von Sarah Stanojevic
»Mario.«
»Y tu apellido? Also dein Nachname?«
»Mandaris.«
»Schön. Eine Alliteration. «
Ich hatte keine Ahnung, was das sein sollte, aber wie sich ihr weißes Gesicht hinauf zur Hallendecke wandte, während die Lippen meinen Namen wiederholten, zeigte mir, dass es etwas Schönes war.
Lächelnd beugte sie sich zu mir runter und das Shampoo wanderte von meiner Hand in ihre. Meine dreckigen Finger hinterließen einen Abdruck auf der Verpackung, und ich schämte mich bei dem Gedanken, dass sie sich nun auch die Hände schmutzig machen würde.
Ich streifte mit den Fingerspitzen ihren Pullover aus rauer Alpakawolle, für den sie sicher mehr ausgegeben hatte, als ich im Monat verdiente. Mit einem lässigen Schwung ihres Handgelenks warf sie die blonden Haare hinter die Schultern, packte das Shampoo in ihre Tasche und ließ mich auf der Decke voller Klopapier, Seife und Einwegrasierern zurück.
Mit unbeschwerten Schritten passierte sie Säcke voller Quinoa und Kartoffeln, lächelte den Cholitas zu, die mit aufgebauschten Röcken eingeengt hinter Kisten voller Gemüse hockten, die Hunde, die das Blut von der Schlachtbank schlabberten, ignorierte sie.
Mein Blick haftete an ihrem Rücken, bis der blonde Schopf zwischen all den schwarzhaarigen Häuptern verschwand.
»Standgenehmigung.« Ein Schlagstock baumelte an der Hüfte des Polizisten, der sich breitbeinig vor mir auftürmte. Die Haut seiner Hände war heller als meine, sein Spanisch akzentfrei.
»Un momentito por favor.« Meine Finger zitterten bei dem Versuch den Reißverschluss zu öffnen – die Tasche leer. Entschuldigend nickte ich dem Polizisten zu, raffte mich auf, setzte meine Füße auf die freien Stellen zwischen den Türmen aus Klopapier. Meine Finger glitten in die Hosentasche und zerrten ein Stück Papier hervor. Ich schüttelte das von Tinte verschmierte Knäul auf, hielt es dem Polizisten entgegen.
»Der Stand gehört meiner Mutter.« Ich versteckte meinen Kopf zwischen den hochgezogenen Schultern, heftete den Blick auf den Boden. »Sie ist krank. Ich helfe ihr.«
Der Polizist schenkte den verlaufenen Ziffern auf dem Zettel keine Beachtung, stopfte ihn in seine Tasche, seine Hand glitt an den Schlagstock, mit dem Kopf deutete er zum Ausgang.
Ich zerrte einen Karton zwischen den Regalen meines Nachbarn hervor, stopfte die Seife, das Klopapier und die Rasierer hinein, schüttelte die Decke aus, Kakerlaken flüchteten aus den Falten, und band sie mir um die Hüfte. Ich behielt den Polizisten im Auge, stolperte über den Sack aus Quinoa, das Getreide vermischte sich mit dem Dreck am Boden. Ich schlängelte mich durch die Menge bis zum Ausgang des Mercado. Der Polizist folgte mir nicht. Ich drückte die Kiste mit der einen Hand gegen den Bauch, mit der anderen Hand zählte ich in der Hosentasche die Münzen. Einhundert Bolivianos.
Mit so viel Geld könnte ich meine Familie eine Woche lang ernähren. Früher hätte es noch länger gereicht. Seitdem die Ausländer unseren Quinoa kauften, waren die Preise in die Höhe geschossen.
Mit einhundert Bolivianos könnte ich aber auch in der Stadt bleiben. Ich würde meiner Mutter erzählen, dass ich den letzten Bus verpasst hätte und mir das Geld gestohlen worden war. Wie oft kehrten Söhne mit den hart verdienten Bolivianos nach Hause, nur um auf dem Heimweg überfallen zu werden.
Aber – ich klemmte die Kiste unter den Arm und ging Richtung Busbahnhof. Touristen in kunterbunten Kleidern und Taschen voller Souvenirs standen mit ihren Stadtplänen auf dem Platz der San-Francisco-Kirche. Lachend ließen sie sich die Schuhe putzen, während sie Fotos von den vermummten Schuhputzern schossen. Die Strümpfe, die die Arbeiter über das Gesicht zogen, schützten vor den giftigen Gasen der Sprühflaschen und sorgten dafür, dass sie niemand erkannte.
An der Straße ratterten die Autos an mir vorbei, jedes einzelne Collectivo zum Bersten gefüllt mit Menschen. Abgase standen in der Luft, die hellhäutigen Touristen zogen sich die T‑Shirts über Mund und Nase. Ich wusste nicht, ob die Luft in der Stadt jemals besser gewesen war. Ich zog mein eigenes Hemd über die Nase, doch der Stoff stank so sehr, dass ich lieber wieder die Abgase roch. Seit Wochen herrschte Wasserknappheit in La Paz – niemand konnte seine Wäsche waschen. Außer die Touristen. Die schienen das Problem nicht zu haben.
Warum verbrauchten sie unser Wasser, wenn die Hunde auf der Straße verdursteten?
Ich hätte mich in das Collectivo quetschen und nach El Alto fahren können, wo es nach Scheiße roch. Meine Großmutter würde mich auf den Hinterkopf schlagen, weil ich so früh zurück war.
Oder?
Der Anblick des blonden Mädchens vor meinem inneren Auge. Nie hatte mich jemand so angelächelt. Immer wandten die Leute ihren Blick von mir ab. Sie interessierten sich, wenn überhaupt, nur für die Rasierer und Shampoos. Auch meine Großmutter nahm immer zuerst die Kiste voller Ware entgegen, um das Inventar zu zählen, bevor sie mich eines Blickes würdigte.
Meine Finger verkrampften sich um die Geldscheine, die einhundert Bolivianos, die meiner Mutter gehörten. Das Collectivo blieb ratternd vor mir stehen. Zwanzig langgezogene Gesichter blickten erschöpft hinter der Schiebetür hervor. Der Sohn des Fahrers trieb die Leute mit lauten Rufen ins Fahrzeug, pferchte sie ein wie eine Horde Alpakas.
Ich öffnete die Hände, als das Collectivo davonfuhr. Einhundert Bolivianos.
Ich fand das Mädchen zwischen Ständen voller Schals. Ihre leuchtend blauen Augen untersuchten die bunten Stoffe. Als ich sie ansprach war ich sicher, dass sie mein Herz hören musste. Mario Mandaris – diese zwei Worte verließen ihre Lippen und hörten sich schöner an, wie die Stille in den Bergen. Sie erinnerte sich an meinen Namen.
Sonja, das war ihr Name.
Sie hatte eine Freundin dabei, die mich anglotzte wie einen Eindringling. Doch obwohl sie mich scheinbar verabscheute, überredete Sonja sie zu einer privaten Stadtführung mit einem Einheimischen. Einer Stadtführung mit mir.
Ich versprach ihnen, die coolste Bar der Stadt mit Salsa-Musik und guten Cocktails. Egal was ich in meinem gebrochenen Spanisch sagte, Sonja lachte darüber. Bei jedem Kichern machte mein Herz einen Satz, und ich wollte sie wieder dazu bringen. Ich wollte alles dafür tun, dass sie bei mir blieb und ich ihr Lachen hören konnte.
Wir drängelten uns durch die Autos, die vor der Ampel warteten und ununterbrochen hupten. Auf der Treppe, die zu der Bar runter in den Keller führte, lag Müll. Ungeziefer machte sich darüber her, doch die Mädchen interessierten sich nur für die Musik, die aus dem Inneren tönte.
Die Tanzfläche war gefüllt mit Menschen. Überall weiße Haut.
Sonja und ihre Freundin strömten auf die Tanzfläche, während ich an der Bar vierundfünfzig Bolivianos für drei Bier opferte.
Und der Abend begann.
Ich hielt mich im Schatten der Bar, meine Kiste stand zu meinen Füßen und ich ließ sie nicht aus den Augen. Ich beobachtete, wie all die Touristen sich zu der Salsa-Musik bewegten, wie sie die Hüften kreisten und sie eng aneinander pressten. Sie knutschten und schienen sich gegenseitig auffressen zu wollen. So behandelte man also eine Frau?
Ich beobachtete ein Paar. Seine Hand glitt immer tiefer ihren Bauch hinab und ihre Hand krallte sich in sein T‑Shirt. Warum taten sie das unter all den Leuten?
Zwischen all den Leibern fand ich Sonja. Sie stand alleine auf der Tanzfläche, hatte die Augen geschlossen und bewegte sich zum Takt. Ich wollte zu ihr hingehen, doch ich konnte die Kiste nicht alleine lassen. Wenn sie verloren ginge …
Ein blondhaariger Kerl legte einen Arm um Sonjas Schultern. Anstatt ihn wegzustoßen tanzte sie mit ihm und lachte dabei. Dasselbe Lachen, das kurz zuvor noch mir gehört hatte.
Der Fremde würde nicht auch noch das bekommen.
Ich versteckte meine Kiste unter einer Jacke, ging ins Bad, wusch mein Gesicht, richtete im Spiegel meine Haare. Auf der Tanzfläche schritt ich auf den Blonden zu, tippte ihn an der Schulter, nickte, nahm Sonja in den Arm und sie lachte mich an. Sie lachte, als freue sie sich, weil ich sie gerettet hatte.
Und dann bewegten sich unsere Hüften in dieselbe Richtung, sie legte die Arme um meinen Hals. Noch nie war mir eine Frau so nahe gewesen.
Sonja schloss die Augen, während sie sich an mich schmiegte und in mir stand Panik. Irgendwann wäre das Lied vorbei. Irgendwann würde sie mehr wollen. Sie würde erwarten, dass meine Hand ihren Bauch hinabfuhr. Aber da waren die ganzen Leute.
»Ich muss dir etwas zeigen.«
Ihre Augen leuchteten, als ich sie hinaus auf die Straße führte. Lachend hielt sie sich an meiner Hand fest, als ich sie zwei Seitenstraßen weiter führte. Wir verschwanden im Schatten, wo uns niemand sah. Ich leitete sie an ihrer zarten Hand bis in eine Einbuchtung, wo selbst der Blick von der Straße auf uns versperrt war.
Mein Atem bebte, als ich sie mit dem Rücken zur Wand drehte. Meine freie Hand zitterte, als ich sie langsam auf Sonjas Hüfte legte. Ihr Beckenknocken stach markant ab. Meine Finger wanderten ihr Shirt hinauf. Die Einbuchtung an der Taille, die Rippenknochen, der schnelle Herzschlag, das Schulterblatt, der zarte Nacken. Ihr Körper bebte und so bebte meiner. Ihre Lippen standen leicht offen, ihr Atem hauchte über mein Gesicht. Ihre Haare, die sie mit meinem Shampoo waschen würde. Ihre Handfläche legte sich auf meine Brust, passte sich meinen Herzschlägen an.
Dann kam es wie von selbst. Ich beugte mich zu ihr runter, strich die Haarsträhne aus ihrem Gesicht, presste meine Lippen auf ihren Mund.
Der Druck auf meiner Brust wurde größer, eine Schulter quetschte sich zwischen unsere Körper, Sonjas Gesicht drehte sich von mir weg, meine Lippen streiften den Schal, sie stieß mich weg. Zum ersten Mal in dieser dunklen Gasse trafen sich unsere Blicke. Weit aufgerissene Augen, die Stirn in Falten, das Lächeln verschwunden. Ihre blonden Haare voller Dreck, der von der Mauer bröselte.
Was sollte ich sagen?
Sie sagte nichts. Sie drehte sich aus meiner Umarmung, wandte sich nicht mehr um, ihr blonder Schopf schüttelte sich voller Unverständnis, als sie davonlief, auf die beleuchtete Straße zu.
Was war gerade passiert?
Ich starrte ihr hinterher, meine Hand noch immer an der Stelle, wo ich soeben Sonja gehalten hatte.
Dann sah ich es. Es war der Dreck, der im Rinnsal lag, zwischen den die Hunde nach Müll suchten. Es war die modrige Mauer, von der Putz bröckelte. Es war die Dunkelheit, welche die eingeschlagenen Fensterscheiben wie gähnende Mäuler erscheinen ließ. Die Wäscheleinen, die zwischen den Häusern gespannt waren. Es war der Gestank nach Pisse.
Es war das, wo ich herkam und das, was ich war und doch nicht das, was ein Mädchen wie Sonja zum Lächeln brachte.
Ihr ließ ihr Vorsprung. Heftete meinen Blick auf meine Schuhe, als ich die Bar betrat und unter all den Jacken meine Kiste heraus kramte. Wenigstens hatte ich die nicht verloren.
Sarah Stanojevic, geboren 1993, begann nach einem Auslandsjahr in Australien das Studium der Geographie. Seit 2017 studiert sie an der TU München Umweltplanung und Ingenieurökologie. Schon zu Schulzeiten schrieb sie an ihrem ersten Roman, seit einigen Jahren beschäftigt sie sich zudem mit einem Buchprojekt, das aufgrund ihrer Reise nach Nepal entstand. Das Entdecken neuer Welten findet sich stets in ihren Texten wieder. Auch der Text „Einwegrasierer verkaufen in La Paz“ beruht auf eigenen Erfahrungen in Bolivien.