Einbruch und Einsicht

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The Fool’s Cap Map of the World, Unbekannte:r Künstler:in, um 1580. Digi­tal verfremdet.

Zur Dummheit im Gefüge der Moderne

von Philipp Maier

I. All the world’s a foolground

Das Feld der Dumm­heit ist ein wei­tes und des­sen Ver­mes­sung ein schwe­res Unter­fan­gen. In der unver­öf­fent­lich­ten Vor­le­sung Die Last, die Lust und die List der Dumm­heit ent­wirft Mathi­as May­er eine Lek­tü­re von Das Lob der Tor­heitdes Eras­mus von Rot­ter­dam. So stellt die­ser im kla­ren Geist der Renais­sance fest, dass die Gren­zen­lo­sig­keit der Dumm­heit ihre Defi­ni­ti­on unmög­lich macht[1]. Das Dumm­heits­feld wäre damit ein Abso­lu­tes und der Begriff der Dumm­heit selbst pro­ble­ma­tisch, da er poten­zi­ell auf alles anwend­bar ist. Eine sol­che Onto­lo­gi­sie­rung der Dumm­heit könn­te fol­gen­de Inter­po­la­ti­on von Shake­speares As you Like it plau­si­bel machen: All the world’s a fool­ground[2].

Trotz der Ubi­qui­tät der Dumm­heit und ihrer begriff­li­chen Nivel­lie­rung ent­wirft die Fra­ge nach der Dumm­heit im Gefü­ge der Moder­ne eine escha­to­lo­gi­sche Bri­sanz. Die tech­no­lo­gi­schen Fort­schrit­te pro­vo­zie­ren neben einem unge­heu­ren Aus­maß an Kom­fort auch die Ver­nich­tung der eige­nen Exis­tenz­grund­la­ge durch die Atom­bom­be, das Arten­ster­ben und den men­schen­ge­mach­ten Kli­ma­wan­del. Die­se Dring­lich­keit zieht die Kon­se­quenz mit sich, die Dumm­heit erneut nach ihrer Moda­li­tät zu befra­gen. Die Prä­mis­se einer Onto­lo­gi­sie­rung der Dumm­heit ver­un­mög­licht eine dif­fe­ren­zie­ren­de Zuschrei­bung der Dumm­heit zu einer dif­fu­sen Mas­se, wel­cher die geschei­ten Leu­te gegenüberstehen.

 

II. Einbruch

Die Theo­rien der Moder­ne brach­ten eine Viel­zahl an Leit­be­grif­fen zur Bestim­mung eben­die­ser her­vor: Dif­fe­ren­zie­rung, Ratio­na­li­sie­rung, Indi­vi­dua­li­sie­rung oder Frag­men­tie­rung. Pro­duk­tiv für die hier aus­ge­führ­te Über­le­gung ist die von Antho­ny Gid­dens unter­nom­me­ne Ver­knüp­fung der Moder­ne mit Unsi­cher­heit. Bedingt durch das „Auf­kom­men direk­ter glo­ba­ler Kom­mu­ni­ka­ti­on und des Mas­sen­ver­kehrs“ (Gid­dens, S. 23) – der Glo­ba­li­sie­rung – spricht Gid­dens von einer post­tra­di­tio­na­len Gesell­schaft: „Das bedeu­tet kei­nes­wegs, daß die Tra­di­ti­on sich in post­tra­di­tio­na­len Ord­nun­gen völ­lig auf­löst. Viel­mehr han­delt es sich um eine Gesell­schaft, in der die Tra­di­ti­on ihren Sta­tus ver­än­dert. Tra­di­tio­nen müs­sen sich nun recht­fer­ti­gen und wer­den in Fra­ge gestellt.“ (Gid­dens, S. 23)  Die Tra­di­ti­on wird damit refle­xiv, dia­lo­gisch und öff­net sich zu einem Mög­lich­keits­raum. Dar­aus fol­gert Giddens:

 

In einer von Ent­tra­di­tio­na­li­sie­rung erfaß­ten Gesell­schaft müs­sen sich die ein­zel­nen dar­an gewöh­nen, alle mög­li­chen, für ihre Lebens­si­tua­ti­on wich­ti­gen Infor­ma­tio­nen zu fil­tern und rou­ti­ne­mä­ßig auf der Grund­la­ge die­ser Fil­te­rung zu han­deln. […] Die­se Zunah­me der sozia­len Refle­xi­vi­tät bewirkt haupt­säch­lich eine Ver­schie­bung des Ver­hält­nis­ses zwi­schen Wis­sen und Beherrsch­bar­keit, und dies ist die Haupt­ur­sa­che der her­ge­stell­ten Unsi­cher­heit. (Gid­dens, S. 26)

 

Unsi­cher­heit erhebt sich aus die­ser Per­spek­ti­ve zu einem zen­tra­len Movens moder­ner Sub­jek­te. Durch die Ent­tra­di­tio­na­li­sie­rung, die Plu­ra­li­sie­rung von Lebens­ent­wür­fen und deren mas­sen­me­dia­len Ver­gleich­bar­keit ist die Kon­struk­ti­on des Eige­nen per­ma­nen­ter Refle­xi­on aus­ge­setzt. Eine Refle­xi­on, wel­che Poten­tia­le deli­be­ra­ti­ven Den­kens frei­set­zen kann, da sie das „Bewusst­sein für Defi­zi­te des eige­nen Kennt­nis­stan­des“ (Haber­mas, S. 47) schärft und damit einen demo­kra­ti­schen Geist beför­dert. Gleich­sam ist die an Refle­xi­on geknüpf­te Unsi­cher­heit ein Aus­lö­ser von Stress, wel­cher die Ori­en­tie­rung im Kos­mos erschwert. In tra­di­tio­na­len Gesell­schaf­ten war die­se Ori­en­tie­rung insti­tu­tio­na­li­siert. Die­se Kon­stel­la­ti­on pro­vo­ziert ein Phä­no­men, das in sei­ner eng­li­schen Ent­spre­chung erst in den 1960er Jah­ren im Oxford Eng­lish Dic­tion­a­ry Erwäh­nung fand:

 

Der Fun­da­men­ta­lis­mus hat die Ten­denz, die Rein­heit einer gege­be­nen Men­ge von Lehr­sät­zen zu beto­nen, und zwar nicht des­halb, weil er sie gegen ande­re Tra­di­tio­nen abgren­zen will, son­dern weil er ein Modell der Wahr­heit ablehnt, das sich an öffent­li­chen und dia­lo­gisch geführ­ten Aus­ein­an­der­set­zun­gen über Ideen ori­en­tiert. […] Fun­da­men­ta­lis­ti­sche Ein­stel­lun­gen kön­nen in allen Berei­chen des sozia­len Lebens ent­ste­hen, in denen die Tra­di­ti­on nicht mehr als etwas Selbst­ver­ständ­li­ches gilt, son­dern zum Gegen­stand von Ent­schei­dun­gen wird. So ent­ste­hen For­men des Fun­da­men­ta­lis­mus, die nicht nur Reli­gi­on betref­fen, son­dern unter ande­rem auch die Zuge­hö­rig­keit zu Volk, Fami­lie und Geschlecht. […] Die her­ge­stell­te Unsi­cher­heit dringt in alle Lebens­be­rei­che ein, die so Ent­schei­dun­gen zugäng­lich wer­den. (Gid­dens, S. 25)

 

Der Fun­da­men­ta­lis­mus erblickt in sei­nen Lehr­sät­zen die Wahr­heit der Welt, wel­che als abge­schlos­sen und tota­li­tär jeg­li­chen Dia­log ver­wei­gern muss. So stif­tet das fun­da­men­ta­lis­ti­sche Den­ken Sicher­heit, zu dem Preis der eige­nen Erstar­rung, da der ver­flüs­si­gen­de Dia­log ver­ebbt. Das fun­da­men­ta­lis­ti­sche Sub­jekt prägt ein Spek­trum der Repul­si­on und Aggres­si­on, da es das bedroh­li­che Außen zwar an die Peri­phe­rie ver­schiebt, es aber nicht til­gen kann und so den Affek­ten einer Welt­ne­ga­ti­vi­tät unter­liegt. Damit öff­net sich das Feld des Desas­ters. Die Moder­ne kon­sti­tu­iert eine grund­le­gen­de Ambi­va­lenz. Neben der Empha­se von Wür­de und Men­schen­rech­ten brach­te sie unge­heu­re Schre­cken her­vor: Die Abgrün­de der faschis­ti­schen Dem­ago­gie. Der Regis­seur Feder­i­co Felli­ni beschreibt in einem Brief an den Film­kri­ti­ker Gian Lui­gi Ron­di aus dem Jahr 1973 die­se Kon­se­quenz des Fun­da­men­ta­lis­mus in bemer­kens­wer­ter Luzidität:

 

Der Faschis­mus ent­steht immer aus einem Geist der Pro­vinz, einem Man­gel an Kennt­nis der wah­ren Pro­ble­me und der Ableh­nung der Men­schen, sei es aus Faul­heit, Vor­ur­tei­len, Hab­gier oder Igno­ranz, um ihrem Leben eine tie­fe­re Bedeu­tung zu ver­lei­hen. Schlim­mer noch, sie prah­len mit ihrer Igno­ranz und suchen Erfolg für sich selbst oder ihre Grup­pe durch Anma­ßung, unbe­grün­de­te Behaup­tun­gen und fal­sche Dar­stel­lung guter Eigen­schaf­ten, statt an ech­te Fähig­kei­ten, Erfah­rung oder kul­tu­rel­le Refle­xi­on zu appellieren.

Faschis­mus kann nicht bekämpft wer­den, wenn wir nicht erken­nen, dass er ein­fach die dum­me, erbärm­li­che und frus­trier­te Sei­te von uns selbst ist, für die wir uns schä­men müs­sen.[3]

 

Die Unsi­cher­heit einer post­tra­di­tio­na­len Gesell­schaft bedingt eine Sehn­sucht nach der Sta­bi­li­tät eines defi­nier­ten Wis­sens, einer Wahr­heit der Welt, wel­che die­se orga­ni­sier­bar und ori­en­tier­bar macht. Der Fun­da­men­ta­lis­mus ist das nied­rig­schwel­li­ge Ange­bot der Sicher­heit. In sei­nem Exzess bringt der Fun­da­men­ta­lis­mus den Faschis­mus her­vor, wel­cher dem Nach­wort zu Blan­chots Schrift des Desas­ters fol­gend in jedem Sub­jekt den „Ver­blen­dungs­zu­sam­men­hang des nar­ziss­ti­schen Ima­gi­nä­ren“ (Pop­pen­berg, S. 195) plat­ziert: ein von allen Män­geln los­ge­lös­tes Grö­ßen­selbst, das sich dem Gan­zen der eige­nen Gran­dio­si­tät hin­gibt. In der Wen­dung Felli­nis ist dies „ein­fach die dum­me, erbärm­li­che und frus­trier­te Sei­te von uns selbst ist, für die wir uns schä­men müssen.“

Der Geist des Faschis­mus bedingt das Unver­mö­gen, die kon­sti­tu­ti­ve Dumm­heit sei­ner Kon­zep­ti­on in Refle­xi­on zu brin­gen. Die Uni­di­rek­tio­na­li­tät und Mono­lo­gi­zi­tät des Grö­ßen­selbst-Phan­tas­mas kann die Ubi­qui­tät der Dumm­heit in der Selbst­zu­schrei­bung nicht zulas­sen. Die Über­hö­hung des Eige­nen bedingt die Dis­kre­di­tie­rung des Außen, hier fin­det die Dumm­heit in der Nomen­kla­tur des Faschis­mus Platz: es sind die ande­ren. Ein Modell der Wahr­heit, „das sich an öffent­li­chen und dia­lo­gisch geführ­ten Aus­ein­an­der­set­zun­gen über Ideen ori­en­tiert“ (Gid­dens, S. 25), ist damit ver­wor­fen, die Mög­lich­keit zur Begeg­nung getilgt. Tho­mas Mann stellt in sei­ner Rede Von deut­scher Repu­blik fest: „Die Repu­blik, die Demo­kra­tie, sind heu­te sol­che inne­ren Tat­sa­chen, sind es für uns alle, jeden ein­zel­nen, und sie leug­nen heißt lügen“ (Mann, S. 524). Folg­lich weist das fun­da­men­ta­lis­tisch-faschis­ti­sche Den­ken kei­ne Rea­li­täts­kun­de auf. Es ist von erschüt­tern­der Kon­se­quenz, dass der Sozi­al­de­mo­krat Kurt Schu­ma­cher 1932 im Deut­schen Reichs­tag in Bezug auf den Natio­nal­so­zia­lis­mus von der „restlose[n] Mobi­li­sie­rung der mensch­li­chen Dumm­heit“ (Schu­ma­cher, S. 2254f.) spricht.

Die spe­zi­fi­sche Unsi­cher­heit der Moder­ne bedingt – in pro­vo­ka­ti­ver Wen­dung – eine struk­tu­rel­le Ver­dum­mung. Die Glo­ba­li­sie­rung erzeugt eine quan­ti­ta­ti­ve Stei­ge­rung an Lebens­si­tua­tio­nen und einen infor­mie­ren­den Dis­kurs über die­se. Dar­über gerät das Eige­ne in Bedräng­nis, die­ser Druck pro­vo­ziert einen Ver­lust an Ambi­gui­täts­wahr­neh­mung und somit Ver­eindeu­ti­gung (vgl. Bau­er). Die Sug­ges­ti­on einer Sta­bi­li­sie­rung fin­det die Unsi­cher­heit im Fun­da­men­ta­lis­mus. Die Unter­wer­fung unter die­sen „Geist der Pro­vinz“ (Rie­men, S. 16) ist eine nicht-refle­xi­ve Bewe­gung in Bezug auf die Dumm­heit die­ser nicht-dia­lo­gi­schen Kon­struk­ti­on. In der Unsi­cher­heit der moder­nen Welt ist der Faschis­mus der Ein­bruch der Dummheit.

 

III. Einsicht

Die spe­ku­la­ti­ven Ver­knüp­fun­gen der bis­he­ri­gen Argu­men­ta­tio­nen sol­len den Begriff der Dumm­heit in den Kon­text einer Gesell­schafts­kri­tik stel­len, wie sie Axel Hon­neth in dem Essay Idio­syn­kra­sie als Erkennt­nis­mit­tel ent­wirft:

 

Es ist die­se leicht ver­rück­te, von innen an den Rand gedreh­te Per­spek­ti­ve, die im übri­gen auch ver­ständ­lich macht, war­um die Gesell­schafts­kri­tik im Unter­schied zur intel­lek­tu­el­len Akti­vi­tät den Ein­satz von Theo­rie erfor­der­lich macht; denn deren Auf­ga­be ist es, den Abstand zu erklä­ren, der zwi­schen der wahr­ge­nom­me­nen Rea­li­tät und dem öffent­li­chen Selbst­ver­ständ­nis sozia­ler Prak­ti­ken besteht. (Hon­neth, S. 230)

 

Idio­syn­kra­sie als Erkennt­nis­mit­tel bil­det oft­mals den Gegen­stands­be­reich lite­ra­tur­wis­sen­schaft­li­cher Stu­di­en, so erfährt die Klam­mer der „moder­nen Lite­ra­tur“ durch ihre Absa­ge an Poe­to­lo­gien und Kon­ven­tio­na­li­tät eine Zunah­me an Idio­syn­kra­sie. Gid­dens The­se von der post­tra­di­tio­na­len Gesell­schaft fin­det damit im Kunst­feld einen Aus­druck, soweit ein Kon­nex von Tra­di­ti­on und Poe­to­lo­gie akzep­tiert wird. Kon­klu­die­rend soll die erra­ti­sche Hypo­the­se gewagt wer­den, der Klam­mer der moder­nen Lite­ra­tur einen Fun­da­men­ta­lis­mus der Unsi­cher­heit zu unter­stel­len, wel­cher den rezep­ti­ons­äs­the­ti­schen Effekt einer Ein­sicht in die Dumm­heit hervorbringt.

Peter Zima bemerkt in sei­nem Kom­men­tar zur Wolf­gang Isers Wir­kungs­äs­the­tik: „Vor allem moder­ne Wer­ke der Lite­ra­tur drü­cken nicht ‚Ideen‘ aus, weil sie nicht an dem aus Hegels Tota­li­täts­be­griff ableit­ba­ren Kohä­renz­pos­tu­lat zu mes­sen sind“ (Zima, S. 269). Für die moder­ne Lite­ra­tur wird gel­tend gemacht, dass ihr pri­mä­rer Zweck nicht ist, einen ver­bor­ge­nen Sinn im Netz der Signi­fi­kan­ten zur Gel­tung zu brin­gen. Hegels Tota­li­täts­be­griff wird in der Poly­se­mie zer­streut, die moder­ne Lite­ra­tur ist nicht auf eine Idee redu­zier­bar, eine Kohä­renz ist nicht aus­zu­bil­den[4]. Die Unsi­cher­heit der moder­nen Welt­erfah­rung fin­det in der lite­ra­ri­schen Auf­he­bung eta­blier­ter Kohä­renz­for­men ein Ana­lo­gon. Die­se ästhe­ti­sche Stra­te­gie, wel­che sich am Bei­spiel der klas­sisch gewor­de­nen Tria­de von Proust, Joy­ce und Kaf­ka wie­der­fin­det, soll hier als Fun­da­men­ta­lis­mus der Unsi­cher­heit bezeich­net wer­den. Die­ser Anti­fun­da­men­ta­lis­mus zer­streut den fun­da­men­ta­lis­ti­schen Sog, der das Gefü­ge der Moder­ne mit­kon­sti­tu­iert. In der post­struk­tu­ra­lis­ti­schen Voka­bel eines Ereig­nis­ses der Dezen­trie­rung, wird in die­sen Lite­ra­tu­ren die Ambi­gui­tät, Wider­sprüch­lich­keit und Kom­ple­xi­tät des In-der-Welt-sein erfahr­bar. Die­se Dezen­trie­rung lässt sich mit der Ein­sicht in die Dumm­heit des eige­nen inter­pre­ta­to­ri­schen Ver­mö­gens ver­knüp­fen. Eine Dumm­heit, wel­che wesent­li­ches Resul­tat des Unver­mö­gens ist, ein tota­li­sie­ren­des Welt­ver­ständ­nis aus­zu­bil­den und damit die Apo­lo­gie des Sokra­tes reak­tua­li­siert[5]. Die dif­fu­se Klam­mer der moder­nen Lite­ra­tur wird so les­bar als ein Vor­ha­ben, die­sen Umstand zu demons­trie­ren, als rezep­ti­ons­äs­the­ti­schen Effekt.

Die von May­ers Eras­mus­lek­tü­re her­vor­ge­brach­te Onto­lo­gi­sie­rung der Dumm­heit, die­se wahr­ge­nom­me­ne Rea­li­tät, und deren Arti­ku­la­ti­on in der ästhe­ti­schen Enkla­ve der moder­nen Lite­ra­tur kon­ter­ka­riert die Hybris im öffent­li­chen Selbst­ver­ständ­nis sozia­ler Prak­ti­ken der Moder­ne. Damit ent­wirft die Ein­sicht in die Dumm­heit ein Ethos der Demut, wel­ches Deli­be­ra­ti­on not­wen­dig macht und die „inne­re Tat­sa­che“ (Mann, S. 524) der Demo­kra­tie als Hal­tung her­vor­bringt. Die Ein­sicht in die Dumm­heit macht die­se refle­xiv und bewegt sich damit dem vor­re­fle­xi­ven Ein­bruch der Dumm­heit fun­da­men­ta­lis­ti­scher Pro­ve­ni­enz entgegen.

 

Wis­sen ist nicht immer gleich­be­deu­tend mit Ver­hin­dern­kön­nen, aber immer­hin haben wir die Din­ge, die wir wis­sen, wenn auch nicht in der Hand, so doch im Kopf, wo wir sie nach Belie­ben ein­ord­nen kön­nen, und das gibt uns dann die Illu­si­on einer gewis­sen Macht über sie. (Proust, Auf der Suche nach der ver­lo­re­nen Zeit, S. 418)

 

All der schwe­re Sand hier ist Spra­che, von Wind und Gezei­ten abge­la­gert. (Joy­ce, Ulys­ses, S. 62)

 

„[…] Es kommt mir wie etwas Gelehr­tes vor, ent­schul­di­gen Sie, wenn ich etwas Dum­mes sage, es kommt mir wie etwas Gelehr­tes vor, das ich zwar nicht ver­ste­he, das man aber auch nicht ver­ste­hen muß.“

„Es ist gar nichts Dum­mes, was Sie gesagt haben, Frau Gru­bach, wenigs­tens bin ich zum Teil Ihrer Mei­nung, nur urtei­le ich über das Gan­ze noch schär­fer als Sie und hal­te es ein­fach nicht mal für etwas Gelehr­tes, son­dern über­haupt für nichts.“(Kafka, Der Pro­zeß, S. 22).

 

 

 


[1] Für die­se Anre­gung aus der Vor­le­sung Die Last, die Lust und die List der Dumm­heit im Som­mer­se­mes­ter 2024 an der Uni­ver­si­tät Augs­burg dan­ke ich Mathi­as May­er herzlich.

[2] Vgl. “All the world’s a stage” (2.7.139). Shake­speare, Wil­liam. As you Like it / Wie es euch gefällt. Englisch/Deutsch [1599]. Stutt­gart: Reclam, 1986. S. 69.

[3] Zit. nach: Rie­men, Rob: Asyl für Euro­pa? Die Wie­der­kehr des Faschis­mus. Wien, Ber­lin: Turia & Kant, 2021. S. 16f. Hier modi­fi­zier­te Über­set­zung nach der eng­li­schen Aus­ga­be: Rie­men, Rob: To Fight Against This Age: On Fascism and Huma­nism. New York City: WW Nor­ton & Co, 2018.

[4] Die­se breit dis­ku­tier­te Eigen­schaft moder­ner Lite­ra­tur fin­det kon­zi­sen Aus­druck in Umber­to Ecos Begriff des offe­nen Kunst­werks: „Von hier aus erhält eine offe­ne Kunst ihre Funk­ti­on als epis­te­mo­lo­gi­sche Meta­pher: in einer Welt, in der die Dis­kon­ti­nui­tät der Phä­no­me­ne die Mög­lich­keit für ein ein­heit­li­ches und de- fini­ti­ves Welt­bild in Fra­ge gestellt hat, zeigt sie uns einen Weg, wie wir die­se Welt, in der wir leben, sehen und damit aner­ken­nen und unse­re Sen­si­bi­li­tät inte­grie­ren kön­ne. Ein offe­nes Kunst­werk stell sich der Auf­ga­be, uns ein Bild von der Dis­kon­ti­nui­tät zu geben: es erzählt sie nicht, son­dern ist sie.“ (Eco, Umber­to: Das offe­ne Kunst­werk [1962]. Frank­furt am Main: Suhr­kamp, 1977, S. 165.)

[5] Vgl. „Ich bin mir ja doch bewußt, daß ich abso­lut nichts weiß.“ (Pla­ton: Apo­lo­gie des Sokra­tes [399 v.u.Z.]. Göt­tin­gen: Van­den­hoeck & Ruprecht, 2014. S. 8.)

Literaturverzeichnis

Bau­er, Tho­mas: Die Ver­eindeu­ti­gung der Welt. Über den Ver­lust an Mehr­deu­tig­keit und Viel­falt. Stutt­gart, Reclam, 2018.

Blan­chot, Mau­rice: Die Schrift des Desas­ters. Mün­chen: Wil­helm Fink Ver­lag, 2005.

Eco, Umber­to: Das offe­ne Kunst­werk. Frank­furt am Main: Suhr­kamp, 1977.

Gid­dens, Antho­ny: Jen­seits von Links und Rechts. Die Zukunft radi­ka­ler Demo­kra­tie. Frank­furt am Main: Suhr­kamp, 1994.

Haber­mas, Jür­gen: Ein neu­er Struk­tur­wan­del der Öffent­lich­keit und die deli­be­ra­ti­ve Poli­tik. Ber­lin: Suhr­kamp, 2022.

Hon­neth, Axel: “Idio­syn­kra­sie als Erkennt­nis­mit­tel.“ In: Patho­lo­gien der Ver­nunft. Ber­lin: Suhr­kamp, 2007, S. 230.

Iser, Wolf­gang: Der impli­zi­te Leser. Kom­mu­ni­ka­ti­ons­for­men des Romans von Bun­yan bis Beckett. Mün­chen: Wil­helm Fink Ver­lag, 1994.

Joy­ce, James: Ulys­ses [1920]. Frank­furt am Main: Suhr­kamp, 2004.

Kaf­ka, Franz: „Der Pro­zeß“ [1925]. In: Franz Kaf­ka. Gesam­mel­te Wer­ke. Taschen­buch­aus­ga­be in acht Bän­den. Band 2.Frank­furt am Main: Fischer Taschen­buch Ver­lag, 1977.

Mann, Tho­mas: „Von deut­scher Repu­blik“ [1922]. In: Essays II. 1914–1926, Bd. 15.1. Gro­ße kom­men­tier­te Frank­fur­ter Aus­ga­be. Wer­ke – Brie­fe – Tagebücher, hrsg. Her­mann Kurz­ke. Frank­furt am Main: S. Fischer, 2002.

Proust, Mar­cel: „In Swanns Welt 2“ [1913]. In: Auf der Suche nach der ver­lo­re­nen Zeit. Werk­aus­ga­be in 13 Bän­den. Band 2. Frank­furt am Main: Suhr­kamp, 1964.

Pla­ton: Apo­lo­gie des Sokra­tes [399 v.u.Z.]. Göt­tin­gen: Van­den­hoeck & Ruprecht, 2014.

Rie­men, Rob: To Fight Against This Age: On Fascism and Huma­nism. New York City: WW Nor­ton & Co, 2018.

Rie­men, Rob: Asyl für Euro­pa? Die Wie­der­kehr des Faschis­mus. Wien: Turia & Kant, 2021.

Rot­ter­dam, von, Eras­mus: Das Lob der Tor­heit [1511]. Stutt­gart: Reclam, 2022. 

Schu­ma­cher, Kurt: „Der Appell an den inne­ren Schwei­ne­hund. Rede am 23.2.1932 im Deut­schen Reichs­tag (Pro­to­koll Reichs­tag, 57. Sit­zung v. 23.2.1932. S. 2254f.).“ In: Digi­ta­le Biblio­thek der Fried­rich Ebert Stif­tung, unter: https://library.fes.de/fulltext/historiker/00781a20.htm (12.08.2024)

Shake­speare, Wil­liam: As you Like it / Wie es euch gefällt. Englisch/Deutsch [1599]. Stutt­gart: Reclam, 1986.

Zima, Peter: Lite­ra­ri­sche Ästhe­tik. Metho­den und Model­le der Lite­ra­tur­wis­sen­schaft. Stutt­gart: UTB, 1995.