou­el­le­becqs bei­den Zukunfts­ro­ma­nen und Hux­leys (anti-)utopischen Schrif­ten: Hux­leys Werk ist ein ent­schei­den­der Bezugs­punkt für das lite­ra­ri­sche Schaf­fen von Michel Hou­el­le­becq, der sich in
Les par­ti­cu­les élé­men­tai­res mit
Bra­ve New World und in
La pos­si­bi­li­té d’une île mit
Island aus­ein­an­der­setzt. Ganz bewusst beschäf­tigt sich Hou­el­le­becq mit dem wich­tigs­ten Autor, der im 20. Jahr­hun­dert sowohl eine Uto­pie wie auch eine Anti-Uto­pie geschrie­ben hat, — und er deu­tet dabei zunächst die Anti-Uto­pie posi­tiv um (in
Les par­ti­cu­les élé­men­tai­res) und ver­wirft spä­ter die Uto­pie (in
La pos­si­bi­li­té d’une île). In bei­den Fäl­len bezieht Hou­el­le­becq also klar Stel­lung für eine pes­si­mis­ti­sche Lösung, und den Hoff­nungs­schim­mer, den Hux­ley sei­nen Lesern mit
Island gewährt, weist er ent­schie­den zurück. Hux­leys Kos­mos wird von Hou­el­le­becq ein­zig in die nega­ti­ve Rich­tung gedeu­tet, womit die­ser kei­nen Zwei­fel dar­an lässt, dass er eine schreck­li­che Zukunft für die Mensch­heit erwar­tet. So stellt sich der wich­tigs­te fran­zö­si­sche zeit­ge­nös­si­sche Autor in die Tra­di­ti­on der Anti-Uto­pie, einer Gat­tung, die ihren Ursprung in Frank­reich hat­te und nun mit
La pos­si­bi­li­té d’une île mit Macht in ihr Geburts­land zurück­kehrt. Bis heu­te wird die Anti-Uto­pie noch immer zu sel­ten als eigen­stän­di­ge Gat­tung wahr­ge­nom­men und zu oft nur in ihrem Ver­hält­nis zur posi­ti­ven Schwes­ter­gat­tung beschrie­ben, so dass eine umfas­sen­de Gat­tungs­ge­schich­te bis heu­te ein Desi­de­rat der For­schung ist. Eben­so fehlt bis­lang eine in jeder Hin­sicht über­zeu­gen­de Begriffs­be­stim­mung der Anti-Uto­pie, die man in Anleh­nung an die aus­ge­spro­chen gelun­ge­ne Defi­ni­ti­on der posi­ti­ven Uto­pie durch Trous­son (1999, S. 24) als die mit­tels einer lite­ra­ri­schen Erzäh­lung erfol­gen­de Beschrei­bung einer Gesell­schaft bezeich­nen könn­te, die die Kom­ple­xi­tät der sozia­len Wirk­lich­keit abbil­det und sich dabei als in der Zukunft situ­ier­te Höl­len­welt erweist, wel­che vor unre­flek­tier­ten Fort­schritts­hoff­nun­gen sowie vor bestimm­ten, aus Sicht des Autors bedroh­li­chen, Ten­den­zen der zeit­ge­nös­si­schen Gegen­wart war­nen und den Leser so zum Han­deln auf­for­dern will. Ein ent­schei­den­des Kri­te­ri­um für die Anti-Uto­pie ist die zeit­li­che Situ­ie­rung der fik­ti­ven Situ­ie­rung, da nur so der dem Gen­re inhä­ren­te Auf­for­de­rungs­cha­rak­ter mög­lich ist. Ört­lich ver­leg­te Schre­ckens­ge­sell­schaf­ten, die bis zum Ende des 18. Jahr­hun­derts gele­gent­lich auf­tau­chen, sind daher ledig­lich als Vor­läu­ferfor­men der Anti-Uto­pie zu wer­ten. Als Höhe­punkt die­ser anti-uto­pi­schen Vor­for­men muss man wohl Swifts
Gulliver’s Tra­vels bezeich­nen, wobei die auf der vier­ten und letz­ten Rei­se Gul­li­vers beschrie­be­nen Yahoos bemer­kens­wer­te Par­al­le­len zu den natür­li­chen Nach­kom­men von uns Men­schen in
La pos­si­bi­li­té d’une île auf­wei­sen: In bei­den Fäl­len wird eine stein­zeit­ähn­li­che, allein auf dem Recht des Stär­ke­ren basie­ren­de Gemein­schaft ver­tier­ter Wesen prä­sen­tiert, die nur noch ent­fernt an Men­schen erin­nern und von einer über­le­ge­nen Ras­se (bei Swift den wei­sen Pfer­den, bei Hou­el­le­becq den
néo-humains) als wil­de Tie­re ange­se­hen wer­den, die es aus­zu­lö­schen gilt. Die ech­te Anti-Uto­pie wird in der Mit­te des 19. Jahr­hun­derts erreicht, als Emi­le Sou­vest­re mit
Le mon­de tel qu’il sera (1845/46) erst­mals eine nega­ti­ve Gesell­schaft in die Zukunft pro­ji­ziert, die damit dro­hend auf uns zukommt, wodurch der Auf­for­de­rungs­cha­rak­ter in der Anti-Uto­pie ver­an­kert wird, die sich damit als eigen­stän­di­ges Gen­re eta­bliert (vgl. Trous­son 2000, S. 182f.). Doch nicht nur die ers­te Aus­prä­gung der Anti-Uto­pie, son­dern auch zen­tra­le Wei­ter­ent­wick­lun­gen der Gat­tung wur­den im Anschluss an Sou­vest­re in Frank­reich geleis­tet, was von der For­schung bis­her zu wenig beach­tet wur­de. Von beson­de­rer Bedeu­tung ist dabei Jules Ver­nes Früh­werk
Paris au XXe siè­cle, das zu Anfang der 1860er Jah­re geschrie­ben wur­de, nach der Ableh­nung durch sei­nen Ver­le­ger Het­zel aber zu Ver­nes Leb­zei­ten nie erschien und erst 1994 publi­ziert wur­de. In die­sem — lite­ra­risch lei­der wenig über­zeu­gen­den — Werk wird bereits die uns wohl bekann­te For­mel der gro­ßen Anti-Uto­pien des 20. Jahr­hun­derts ver­wen­det mit einem direk­ten Ein­stieg in der Zukunfts­welt ohne Rah­men und einem am Ende schei­tern­den Außen­sei­ter als Hel­den, wäh­rend Sou­vest­re for­mal noch der klas­si­schen posi­ti­ven Uto­pie mit Rah­men­hand­lung und einem (Zeit-)Reisenden als Prot­ago­nist gefolgt war. Mit Sou­vest­re und Ver­ne erreicht die Anti-Uto­pie einen ers­ten und heu­te weit­ge­hend ver­ges­se­nen Höhe­punkt im Frank­reich des 19. Jahr­hun­derts, bei dem die wesent­li­chen for­ma­len wie auch inhalt­li­chen Ele­men­te der berühm­ten Tex­te des 20. Jahr­hun­derts bereits vor­weg­ge­nom­men wer­den. Aller­dings über­neh­men ab den 1920er Jah­ren ande­re Natio­nal­li­te­ra­tu­ren die füh­ren­de Rol­le in die­sem Bereich, und nach­dem Jew­ge­nij Sam­ja­tin mit
Wir kurz nach dem Ers­ten Welt­krieg end­gül­tig das Para­dig­ma der moder­nen Anti-Uto­pie geschaf­fen hat, sind es ins­be­son­de­re angel­säch­si­sche Autoren, die das Gen­re kul­ti­vie­ren, wobei neben dem bereits mehr­fach erwähn­ten Hux­ley ins­be­son­de­re an Geor­ge Orwell zu den­ken ist, des­sen Roman
1984 bis heu­te das land­läu­fi­ge Bild der lite­ra­ri­schen Anti-Uto­pie prägt. Auf die bei­den Eng­län­der fol­gen ame­ri­ka­ni­sche Autoren wie Kurt Von­ne­gut (
Play­er Pia­no) oder Ray Brad­bu­ry (
Fah­ren­heit 451), wäh­rend in Frank­reich nach den Welt­krie­gen ein­zig die Wer­ke von Pierre Boul­le (
La planè­te des sin­ges,
Les jeux de l’esprit) noch bedeu­ten­de­re Ver­su­che in die­ser Gat­tung dar­stel­len. Aller­dings war zuletzt nicht nur in Frank­reich eine Schwä­che des anti-uto­pi­schen Gen­res zu beob­ach­ten, son­dern die Gat­tung ins­ge­samt schien sich tot­zu­lau­fen, als sich nach den gro­ßen Anti-Uto­pien der ers­ten Hälf­te des 20. Jahr­hun­derts die immer glei­chen Inhal­te und Struk­tu­ren zu wie­der­ho­len schie­nen, ohne dass neue Ideen und For­men ein­ge­bracht wurden:

This inven­ti­on was limi­t­ed. Posi­ti­ve uto­pia had wal­ked along the same streets and repea­ted the dreams of hap­pi­ness con­s­truc­ted with iden­ti­cal models. Dys­to­pia found the same dif­fi­cul­ties of brin­ging its­elf up to date after Zamya­tin, Hux­ley and Orwell had defi­ned its para­digms. Fif­ty years later, wri­ters descri­bed the same obses­si­ons and ter­rors of a threa­tening future. (Trous­son 2000, S. 184)

Nun ist aber Michel Hou­el­le­becq mit
La pos­si­bi­li­té d’une île erst­mals wie­der eine bedeu­ten­de Anti-Uto­pie gelun­gen, die der Gat­tung neue Impul­se ver­mit­teln kann und sie zudem nach lan­ger Abwe­sen­heit wie­der in die fran­zö­si­sche Lite­ra­tur zurück­keh­ren lässt. Dabei stellt Hou­el­le­becq eine Grund­über­zeu­gung ins Zen­trum sei­ner Über­le­gun­gen, die schon die frü­hes­ten fran­zö­si­schen Bei­spie­le der Anti-Uto­pie geprägt hat­te: Die Dis­kre­panz zwi­schen tech­ni­schem Fort­schritt und mora­li­scher Deka­denz. Sou­vest­re und Ver­ne beob­ach­te­ten den enor­men wis­sen­schaft­li­chen Fort­schritt des 19. Jahr­hun­derts mit Sor­ge, weil sie ihn von ethi­scher Dege­ne­rie­rung beglei­tet sahen. Die­se Fehl­ent­wick­lung einer Gesell­schaft, die sich auf wis­sen­schaft­lich-tech­ni­schem Gebiet fort­wäh­rend wei­ter­ent­wi­ckel­te, im Bereich der Moral aber Rück­schrit­te ver­zeich­ne­te, über­zeich­ne­ten die fran­zö­si­schen Anti-Uto­pis­ten des 19. Jahr­hun­derts in ihren Wer­ken und stell­ten so unmensch­li­che Zukunfts­wel­ten dar, um vor den ihnen bedroh­lich erschei­nen­den Ten­den­zen ihrer Gegen­wart zu war­nen. Michel Hou­el­le­becq geht den­sel­ben Weg, da er in
La pos­si­bi­li­té d’une île einer­seits den tech­ni­schen Fort­schritt unse­rer Zeit klar her­aus­stellt (vor allem indem er die Mög­lich­keit des Klo­nens in sei­nem Roman erfolg­reich auf den Men­schen über­trägt) und gleich­zei­tig den aus sei­ner Sicht frap­pie­ren­den Nie­der­gang der Sit­ten plas­tisch dar­stellt, was im Lebens­be­richt von Daniel1 sei­nen Nie­der­schlag fin­det. Durch die enge Ver­schrän­kung von Beschrei­bung unse­rer Gegen­wart im Lebens­be­richt des ers­ten Dani­el und Beschrei­bung der dro­hen­den Zukunft in den Ein­las­sun­gen sei­ner Klo­ne, gelingt es Hou­el­le­becq zudem aus­ge­zeich­net zu ver­deut­li­chen, wel­che Fehl­ent­wick­lun­gen in der Gegen­wart ein sol­ches Hor­ror­sze­na­rio für die Zukunft erwar­ten las­sen. Sei­ne Ver­knüp­fung vom Jetzt mit dem Spä­ter zeigt sich als beson­ders wir­kungs­voll, um beun­ru­hi­gen­de Ten­den­zen und ihre dro­hen­den Kon­se­quen­zen dar­zu­stel­len, wodurch sich die von ihm gewähl­te lite­ra­ri­sche Form für die Gat­tung der Anti-Uto­pie als aus­ge­spro­chen frucht­bar erweist. Mög­li­cher­wei­se kann
La pos­si­bi­li­té d’une île des­halb als Vor­bild einer neu­en Wel­le anti-uto­pi­scher Tex­te die­nen, was bei der Bekannt­heit sei­nes Autors wie vor allem der aktu­el­len eher nega­tiv gepräg­ten Zukunfts­sicht unse­rer Gesell­schaft nicht über­ra­schen wür­de. Doch trotz die­ser weit ver­brei­te­ten Zukunfts­sor­ge bleibt die Hoff­nung, dass unse­ren Nach­kom­men eine wei­te­re Mög­lich­keit zu den zwei von Hou­el­le­becq evo­zier­ten offen steht und sie dem Wun­sche Hux­leys gemäß ein Leben in ?sani­ty” füh­ren kön­nen — kurz, dass die ?Mög­lich­keit einer Insel” doch nicht ver­neint wer­den muss.

Bibliographie

Pri­mär­wer­ke

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    bei sicetnon.org).