Ein Gespräch mit dem Schriftsteller Michael Kumpfmüller
von Agnes Bidmon
Franz Kafka als Mythos auszustellen und so gleichzeitig an diesem Mythos zu arbeiten, indem gegen die vorherrschende Lesart angeschrieben wird, ist das Anliegen von Michael Kumpfmüllers Roman. Und so nähert sich der Leser der historischen Person wie der literarischen Figur auf eine ganz neue Art und Weise und kommt in Berührung mit einer bislang oft verborgenen lebensbejahenden und glücklichen Seite Kafkas. Auf diese Weise wird nicht nur ein ganz neuer Blick ermöglicht, sondern auch eine wunderbare Geschichte erzählt – ein anrührendes Buch über Die Herrlichkeit des Lebens (Kiepenheuer & Witsch, Köln 2011).
SCHAU INS BLAU: Betrachtet man die Form Ihres Romans, ist auffällig, dass der Text von einer augenscheinlichen Symmetrie geprägt ist. Das Buch gliedert sich in die drei Teile „Kommen“, „Bleiben“ und „Gehen“, die sich wiederum in jeweils 12 Kapitel aufschlüsseln. Kann man dieses Vorgehen als eine bewusst gewählte Strategie verstehen, um jeder Phase dieser Liebesgeschichte das gleiche Recht zu geben und die gleiche Wertigkeit zu verleihen?
MICHAEL KUMPFMÜLLER: Die Arbeit an der Form ist mir sehr wichtig, wobei das stets eine Mischung aus Setzung und Befragung des Stoffes ist. Ich habe erst einmal geschaut, wie lange die beiden zusammen waren. Da fand ich dann heraus, dass es ziemlich genau 48 Wochen sind. Und bei 48 Wochen fiel mir natürlich gleich eine 12er-Aufteilung ein, aufgegliedert in vier Jahreszeiten. Daher hatte das Buch ursprünglich – von mir gesetzt, aber eben auch vorgefunden im Material – vier Teile, und in der Tat ist mir die Gleichförmigkeit, das gleichmäßige Vergehen der Zeit sehr wichtig gewesen bei diesem Buch. Das ist sozusagen ein Grundprinzip, obwohl das Buch insofern davon abweicht, als der mittlere Teil eigentlich 2 x 12 Kapitel umfasst. Da findet dann vom Erzähltempo her eine Beschleunigung statt, was aber für die Berliner Zeit sehr stimmig ist und passt. Dazu kommt, dass es für jeden Tag einen Abschnitt gibt. Diese einzelnen Abschnitte sind verschieden dicht und lang, so wie wir ja auch verschieden lange Tage haben, wenn wir uns erinnern. Am Ende beharrt der Text aber darauf, dass jeder Tag das gleiche Recht und die gleiche Gültigkeit und Bedeutung hat.
SCHAU INS BLAU: Wie Sie bereits gesagt haben, beschleunigt der Berlin-Teil dann das Erzähltempo. Es ist ja eine spannende und auch spannungsvolle Zeit in Berlin, es ist die Zeit der Inflation und des Verfalls, der ja auch in Analogie zum Verfall der Figur Franz Kafka gelesen werden kann. Wurde diese Parallele bewusst gesetzt oder hat sie sich aufgrund der historischen Konstellation ergeben?
MICHAEL KUMPFMÜLLER: Wahrscheinlich auch in diesem Fall beides, wobei die Berliner Zeit ja nicht nur eine Verfallsgeschichte ist, sondern auch eine Zeit der Intensivierung und der Beschleunigung. Die Inflation ist ein sich beschleunigender Vorgang, gegen den der Text die Ruhe des Lebens setzt, die dieser Geschwindigkeit sozusagen abgetrotzt wird. Und es ist schön, wenn dieser gleichmäßige Takt, also die Form und die Ordnung, die in dieser Form liegen kann – nicht muss –, sich am Ende irgendwie durchdrückt oder strahlt und mit dem Text etwas macht, bevor er überhaupt zu sprechen beginnt.
SCHAU INS BLAU: Da Sie gerade selbst auf die Sprache anspielen. Die Sprache des Textes strahlt ebenfalls Ruhe aus und hat einen ganz eigenen Sprachgestus. Zum Teil sind ja auch historische Materialien wie Briefe und Tagebucheinträge eingearbeitet, allerdings mit einem weniger montagehaften Charakter, um innerhalb des Textes bewusst vermeintliche Brüche zu erzeugen, indem die Fremdheit des eingearbeiteten Materials markiert wird, als auf eine integrierende Art, die die Ununterscheidbarkeit von historischem Material und fiktionalem Erzählen unterstreicht.
MICHAEL KUMPFMÜLLER: Das ist richtig. Ich denke das eigentlich immer musikalisch. Ich habe einfach verschiedene Materialien vorgefunden und in mir heraufbeschworen. Wichtig war in dem Zusammenhang mein Lektüreprozess von Kafkas Schriften. Ich habe wirklich alles, was ich von Kafka in sehr jungen Jahren gelesen habe, noch einmal von vorne bis hinten gelesen mit der Anweisung für mich, dass ich alles sofort ‚vergesse’. Ich wollte nachher kein Oberseminar halten können, sondern ich habe versucht, die Rhythmen aufzunehmen, die Bilder und Metaphern, ohne sie mir aufzuschreiben; sie durch mich hindurchgehen und sich irgendwie ablagern zu lassen, was ja beim Lesen immer passiert. Wir erinnern uns ja völlig chaotisch an Texte und können das auch nicht steuern, da dieser Prozess sehr viel mit unseren Befindlichkeiten, Vor-Erfahrungen, Träumen und Wünschen zu tun hat. Diesen unbewussten Vorgang habe ich versucht zu ritualisieren und darauf zu setzen, dass das dann an der richti-gen Stelle wiederkommt. Vielleicht ist das auch mit der Sprache so. Ich mache keinen Unterschied zwischen Fakt und Fiktion und weiß auch inzwischen im Einzelnen gar nicht mehr, was von mir ist oder aus Briefen. Ich habe mir im Vorfeld nur die Anweisung gegeben – was für mich ganz und gar neu ist –, im Präsens zu schreiben, um die Schwere des Stoffes zu konterkarieren. Ansonsten galt eigentlich nur das Prinzip, dass es einfach sein soll, dass es rhythmisch sein soll und dass das Material aus den Briefen sich dann einfügt, wobei das kompli-zierter klingt als es gewesen ist. Es war – so erinnere ich mich jedenfalls daran – ein sehr harmonischer und unkomplizierter Schreibprozess. Ich musste nicht lange ringen, sondern ich habe im Gegenteil die sehr angenehme Erfahrung gemacht, dass ich auf einmal warten kann, dass ich auf den Text gewartet habe, auf die Sätze, und das war sehr schön.
SCHAU INS BLAU: Einer der faszinierenden Aspekte dieses Textes ist, dass diese eben vermeintlich ganz einfache und reduzierte Sprache vermag, Worte für das unbenennbare Phänomen einer ‚reinen Liebe’ zu finden. Denn auf diese Art stellt sich die Liebe zwischen den beiden Figuren Franz und Dora dem Leser dar und scheint die Beziehung der beiden sehr stark widerzuspiegeln.
MICHAEL KUMPFMÜLLER: Ja, dieses Unbedingte hat mich an dem Stoff, soweit er überliefert ist, sofort fasziniert. Wie jeder Text hat auch dieser eine Doppelstrategie, denke ich. Er benennt die Dinge an bestimmten Stellen, an anderen lässt er aber Leerstellen, wo sich der Text dann im Kopf des Lesers bildet. Das ist eine meiner Grundüberzeugungen, dass man da eigentlich ganz vertrauensvoll operieren kann. Man muss die Geschichte nicht in ihrer ganzen Fülle ausbreiten, denn sie erzählt sich immer auch von selbst, weil es keinen unschuldigen Leser gibt. Es gibt ja immer nur den Leser, der schon gelesen hat. Und da war ich komischerweise so sicher wie noch nie – geradezu traumwandlerisch sicher – und habe nicht darüber nachgedacht, ob und inwiefern das so gehen könnte. Ich musste aber auch den Mut haben, zu benennen. Ein Text darf nicht nur ‚raunen’, das heißt, ich musste die Orte der Liebe schon bezeichnen, wobei das weniger die Sätze sind als die Gesten, wie Figuren wohin gehen und wo sie im Raum stehen und wie sie sich bewegen. Das hat mich schon immer fasziniert.
SCHAU INS BLAU: Es gibt ja auch einige Stellen im Text, wo dies ganz explizit thematisiert wird, wo die Worte verschwinden und nur die Körperlichkeit bleibt, wo die Körperlichkeit die Sprache also letztlich überdauert und überbietet.
MICHAEL KUMPFMÜLLER: Genau, manchmal hinterlassen Körper die genauere Spur, wobei Körperlichkeit – wie bei Dora – manchmal unzuverlässig ist. Die letzte und genaueste Spur sind dann letztlich Rhythmen, Abdrücke, also eigentlich wiederum etwas Musikalisches. Das Genaue entsteht am Ende sozusagen in der Ungenauigkeit. Deshalb hat sich die wirkliche Figur Dora Diamant ja auch schwer getan, sich die Geschichte am Ende ihres Lebens noch einmal zu erzählen.
SCHAU INS BLAU: Wenn wir noch kurz bei den historischen Folien bleiben. Wie kann man sich als Autor einer so viel besprochenen Figur wie Franz Kafka, die ja sowohl durch ihre Texte nachwirkt und weiterlebt als auch durch den wissenschaftlichen und literarischen Diskurs, mit dem Gefühl nähern, sowohl der historischen Person als auch der literarischen Figur gerecht werden zu können?
MICHAEL KUMPFMÜLLER: Das ist natürlich eine ganz zentrale Frage, denn diese schiere Unmöglichkeit ist es, die mich im Ursprung am meisten interessiert hat. Wie soll das gehen? Wenn man aber anfängt zu überlegen, wer Franz Kafka eigentlich ist, dann ist unabweisbar sofort klar, dass er eine mythische Gestalt ist. Ein Mythos der modernen Literatur, der Einsamkeit, des Unglücks, des modernen Menschen, des neurotischen Junggesellen. Bei der Lektüre der zeitgenössischen Briefe wie auch seines Werks habe ich mich darauf eingelassen, ihm erst mal zuzuhören. Und wirklich hat Kafka diesen seinen Unglücksmythos ja immer wieder selbst heraufbeschworen, in den Tagen des Jammers und der Dunkelheit, aber man muss sehen, dass das auch eine Inszenierung gewesen ist, eine Schreibstrategie. Meine Setzung war, dass hinter diesen Unglücksbeschwörungen wie bei jedem Menschen eine elementare Sehnsucht nach dem geglückten Leben herrscht. Diese Spuren habe ich gesammelt, denn man kann sie in den Briefen und Tagebüchern finden. Und in diesem Sinne wendet sich das Buch in durchaus polemischer Absicht gegen den bestehenden Mythos. Denn dieser Mythos hat ja etwas unglaublich Obszönes, weil er eine Festschreibung, eine Enteignung des gelebten Lebens ist. Richtig ist, dass die Sehnsucht bei Kafka immer größer wird: auf der Beziehungsebene nach dem tätigen Leben mit einer Frau, vielleicht mit Familie und dann im weiteren Raum auch mit einem Judentum, das für ihn irgendwie Sinn macht. Dieser Suchbewegung habe ich gewissermaßen eine Stimme gegeben, im Duett mit Dora, die mit ihren 25 Jahren eine Entwurzelte ist und in einer entwurzelten gesellschaftlichen Situation Anfang der 20er Jahre in Berlin dann mit ihm etwas kann, was vielleicht 1913 nicht möglich gewesen wäre.
SCHAU INS BLAU: Also könnte man Ihren Roman im Sinne Blumenbergs auch als eine Arbeit am Mythos begreifen.
MICHAEL KUMPFMÜLLER: Ja, unbedingt. Das darf man allerdings nicht dahingehend missverstehen, dass es um die Aufhebung des Mythos geht, aber es geht doch um eine Korrektur oder eine Kritik des Mythos. Es geht darum, zu sehen, dass wir uns – mit Max Frisch gesprochen – auch von den Toten unablässig Bilder machen und diese Bilder auch Gefängnisse sind. In der Literaturgeschichtsschreibung gibt es immer wieder Revisionen von Bildern, das ist nichts Ungewöhnliches, und so ist es vielleicht auch nicht ungewöhnlich, dass ich als Germanist auf so eine Idee gekommen bin.
SCHAU INS BLAU: Welche Rolle spielt in diesem Kontext die Oszillation zwischen Fakt und Fiktion für den Text? Kafka wird ja als ein Mensch dargestellt, als der er selten dargestellt wird, indem er dem Leser als ein bedingungslos Liebender begegnet. Wie ist dieses Wechselspiel zu denken?
MICHAEL KUMPFMÜLLER: Ich mag diesen Gegensatz ja gar nicht. Die Wahrheit ist doch, dass wir unablässig dabei sind, sowohl von Lebenden als auch von Toten die Existenz zu in-terpretieren, in einem sozusagen unendlichen hermeneutischen Zirkel. Deshalb beginnt mein Text nicht an der Stelle, wo er gewissermaßen abhebt und das Faktische verlässt, sondern er interpretiert das vorhandene Material in einer bestimmten Weise. Mit der Episode Dora hatte die Forschung immer große Probleme, weil sie nämlich mit der These des ewig Unglücklichen, Beziehungsunfähigen etc. nicht zusammenpasst. Ich glaube, dass meine Interpretation da viel wahrscheinlicher ist. Es gibt immer ganz genaue Gründe, warum alles so kommt, wie es kommt, davon spricht der Text ja auch. Einer ist, dass Kafka bis zu Dora Diamant die falschen Frauen hatte, der andere ist, dass ihn vielleicht diese Tuberkulose am Ende auch entbunden und radikalisiert hat, frei gemacht hat auf eine verquere Weise. Es ist für mich überhaupt kein Widerspruch, dass das, was ich da als Liebesgeschichte erfunden habe, am Ende sehr wohl seine Wahrheit war.
SCHAU INS BLAU: Zumal das vorgefundene historische Material, die Briefe und Tagebücher, ja auch immer Selbstinszenierungen und ‑interpretationen sind.
MICHAEL KUMPFMÜLLER: Ja eben, diese Briefe an die Eltern z.B. sind ja oft reine Propagandamanöver. Da geht es darum, die Eltern davon abzuhalten, ihn aus Berlin wegzuholen, was am Ende nicht gelingt; es geht darum, sie abzuhalten, dass sie ihn in todkrankem Zustand sehen usw. Es gibt wahrscheinlich nur wenige Figuren der Literaturgeschichte, die derart ihr eigener literarischer Entwurf sind wie Kafka. Das heißt nicht, dass er sein Leben einfach fälscht, das nicht, aber man muss auf seine Textstrategien und Manöver achten.
SCHAU INS BLAU: Briefe spielen ja generell eine zentrale Rolle in dem Text. Außer mit der Familie und Freunden kommunizieren Franz und Dora in den Zeiten der physischen Absenz ebenfalls intensiv miteinander. Kann die Schrift demzufolge ein Medium sein, um die Nicht-Präsenz zu überwinden, der Sehnsucht eine Stimme zu verleihen und dem Anderen eine Form von zumindest medial vermittelter Präsenz zu schaffen?
MICHAEL KUMPFMÜLLER: Das ist ohne Zweifel der Fall, wobei die eigentliche Pointe das Gegenteil ist. Und aus diesem Grund ist es auch überhaupt nicht schlimm, dass die Briefe, die sie sich geschrieben haben, verloren gegangen sind. Insbesondere für Kafka, der diese Briefhöllen mit Milena ja bis zum Ende ausgeschritten ist, geht es letztlich um eine Kritik des Briefes. Man denke nur an diese berühmten Sätze, „dass die Küsse, die mit den Briefen unterwegs sind, von den Gespenstern ausgetrunken werden“. Als uneigentliche Rede ist der Brief natürlich eine Sehnsuchtsform, ein Ersatz für Kommunikation und Nähe, aber Kafka schreibt meiner Meinung nach vor allem deshalb nicht über Dora, weil es nicht notwendig ist. Es geht um die physische Präsenz – das ist die Wahrheit, zu der er unterwegs ist und bei der er am Ende ankommt, jenseits der Briefe.
SCHAU INS BLAU: Wäre das dann vielleicht sogar als eine Form der Sprachkritik zu denken, da er ja selbst ein Arbeiter an und mit der Sprache war und somit über die Grenzen der Ausdrucksmöglichkeit und ‑fähigkeit des Mediums reflektiert?
MICHAEL KUMPFMÜLLER: Ich glaube, dass er am Ende darauf aus war, die Dinge zu versöhnen. Deshalb ist das für mich auch die Schlüsselszene in dem Buch von Peter-André Alt gewesen: dass er in einem Zimmer sitzt und schreibt, und nebenan, auf dem Sofa, sitzt Dora und ist leibhaftig anwesend. Das ist das Ende des alten Entweder-Oder – Nähe zur Schrift oder Nähe zum anderen Menschen, wobei es nicht darum geht, diese Gleichzeitigkeit nur irgendwie zu erdulden, sondern die Gegensätze aufzuheben, so dass beides möglich wird und beides gilt, ohne dass es nur deshalb gilt, weil man das Andere abwertet. Aber bezogen auf die Liebesgeschichte sind die Liebesbriefe natürlich wichtig, sie produzieren das Band, und das Band muss es ja geben. Das Wunder muss für ihn, glaube ich, gewesen sein, dass sie bis zum Ende bei ihm ist und dass sie sich eben nicht schreiben müssen.
SCHAU INS BLAU: Könnte man es zudem als eine Form der Arbeit am Mythos beschreiben, dass Sie dem Roman die verloren gegangenen Briefe einschreiben und also die Leerstelle der Korrespondenz zwischen Franz und Dora zu füllen versuchen?
MICHAEL KUMPFMÜLLER: Ja, das kann man so sagen. Was den Produktionsprozess angeht, markierten die Briefe eine der Lücken, die es mir überhaupt erlaubt hat, als Schriftsteller die Stimme zu erheben, obwohl schon so viel über Kafka gesagt ist. Die andere Lücke war natürlich, dass Dora bislang keine eigene Stimme hatte. In dieser Frage ist der Roman eindeutig, indem er beiden den gleichen ‚Redeanteil’ einräumt. Sollten die Briefe eines Tages wieder auftauchen, wäre den Fakten nach womöglich das eine oder andere Detail falsch, aber das würde die von mir gemeinte Wahrheit und Wahrscheinlichkeit des Textes nicht berühren.
SCHAU INS BLAU: Bei Ihrem Roman handelt es sich ja um ein Buch, das die Möglichkeit des erlebten Glücks ins Zentrum rückt. Das ist ein in der Gegenwartsliteratur ja wiederum eher selten anzutreffendes Phänomen. Kann man diesen Text somit als einen Gegenentwurf zur literarischen Landschaft bezeichnen, indem es von gelingenden menschlichen Begegnungen und vom zwischenmenschlichen Glück erzählt, das zwar in dem steten Bewusstsein erfahren wird, dass das Glück fragil ist, immer wieder gebrochen wird und nur momenthaft erlebt werden kann, dass es dieses Glück aber durchaus in der modernen Welt noch gibt?
MICHAEL KUMPFMÜLLER: Das kann man im Nachhinein sicher so sagen, wobei mir das zu ideologisch klingt. Mich hat fasziniert, dass die Bewegung der Geschichte ja darin besteht, dass der Tod vom ersten Satz an seine Finger nach den Personen ausstreckt und dass die Figuren wie auch der Text das aufzuhalten versuchen. Indem der Text als Text da ist, verzögert er das uns allen bekannte Ende. Das ist das eine. Das andere ist, dass ich unabhängig von diesem Projekt immer wieder darüber nachdenke, wodurch für Menschen eigentlich Sinn entsteht. Eine schnelle Antwort lautet: der Sinn des Lebens entsteht durch Reproduktion, also durch das Fortleben im Anderen. Dann gibt es natürlich noch diesen alten Mythos, an den ich am allerwenigsten glaube, dass es das Fortleben im Werk gibt, was ja schon darum ziemlich lächerlich ist, weil es einem zu Lebzeiten nichts nützt. Der eigentliche Sinnstifter aber ist, so denke ich, das Ende, der Tod, weil er die Zahl der Stunden begrenzt. Das können wir natürlich nicht immer wissen, weil wir es nicht ertragen würden, aber wenn wir es uns hin und wieder ins Bewusstsein rufen, so gewinnt der einzelne Moment, unsere Gegenwart, sofort an Bedeutung. Daraus könnte man jetzt ein Glückssucher-Theorem machen, aber das ist nicht meine Sache. Aber für das Buch ist das zentral, denn natürlich gehört es zu den Bedingungen dieser Liebesgeschichte, dass sie zeitlich begrenzt ist, dass sie von vornherein unter dieser Todesdrohung steht. Insofern beinhaltet sie einen Aufruf, mutig an den Tod heran zu leben. Denn genau das haben die beiden getan.
SCHAU INS BLAU: Wenn man das noch ein bisschen weiterdreht, könnte man ja konstatie-ren, dass nur im Bewusstsein des Endes Glück überhaupt möglich und erfahrbar ist.
MICHAEL KUMPFMÜLLER: Absolut. Das kann man womöglich auch ohne Tod denken. Man könnte sich ja klar machen – und auch das wäre schon ein kluger Gedanke –, dass ein Liebesverhältnis oder ein Innigkeitsverhältnis wie z.B. mit Kindern von vornherein in sich begrenzt ist. Bleiben wir mal bei diesem Beispiel: Ich habe einen kleinen Sohn, er ist fünf, und ich weiß, dass er nicht mehr lange morgens zu mir ins Bett kommt. Und nur weil ich es weiß und nicht für etwas nehme, das unendlich ist, genieße ich es und bin glücklich darüber.
SCHAU INS BLAU: Mit Dora und Franz treffen sich ja auf ihre jeweils eigene Art und Wei-se zwei Entwurzelte und konstituieren sich eine Identität mithilfe des Anderen – in Begeg-nung, in Kommunikation, über Körperlichkeit. Kann das als letztgültige Form von nachhalti-ger Sinnstiftung und Selbstvergewisserung gelten, die für die beiden überhaupt als einzig mögliche erscheint in dieser unsicheren, orientierungslosen Zeit?
MICHAEL KUMPFMÜLLER: Ich würde zunächst einmal sagen, dass das etwas ist, was viele von uns Heutigen sehr gut kennen. Es gibt keine Setzung von sozialer Identität über irgendwelche institutionellen Zugehörigkeiten mehr. Was einer studiert hat, was einer für Eltern hat usw. bedeutet unter den Bedingungen der postmodernen Ich-Findung immer weniger. Kurzum, es geht darum, in der Situation der permanenten Wackeligkeit der Verhältnisse irgendetwas zu setzen. Und das ist etwas, was uns die beiden exemplarisch vorführen. Genau darin liegt übrigens auch der Grund, warum es mit einer Felice Bauer eben nicht geklappt hat, weil die ganz stark auf bürgerliche Konventionen und ein Leben in Kategorien des 19. Jahrhunderts gesetzt hat, während Kafka sich quasi auf das Abenteuer des 20. Jahrhunderts einlässt, was ja dann übrigens auch bald zu Ende war mit dem Ende der Weimarer Republik und erst heute in anderer Weise zurückgekommen ist. Da ist er uns ganz nah.
SCHAU INS BLAU: Und da ist er dann auch wieder ganz nah an der literaturgeschichtlichen Interpretation als Paradigma des modernen Menschen…
MICHAEL KUMPFMÜLLER: … genau, und da sieht man natürlich sofort, dass er in seinem Leben an diesem Abenteuer immer wieder verunglückt ist. Das ist der ‚wahre’ Teil des Mythos. Aber in der letzten Phase glückt es eben auf einmal, unter den verquersten Bedingungen. Es gibt zwei, drei Briefe von Dora nach seinem Tod, die sie an Ottla und Elli geschrieben hat. Ich habe diese Briefe erst gelesen, als das Buch fertig war, und beim Lesen dieser Briefe habe ich gedacht: ‚Ja, du hast alles ganz richtig geahnt, sie spricht genauso darüber, wie sie in dem Text auch spricht’.
SCHAU INS BLAU: Lieber Herr Kumpfmüller, wir danken Ihnen ganz herzlich für das Gespräch.
Michael Kumpfmüller, geboren 1961 in München, studierte Germanistik und Geschichte und lebt inzwischen als Schriftsteller in Berlin. Im Jahr 2000 debütierte er mit dem viel diskutierten Ost-West-Roman Hampels Fluchten. 2003 folgte sein zweites Buch Durst, das auf einem wahren Kriminalfall beruht. 2008 erschien der Gesellschaftsroman Nachricht an alle, der mit dem Alfred-Döblin-Preis ausgezeichnet wurde. Im Jahr 2011 wurde sein von Kritik wie Publikum gleichermaßen begeistert aufgenommener Roman Die Herrlichkeit des Lebens veröffentlicht.