„Ein Aufruf, mutig an den Tod heran zu leben“

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Ein Gespräch mit dem Schriftsteller Michael Kumpfmüller

von Agnes Bidmon

Franz Kaf­ka als Mythos aus­zu­stel­len und so gleich­zei­tig an die­sem Mythos zu arbei­ten, indem gegen die vor­herr­schen­de Les­art ange­schrie­ben wird, ist das Anlie­gen von Micha­el Kumpf­mül­lers Roman. Und so nähert sich der Leser der his­to­ri­schen Per­son wie der lite­ra­ri­schen Figur auf eine ganz neue Art und Wei­se und kommt in Berüh­rung mit einer bis­lang oft ver­bor­ge­nen lebens­be­ja­hen­den und glück­li­chen Sei­te Kaf­kas. Auf die­se Wei­se wird nicht nur ein ganz neu­er Blick ermög­licht, son­dern auch eine wun­der­ba­re Geschich­te erzählt – ein anrüh­ren­des Buch über Die Herr­lich­keit des Lebens (Kie­pen­heu­er & Witsch, Köln 2011).

 

SCHAU INS BLAU: Betrach­tet man die Form Ihres Romans, ist auf­fäl­lig, dass der Text von einer augen­schein­li­chen Sym­me­trie geprägt ist. Das Buch glie­dert sich in die drei Tei­le „Kom­men“, „Blei­ben“ und „Gehen“, die sich wie­der­um in jeweils 12 Kapi­tel auf­schlüs­seln. Kann man die­ses Vor­ge­hen als eine bewusst gewähl­te Stra­te­gie ver­ste­hen, um jeder Pha­se die­ser Lie­bes­ge­schich­te das glei­che Recht zu geben und die glei­che Wer­tig­keit zu verleihen?

MICHAEL KUMPFMÜLLER: Die Arbeit an der Form ist mir sehr wich­tig, wobei das stets eine Mischung aus Set­zung und Befra­gung des Stof­fes ist. Ich habe erst ein­mal geschaut, wie lan­ge die bei­den zusam­men waren. Da fand ich dann her­aus, dass es ziem­lich genau 48 Wochen sind. Und bei 48 Wochen fiel mir natür­lich gleich eine 12er-Auf­tei­lung ein, auf­ge­glie­dert in vier Jah­res­zei­ten. Daher hat­te das Buch ursprüng­lich – von mir gesetzt, aber eben auch vor­ge­fun­den im Mate­ri­al – vier Tei­le, und in der Tat ist mir die Gleich­för­mig­keit, das gleich­mä­ßi­ge Ver­ge­hen der Zeit sehr wich­tig gewe­sen bei die­sem Buch. Das ist sozu­sa­gen ein Grund­prin­zip, obwohl das Buch inso­fern davon abweicht, als der mitt­le­re Teil eigent­lich 2 x 12 Kapi­tel umfasst. Da fin­det dann vom Erzähl­tem­po her eine Beschleu­ni­gung statt, was aber für die Ber­li­ner Zeit sehr stim­mig ist und passt. Dazu kommt, dass es für jeden Tag einen Abschnitt gibt. Die­se ein­zel­nen Abschnit­te sind ver­schie­den dicht und lang, so wie wir ja auch ver­schie­den lan­ge Tage haben, wenn wir uns erin­nern. Am Ende beharrt der Text aber dar­auf, dass jeder Tag das glei­che Recht und die glei­che Gül­tig­keit und Bedeu­tung hat.

SCHAU INS BLAU: Wie Sie bereits gesagt haben, beschleu­nigt der Ber­lin-Teil dann das Erzähl­tem­po. Es ist ja eine span­nen­de und auch span­nungs­vol­le Zeit in Ber­lin, es ist die Zeit der Infla­ti­on und des Ver­falls, der ja auch in Ana­lo­gie zum Ver­fall der Figur Franz Kaf­ka gele­sen wer­den kann. Wur­de die­se Par­al­le­le bewusst gesetzt oder hat sie sich auf­grund der his­to­ri­schen Kon­stel­la­ti­on ergeben?

MICHAEL KUMPFMÜLLER: Wahr­schein­lich auch in die­sem Fall bei­des, wobei die Ber­li­ner Zeit ja nicht nur eine Ver­falls­ge­schich­te ist, son­dern auch eine Zeit der Inten­si­vie­rung und der Beschleu­ni­gung. Die Infla­ti­on ist ein sich beschleu­ni­gen­der Vor­gang, gegen den der Text die Ruhe des Lebens setzt, die die­ser Geschwin­dig­keit sozu­sa­gen abge­trotzt wird. Und es ist schön, wenn die­ser gleich­mä­ßi­ge Takt, also die Form und die Ord­nung, die in die­ser Form lie­gen kann – nicht muss –, sich am Ende irgend­wie durch­drückt oder strahlt und mit dem Text etwas macht, bevor er über­haupt zu spre­chen beginnt.

SCHAU INS BLAU: Da Sie gera­de selbst auf die Spra­che anspie­len. Die Spra­che des Tex­tes strahlt eben­falls Ruhe aus und hat einen ganz eige­nen Sprach­ges­tus. Zum Teil sind ja auch his­to­ri­sche Mate­ria­li­en wie Brie­fe und Tage­buch­ein­trä­ge ein­ge­ar­bei­tet, aller­dings mit einem weni­ger mon­ta­ge­haf­ten Cha­rak­ter, um inner­halb des Tex­tes bewusst ver­meint­li­che Brü­che zu erzeu­gen, indem die Fremd­heit des ein­ge­ar­bei­te­ten Mate­ri­als mar­kiert wird, als auf eine inte­grie­ren­de Art, die die Unun­ter­scheid­bar­keit von his­to­ri­schem Mate­ri­al und fik­tio­na­lem Erzäh­len unterstreicht.

MICHAEL KUMPFMÜLLER: Das ist rich­tig. Ich den­ke das eigent­lich immer musi­ka­lisch. Ich habe ein­fach ver­schie­de­ne Mate­ria­li­en vor­ge­fun­den und in mir her­auf­be­schwo­ren. Wich­tig war in dem Zusam­men­hang mein Lek­tü­re­pro­zess von Kaf­kas Schrif­ten. Ich habe wirk­lich alles, was ich von Kaf­ka in sehr jun­gen Jah­ren gele­sen habe, noch ein­mal von vor­ne bis hin­ten gele­sen mit der Anwei­sung für mich, dass ich alles sofort ‚ver­ges­se’. Ich woll­te nach­her kein Ober­se­mi­nar hal­ten kön­nen, son­dern ich habe ver­sucht, die Rhyth­men auf­zu­neh­men, die Bil­der und Meta­phern, ohne sie mir auf­zu­schrei­ben; sie durch mich hin­durch­ge­hen und sich irgend­wie abla­gern zu las­sen, was ja beim Lesen immer pas­siert. Wir erin­nern uns ja völ­lig chao­tisch an Tex­te und kön­nen das auch nicht steu­ern, da die­ser Pro­zess sehr viel mit unse­ren Befind­lich­kei­ten, Vor-Erfah­run­gen, Träu­men und Wün­schen zu tun hat. Die­sen unbe­wuss­ten Vor­gang habe ich ver­sucht zu ritua­li­sie­ren und dar­auf zu set­zen, dass das dann an der rich­ti-gen Stel­le wie­der­kommt. Viel­leicht ist das auch mit der Spra­che so. Ich mache kei­nen Unter­schied zwi­schen Fakt und Fik­ti­on und weiß auch inzwi­schen im Ein­zel­nen gar nicht mehr, was von mir ist oder aus Brie­fen. Ich habe mir im Vor­feld nur die Anwei­sung gege­ben – was für mich ganz und gar neu ist –, im Prä­sens zu schrei­ben, um die Schwe­re des Stof­fes zu kon­ter­ka­rie­ren. Ansons­ten galt eigent­lich nur das Prin­zip, dass es ein­fach sein soll, dass es rhyth­misch sein soll und dass das Mate­ri­al aus den Brie­fen sich dann ein­fügt, wobei das kom­pli-zier­ter klingt als es gewe­sen ist. Es war – so erin­ne­re ich mich jeden­falls dar­an – ein sehr har­mo­ni­scher und unkom­pli­zier­ter Schreib­pro­zess. Ich muss­te nicht lan­ge rin­gen, son­dern ich habe im Gegen­teil die sehr ange­neh­me Erfah­rung gemacht, dass ich auf ein­mal war­ten kann, dass ich auf den Text gewar­tet habe, auf die Sät­ze, und das war sehr schön.

SCHAU INS BLAU: Einer der fas­zi­nie­ren­den Aspek­te die­ses Tex­tes ist, dass die­se eben ver­meint­lich ganz ein­fa­che und redu­zier­te Spra­che ver­mag, Wor­te für das unbe­nenn­ba­re Phä­no­men einer ‚rei­nen Lie­be’ zu fin­den. Denn auf die­se Art stellt sich die Lie­be zwi­schen den bei­den Figu­ren Franz und Dora dem Leser dar und scheint die Bezie­hung der bei­den sehr stark widerzuspiegeln.

MICHAEL KUMPFMÜLLER: Ja, die­ses Unbe­ding­te hat mich an dem Stoff, soweit er über­lie­fert ist, sofort fas­zi­niert. Wie jeder Text hat auch die­ser eine Dop­pel­stra­te­gie, den­ke ich. Er benennt die Din­ge an bestimm­ten Stel­len, an ande­ren lässt er aber Leer­stel­len, wo sich der Text dann im Kopf des Lesers bil­det. Das ist eine mei­ner Grund­über­zeu­gun­gen, dass man da eigent­lich ganz ver­trau­ens­voll ope­rie­ren kann. Man muss die Geschich­te nicht in ihrer gan­zen Fül­le aus­brei­ten, denn sie erzählt sich immer auch von selbst, weil es kei­nen unschul­di­gen Leser gibt. Es gibt ja immer nur den Leser, der schon gele­sen hat. Und da war ich komi­scher­wei­se so sicher wie noch nie – gera­de­zu traum­wand­le­risch sicher – und habe nicht dar­über nach­ge­dacht, ob und inwie­fern das so gehen könn­te. Ich muss­te aber auch den Mut haben, zu benen­nen. Ein Text darf nicht nur ‚rau­nen’, das heißt, ich muss­te die Orte der Lie­be schon bezeich­nen, wobei das weni­ger die Sät­ze sind als die Ges­ten, wie Figu­ren wohin gehen und wo sie im Raum ste­hen und wie sie sich bewe­gen. Das hat mich schon immer fasziniert.

SCHAU INS BLAU: Es gibt ja auch eini­ge Stel­len im Text, wo dies ganz expli­zit the­ma­ti­siert wird, wo die Wor­te ver­schwin­den und nur die Kör­per­lich­keit bleibt, wo die Kör­per­lich­keit die Spra­che also letzt­lich über­dau­ert und überbietet.

MICHAEL KUMPFMÜLLER: Genau, manch­mal hin­ter­las­sen Kör­per die genaue­re Spur, wobei Kör­per­lich­keit – wie bei Dora – manch­mal unzu­ver­läs­sig ist. Die letz­te und genau­es­te Spur sind dann letzt­lich Rhyth­men, Abdrü­cke, also eigent­lich wie­der­um etwas Musi­ka­li­sches. Das Genaue ent­steht am Ende sozu­sa­gen in der Unge­nau­ig­keit. Des­halb hat sich die wirk­li­che Figur Dora Dia­mant ja auch schwer getan, sich die Geschich­te am Ende ihres Lebens noch ein­mal zu erzählen.

SCHAU INS BLAU: Wenn wir noch kurz bei den his­to­ri­schen Foli­en blei­ben. Wie kann man sich als Autor einer so viel bespro­che­nen Figur wie Franz Kaf­ka, die ja sowohl durch ihre Tex­te nach­wirkt und wei­ter­lebt als auch durch den wis­sen­schaft­li­chen und lite­ra­ri­schen Dis­kurs, mit dem Gefühl nähern, sowohl der his­to­ri­schen Per­son als auch der lite­ra­ri­schen Figur gerecht wer­den zu können?

MICHAEL KUMPFMÜLLER: Das ist natür­lich eine ganz zen­tra­le Fra­ge, denn die­se schie­re Unmög­lich­keit ist es, die mich im Ursprung am meis­ten inter­es­siert hat. Wie soll das gehen? Wenn man aber anfängt zu über­le­gen, wer Franz Kaf­ka eigent­lich ist, dann ist unab­weis­bar sofort klar, dass er eine mythi­sche Gestalt ist. Ein Mythos der moder­nen Lite­ra­tur, der Ein­sam­keit, des Unglücks, des moder­nen Men­schen, des neu­ro­ti­schen Jung­ge­sel­len. Bei der Lek­tü­re der zeit­ge­nös­si­schen Brie­fe wie auch sei­nes Werks habe ich mich dar­auf ein­ge­las­sen, ihm erst mal zuzu­hö­ren. Und wirk­lich hat Kaf­ka die­sen sei­nen Unglücks­my­thos ja immer wie­der selbst her­auf­be­schwo­ren, in den Tagen des Jam­mers und der Dun­kel­heit, aber man muss sehen, dass das auch eine Insze­nie­rung gewe­sen ist, eine Schreib­stra­te­gie. Mei­ne Set­zung war, dass hin­ter die­sen Unglücks­be­schwö­run­gen wie bei jedem Men­schen eine ele­men­ta­re Sehn­sucht nach dem geglück­ten Leben herrscht. Die­se Spu­ren habe ich gesam­melt, denn man kann sie in den Brie­fen und Tage­bü­chern fin­den. Und in die­sem Sin­ne wen­det sich das Buch in durch­aus pole­mi­scher Absicht gegen den bestehen­den Mythos. Denn die­ser Mythos hat ja etwas unglaub­lich Obs­zö­nes, weil er eine Fest­schrei­bung, eine Ent­eig­nung des geleb­ten Lebens ist. Rich­tig ist, dass die Sehn­sucht bei Kaf­ka immer grö­ßer wird: auf der Bezie­hungs­ebe­ne nach dem täti­gen Leben mit einer Frau, viel­leicht mit Fami­lie und dann im wei­te­ren Raum auch mit einem Juden­tum, das für ihn irgend­wie Sinn macht. Die­ser Such­be­we­gung habe ich gewis­ser­ma­ßen eine Stim­me gege­ben, im Duett mit Dora, die mit ihren 25 Jah­ren eine Ent­wur­zel­te ist und in einer ent­wur­zel­ten gesell­schaft­li­chen Situa­ti­on Anfang der 20er Jah­re in Ber­lin dann mit ihm etwas kann, was viel­leicht 1913 nicht mög­lich gewe­sen wäre.

SCHAU INS BLAU: Also könn­te man Ihren Roman im Sin­ne Blu­men­bergs auch als eine Arbeit am Mythos begreifen.

MICHAEL KUMPFMÜLLER: Ja, unbe­dingt. Das darf man aller­dings nicht dahin­ge­hend miss­ver­ste­hen, dass es um die Auf­he­bung des Mythos geht, aber es geht doch um eine Kor­rek­tur oder eine Kri­tik des Mythos. Es geht dar­um, zu sehen, dass wir uns – mit Max Frisch gespro­chen – auch von den Toten unab­läs­sig Bil­der machen und die­se Bil­der auch Gefäng­nis­se sind. In der Lite­ra­tur­ge­schichts­schrei­bung gibt es immer wie­der Revi­sio­nen von Bil­dern, das ist nichts Unge­wöhn­li­ches, und so ist es viel­leicht auch nicht unge­wöhn­lich, dass ich als Ger­ma­nist auf so eine Idee gekom­men bin.

SCHAU INS BLAU: Wel­che Rol­le spielt in die­sem Kon­text die Oszil­la­ti­on zwi­schen Fakt und Fik­ti­on für den Text? Kaf­ka wird ja als ein Mensch dar­ge­stellt, als der er sel­ten dar­ge­stellt wird, indem er dem Leser als ein bedin­gungs­los Lie­ben­der begeg­net. Wie ist die­ses Wech­sel­spiel zu denken?

MICHAEL KUMPFMÜLLER: Ich mag die­sen Gegen­satz ja gar nicht. Die Wahr­heit ist doch, dass wir unab­läs­sig dabei sind, sowohl von Leben­den als auch von Toten die Exis­tenz zu in-ter­pre­tie­ren, in einem sozu­sa­gen unend­li­chen her­me­neu­ti­schen Zir­kel. Des­halb beginnt mein Text nicht an der Stel­le, wo er gewis­ser­ma­ßen abhebt und das Fak­ti­sche ver­lässt, son­dern er inter­pre­tiert das vor­han­de­ne Mate­ri­al in einer bestimm­ten Wei­se. Mit der Epi­so­de Dora hat­te die For­schung immer gro­ße Pro­ble­me, weil sie näm­lich mit der The­se des ewig Unglück­li­chen, Bezie­hungs­un­fä­hi­gen etc. nicht zusam­men­passt. Ich glau­be, dass mei­ne Inter­pre­ta­ti­on da viel wahr­schein­li­cher ist. Es gibt immer ganz genaue Grün­de, war­um alles so kommt, wie es kommt, davon spricht der Text ja auch. Einer ist, dass Kaf­ka bis zu Dora Dia­mant die fal­schen Frau­en hat­te, der ande­re ist, dass ihn viel­leicht die­se Tuber­ku­lo­se am Ende auch ent­bun­den und radi­ka­li­siert hat, frei gemacht hat auf eine ver­que­re Wei­se. Es ist für mich über­haupt kein Wider­spruch, dass das, was ich da als Lie­bes­ge­schich­te erfun­den habe, am Ende sehr wohl sei­ne Wahr­heit war.

SCHAU INS BLAU: Zumal das vor­ge­fun­de­ne his­to­ri­sche Mate­ri­al, die Brie­fe und Tage­bü­cher, ja auch immer Selbst­in­sze­nie­run­gen und ‑inter­pre­ta­tio­nen sind.

MICHAEL KUMPFMÜLLER: Ja eben, die­se Brie­fe an die Eltern z.B. sind ja oft rei­ne Pro­pa­gan­da­ma­nö­ver. Da geht es dar­um, die Eltern davon abzu­hal­ten, ihn aus Ber­lin weg­zu­ho­len, was am Ende nicht gelingt; es geht dar­um, sie abzu­hal­ten, dass sie ihn in tod­kran­kem Zustand sehen usw. Es gibt wahr­schein­lich nur weni­ge Figu­ren der Lite­ra­tur­ge­schich­te, die der­art ihr eige­ner lite­ra­ri­scher Ent­wurf sind wie Kaf­ka. Das heißt nicht, dass er sein Leben ein­fach fälscht, das nicht, aber man muss auf sei­ne Text­stra­te­gien und Manö­ver achten.

SCHAU INS BLAU: Brie­fe spie­len ja gene­rell eine zen­tra­le Rol­le in dem Text. Außer mit der Fami­lie und Freun­den kom­mu­ni­zie­ren Franz und Dora in den Zei­ten der phy­si­schen Absenz eben­falls inten­siv mit­ein­an­der. Kann die Schrift dem­zu­fol­ge ein Medi­um sein, um die Nicht-Prä­senz zu über­win­den, der Sehn­sucht eine Stim­me zu ver­lei­hen und dem Ande­ren eine Form von zumin­dest medi­al ver­mit­tel­ter Prä­senz zu schaffen?

MICHAEL KUMPFMÜLLER: Das ist ohne Zwei­fel der Fall, wobei die eigent­li­che Poin­te das Gegen­teil ist. Und aus die­sem Grund ist es auch über­haupt nicht schlimm, dass die Brie­fe, die sie sich geschrie­ben haben, ver­lo­ren gegan­gen sind. Ins­be­son­de­re für Kaf­ka, der die­se Brief­höl­len mit Mile­na ja bis zum Ende aus­ge­schrit­ten ist, geht es letzt­lich um eine Kri­tik des Brie­fes. Man den­ke nur an die­se berühm­ten Sät­ze, „dass die Küs­se, die mit den Brie­fen unter­wegs sind, von den Gespens­tern aus­ge­trun­ken wer­den“. Als unei­gent­li­che Rede ist der Brief natür­lich eine Sehn­suchts­form, ein Ersatz für Kom­mu­ni­ka­ti­on und Nähe, aber Kaf­ka schreibt mei­ner Mei­nung nach vor allem des­halb nicht über Dora, weil es nicht not­wen­dig ist. Es geht um die phy­si­sche Prä­senz – das ist die Wahr­heit, zu der er unter­wegs ist und bei der er am Ende ankommt, jen­seits der Briefe.

SCHAU INS BLAU: Wäre das dann viel­leicht sogar als eine Form der Sprach­kri­tik zu den­ken, da er ja selbst ein Arbei­ter an und mit der Spra­che war und somit über die Gren­zen der Aus­drucks­mög­lich­keit und ‑fähig­keit des Medi­ums reflektiert?

MICHAEL KUMPFMÜLLER: Ich glau­be, dass er am Ende dar­auf aus war, die Din­ge zu ver­söh­nen. Des­halb ist das für mich auch die Schlüs­sel­sze­ne in dem Buch von Peter-André Alt gewe­sen: dass er in einem Zim­mer sitzt und schreibt, und neben­an, auf dem Sofa, sitzt Dora und ist leib­haf­tig anwe­send. Das ist das Ende des alten Ent­we­der-Oder – Nähe zur Schrift oder Nähe zum ande­ren Men­schen, wobei es nicht dar­um geht, die­se Gleich­zei­tig­keit nur irgend­wie zu erdul­den, son­dern die Gegen­sät­ze auf­zu­he­ben, so dass bei­des mög­lich wird und bei­des gilt, ohne dass es nur des­halb gilt, weil man das Ande­re abwer­tet. Aber bezo­gen auf die Lie­bes­ge­schich­te sind die Lie­bes­brie­fe natür­lich wich­tig, sie pro­du­zie­ren das Band, und das Band muss es ja geben. Das Wun­der muss für ihn, glau­be ich, gewe­sen sein, dass sie bis zum Ende bei ihm ist und dass sie sich eben nicht schrei­ben müssen.

SCHAU INS BLAU: Könn­te man es zudem als eine Form der Arbeit am Mythos beschrei­ben, dass Sie dem Roman die ver­lo­ren gegan­ge­nen Brie­fe ein­schrei­ben und also die Leer­stel­le der Kor­re­spon­denz zwi­schen Franz und Dora zu fül­len versuchen?

MICHAEL KUMPFMÜLLER: Ja, das kann man so sagen. Was den Pro­duk­ti­ons­pro­zess angeht, mar­kier­ten die Brie­fe eine der Lücken, die es mir über­haupt erlaubt hat, als Schrift­stel­ler die Stim­me zu erhe­ben, obwohl schon so viel über Kaf­ka gesagt ist. Die ande­re Lücke war natür­lich, dass Dora bis­lang kei­ne eige­ne Stim­me hat­te. In die­ser Fra­ge ist der Roman ein­deu­tig, indem er bei­den den glei­chen ‚Rede­an­teil’ ein­räumt. Soll­ten die Brie­fe eines Tages wie­der auf­tau­chen, wäre den Fak­ten nach womög­lich das eine oder ande­re Detail falsch, aber das wür­de die von mir gemein­te Wahr­heit und Wahr­schein­lich­keit des Tex­tes nicht berühren.

SCHAU INS BLAU: Bei Ihrem Roman han­delt es sich ja um ein Buch, das die Mög­lich­keit des erleb­ten Glücks ins Zen­trum rückt. Das ist ein in der Gegen­warts­li­te­ra­tur ja wie­der­um eher sel­ten anzu­tref­fen­des Phä­no­men. Kann man die­sen Text somit als einen Gegen­ent­wurf zur lite­ra­ri­schen Land­schaft bezeich­nen, indem es von gelin­gen­den mensch­li­chen Begeg­nun­gen und vom zwi­schen­mensch­li­chen Glück erzählt, das zwar in dem ste­ten Bewusst­sein erfah­ren wird, dass das Glück fra­gil ist, immer wie­der gebro­chen wird und nur moment­haft erlebt wer­den kann, dass es die­ses Glück aber durch­aus in der moder­nen Welt noch gibt?

MICHAEL KUMPFMÜLLER: Das kann man im Nach­hin­ein sicher so sagen, wobei mir das zu ideo­lo­gisch klingt. Mich hat fas­zi­niert, dass die Bewe­gung der Geschich­te ja dar­in besteht, dass der Tod vom ers­ten Satz an sei­ne Fin­ger nach den Per­so­nen aus­streckt und dass die Figu­ren wie auch der Text das auf­zu­hal­ten ver­su­chen. Indem der Text als Text da ist, ver­zö­gert er das uns allen bekann­te Ende. Das ist das eine. Das ande­re ist, dass ich unab­hän­gig von die­sem Pro­jekt immer wie­der dar­über nach­den­ke, wodurch für Men­schen eigent­lich Sinn ent­steht. Eine schnel­le Ant­wort lau­tet: der Sinn des Lebens ent­steht durch Repro­duk­ti­on, also durch das Fort­le­ben im Ande­ren. Dann gibt es natür­lich noch die­sen alten Mythos, an den ich am aller­we­nigs­ten glau­be, dass es das Fort­le­ben im Werk gibt, was ja schon dar­um ziem­lich lächer­lich ist, weil es einem zu Leb­zei­ten nichts nützt. Der eigent­li­che Sinn­stif­ter aber ist, so den­ke ich, das Ende, der Tod, weil er die Zahl der Stun­den begrenzt. Das kön­nen wir natür­lich nicht immer wis­sen, weil wir es nicht ertra­gen wür­den, aber wenn wir es uns hin und wie­der ins Bewusst­sein rufen, so gewinnt der ein­zel­ne Moment, unse­re Gegen­wart, sofort an Bedeu­tung. Dar­aus könn­te man jetzt ein Glücks­su­cher-Theo­rem machen, aber das ist nicht mei­ne Sache. Aber für das Buch ist das zen­tral, denn natür­lich gehört es zu den Bedin­gun­gen die­ser Lie­bes­ge­schich­te, dass sie zeit­lich begrenzt ist, dass sie von vorn­her­ein unter die­ser Todes­dro­hung steht. Inso­fern beinhal­tet sie einen Auf­ruf, mutig an den Tod her­an zu leben. Denn genau das haben die bei­den getan.

SCHAU INS BLAU: Wenn man das noch ein biss­chen wei­ter­dreht, könn­te man ja kon­sta­tie-ren, dass nur im Bewusst­sein des Endes Glück über­haupt mög­lich und erfahr­bar ist.

MICHAEL KUMPFMÜLLER: Abso­lut. Das kann man womög­lich auch ohne Tod den­ken. Man könn­te sich ja klar machen – und auch das wäre schon ein klu­ger Gedan­ke –, dass ein Lie­bes­ver­hält­nis oder ein Innig­keits­ver­hält­nis wie z.B. mit Kin­dern von vorn­her­ein in sich begrenzt ist. Blei­ben wir mal bei die­sem Bei­spiel: Ich habe einen klei­nen Sohn, er ist fünf, und ich weiß, dass er nicht mehr lan­ge mor­gens zu mir ins Bett kommt. Und nur weil ich es weiß und nicht für etwas neh­me, das unend­lich ist, genie­ße ich es und bin glück­lich darüber.

SCHAU INS BLAU: Mit Dora und Franz tref­fen sich ja auf ihre jeweils eige­ne Art und Wei-se zwei Ent­wur­zel­te und kon­sti­tu­ie­ren sich eine Iden­ti­tät mit­hil­fe des Ande­ren – in Begeg-nung, in Kom­mu­ni­ka­ti­on, über Kör­per­lich­keit. Kann das als letzt­gül­ti­ge Form von nach­hal­ti-ger Sinn­stif­tung und Selbst­ver­ge­wis­se­rung gel­ten, die für die bei­den über­haupt als ein­zig mög­li­che erscheint in die­ser unsi­che­ren, ori­en­tie­rungs­lo­sen Zeit?

MICHAEL KUMPFMÜLLER: Ich wür­de zunächst ein­mal sagen, dass das etwas ist, was vie­le von uns Heu­ti­gen sehr gut ken­nen. Es gibt kei­ne Set­zung von sozia­ler Iden­ti­tät über irgend­wel­che insti­tu­tio­nel­len Zuge­hö­rig­kei­ten mehr. Was einer stu­diert hat, was einer für Eltern hat usw. bedeu­tet unter den Bedin­gun­gen der post­mo­der­nen Ich-Fin­dung immer weni­ger. Kurz­um, es geht dar­um, in der Situa­ti­on der per­ma­nen­ten Wacke­lig­keit der Ver­hält­nis­se irgend­et­was zu set­zen. Und das ist etwas, was uns die bei­den exem­pla­risch vor­füh­ren. Genau dar­in liegt übri­gens auch der Grund, war­um es mit einer Feli­ce Bau­er eben nicht geklappt hat, weil die ganz stark auf bür­ger­li­che Kon­ven­tio­nen und ein Leben in Kate­go­rien des 19. Jahr­hun­derts gesetzt hat, wäh­rend Kaf­ka sich qua­si auf das Aben­teu­er des 20. Jahr­hun­derts ein­lässt, was ja dann übri­gens auch bald zu Ende war mit dem Ende der Wei­ma­rer Repu­blik und erst heu­te in ande­rer Wei­se zurück­ge­kom­men ist. Da ist er uns ganz nah.

SCHAU INS BLAU: Und da ist er dann auch wie­der ganz nah an der lite­ra­tur­ge­schicht­li­chen Inter­pre­ta­ti­on als Para­dig­ma des moder­nen Menschen…

MICHAEL KUMPFMÜLLER: … genau, und da sieht man natür­lich sofort, dass er in sei­nem Leben an die­sem Aben­teu­er immer wie­der ver­un­glückt ist. Das ist der ‚wah­re’ Teil des Mythos. Aber in der letz­ten Pha­se glückt es eben auf ein­mal, unter den ver­quers­ten Bedin­gun­gen. Es gibt zwei, drei Brie­fe von Dora nach sei­nem Tod, die sie an Ott­la und Elli geschrie­ben hat. Ich habe die­se Brie­fe erst gele­sen, als das Buch fer­tig war, und beim Lesen die­ser Brie­fe habe ich gedacht: ‚Ja, du hast alles ganz rich­tig geahnt, sie spricht genau­so dar­über, wie sie in dem Text auch spricht’.

SCHAU INS BLAU: Lie­ber Herr Kumpf­mül­ler, wir dan­ken Ihnen ganz herz­lich für das Gespräch.

 

Micha­el Kumpf­mül­ler, gebo­ren 1961 in Mün­chen, stu­dier­te Ger­ma­nis­tik und Geschich­te und lebt inzwi­schen als Schrift­stel­ler in Ber­lin. Im Jahr 2000 debü­tier­te er mit dem viel dis­ku­tier­ten Ost-West-Roman Ham­pels Fluch­ten. 2003 folg­te sein zwei­tes Buch Durst, das auf einem wah­ren Kri­mi­nal­fall beruht. 2008 erschien der Gesell­schafts­ro­man Nach­richt an alle, der mit dem Alfred-Döb­lin-Preis aus­ge­zeich­net wur­de. Im Jahr 2011 wur­de sein von Kri­tik wie Publi­kum glei­cher­ma­ßen begeis­tert auf­ge­nom­me­ner Roman Die Herr­lich­keit des Lebens veröffentlicht.