Embedded Poet

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Ein Gespräch mit Thomas Lehr

von Aura Heydenreich

 

“Es geht mir um die Durch­drin­gung und Kri­tik die­ser media­len Ober­flä­che, die wir aktu­ell so über­le­bens­groß ser­viert bekom­men. Ich ver­su­che, die Ereig­nis­se mit lite­ra­ri­schen Mit­teln bes­ser auf­zu­schlie­ßen. Wenn man das tut, lässt sich eine neue Tie­fen­di­men­si­on erzeugen.”

SCHAU INS BLAU: Herr Lehr, in die­sen Tagen ist Ihr neu­es­ter Roman „Sep­tem­ber. Fata mor­ga­na” erschie­nen. Nach den vor­ge­hen­den Roma­nen, die um phi­lo­so­phi­sche und poe­to­lo­gi­sche The­men krei­sen — geschichts­philosophische The­men in ihrem ers­ten Roman „Die Erhö­rung”, das Wesen der Zeit in „42″, medi­en­phi­lo­so­phi­sche Refle­xio­nen in „Nabo­kovs Kat­ze” — wen­den Sie sich im neu­en Roman einem bri­san­ten The­ma zu, dem 11. Sep­tem­­ber, der poli­tisch-mili­tä­ri­schen Vorge­schichte die­ses Anschlags und sei­nen kul­tu­rel­len Impli­ka­tio­nen. Der An­schlag auf das World Trade Cen­ter ist das medi­al prä­gen­de Ereig­nis unse­res Jahr­zehnts. Wel­che neu­en Dimen­sionen und Per­spek­ti­ven las­sen sich durch die lite­ra­ri­sche Ver­ar­bei­tung die­ses The­mas erschließen?

THOMAS LEHR: Es geht mir um die Durch­drin­gung und Kri­tik die­ser media­len Ober­flä­che, die wir aktu­ell so über­le­bens­groß ser­viert bekom­men. Ich ver­su­che, die Ereig­nis­se mit lite­ra­ri­schen Mit­teln bes­ser auf­zu­schlie­ßen. Wenn man das tut, lässt sich eine neue Tie­fen­di­men­si­on erzeu­gen. Sowohl die zeit­his­to­ri­schen Erwei­te­run­gen des Kon­flikts (so habe ich ver­sucht, die Geschich­te des Irak in den letz­ten Jahr­zehn­ten ein­zu­blen­den), als auch die avan­cier­ten Sprach­tech­ni­ken der Lite­ra­tur kön­nen dazu bei­tra­gen. Auf die­se Wei­se ergibt sich eine Chan­ce, eine viel­schich­ti­ge­re Dar­stel­lung der his­to­ri­schen Aus­ein­an­der­set­zung zu errei­chen. Was ich such­te, war — wenn ich es geho­ben aus­drü­cken dürf­te — eine Tran­szen­die­rung des aktu­el­len his­to­ri­schen Objekts. Es ist eine para­do­xe Bemü­hung, die nie zur Zufrie­den­heit gelin­gen kann, die aber einen gro­ßen Reiz hat: das zeit­ge­schicht­lich Ver­rin­nen­de gewis­ser­ma­ßen in Echt­zeit oder sehr unmit­tel­bar nach dem Ablauf der Ereig­nis­se trans­pa­rent und wahr­haf­tig darzustellen.

SCHAU INS BLAU: Ich grei­fe die Fra­ge auf, die Ihnen Flo­ri­an Felix Weyh auf dem Poe­ten­fest gestellt hat, weil ich sie in die­sem Zusam­men­hang wich­tig fin­de: Muss man sich beim Schrei­ben über die­ses kon­tro­ver­ses The­ma eine Mei­nung machen?

THOMAS LEHR: Bei „Sep­tem­ber” war es eine Selbst­über­win­dung, die­sen Stoff über­haupt anzu­ge­hen. Ich habe einen gro­ßen Wider­wil­len gehabt, mich als deut­scher Autor auf das The­ma Nah­ost ein­zu­las­sen, weil es ein­fach so kom­pli­ziert erscheint, weil man zu wenig Ahnung davon hat, weil man sich unbe­ra­ten fühlt, weil man als Deut­scher his­to­risch eine gro­ße Kom­ple­xi­tät mit allen Fra­gen ver­bin­det, die sich mit Isra­el befas­sen und man lie­ber nicht dahin schau­en möch­te. Das habe ich zu über­win­den ver­sucht, indem ich die­se Rat­lo­sig­keit an mei­ne Figu­ren wei­ter­ge­ge­ben habe. Da ist der Germanistik­professor, der sich zuvor auch nicht mit dem Nahen Osten beschäf­ti­gen will, und jetzt aber (nach dem Tod sei­ner Toch­ter im World Trade Cen­ter) einen furcht­ba­ren Grund dafür hat. So kam ich hin­ein in die­ses The­ma. Das Gute ist, dass ich so lan­ge an einem The­ma arbei­ten kann, bis das blo­ße Mei­nung­ma­chen über­wun­den ist. Ich muss­te zum Bei­spiel ver­su­chen, in einem Roman die Dia­lek­tik der Wert­ur­tei­le über den Irak­krieg ein­zu­brin­gen. Einer­seits kann man — wie ich es tue — den Irak­krieg für falsch hal­ten, weil er völ­ker­rechts­wid­rig war und mehr Elend geschaf­fen zu haben scheint als vor­her schon bestand. Ande­rer­seits zei­ge ich in mei­nem Buch auch ganz klar die Grau­en­haf­tig­keit des Sad­dam-Regimes, so dass jeder Leser erkennt, dass die­ser Krieg wenigs­tens einen Vor­teil hat­te: dass der Dik­ta­tor besei­tigt wur­de. Das sehen vie­le Ira­ker auch so. Aber vie­le glau­ben, dass der Preis zu hoch war. Ob die Ira­ker in fünf­zehn Jah­ren sagen wer­den: Die Toten zäh­len nicht mehr so viel, wir sind froh, dass wir eine Demo­kra­tie gewor­den sind? Wer weiß. Im Moment kann man das noch nicht sagen. Im Moment ist das noch nicht abge­schlos­sen. Als Roman­cier kann ich aber Figu­ren set­zen, die ihre Empö­rung, ihre Angst und ihre Mei­nun­gen äußern kön­nen. In der Viel­falt und Dif­fe­ren­zie­rung der Figu­ren­wahr­neh­mung kann sich der Roman einer gewis­sen Wahr­heit oder bes­ser: einer wahr­haf­ti­gen Dar­stel­lung der Ereig­nis­se nähern.

SCHAU INS BLAU: Durch die Rück­blen­den der Erleb­nis­se eines des Prota­gonisten, Tarik, schil­dern Sie die letz­ten fünf­zig Jah­re ira­ki­scher und vorder­asiatischer Geschich­te: vom Sechs­ta­ge­krieg, über die bei­den Golf­kriege, bis zur Ira­kin­va­si­on der U. S. A. Wie gestal­te­te sich die Recher­che zu einem solch kom­ple­xen Thema?

THOMAS LEHR: Tarik war die schwie­rigs­te Figur des Romans. Ich habe mir die­sen mitt­fünf­zig­jäh­ri­gen ira­ki­schen Arzt aus­ge­sucht, der in Frank­reich stu­diert hat, weil er über so ein kla­res und viel­fäl­ti­ges Bewusst­sein ver­fü­gen kann. Die­se Wahl hat­te für mich als Autor weit­rei­chen­de Fol­gen. Ich muss­te mir die­se Figur müh­sam erar­bei­ten. Ich muss­te sei­ne Lebens­ta­tio­nen, sei­ne Denk­sta­tio­nen rekon­stru­ie­ren, Jahr­zehnt für Jahr­zehnt. Das konn­te ich zum Teil jour­na­lis­tisch machen, durch das Stu­di­um der vor­han­de­nen Geschichts­li­te­ra­tur, sofern sie zugäng­lich war. Dann aber waren auch direk­te Dia­lo­ge mit Ira­kern von­nö­ten, um über das Buch­sta­ben­wis­sen hin­aus­zu­kom­men. Nach­dem ich mich so eini­ger­ma­ßen in die ira­ki­sche Geschich­te der letz­ten sieb­zig Jah­re ein­ge­ar­bei­tet hat­te, bin ich zu den Ira­kern gegan­gen und habe mit ihnen dar­über gespro­chen. Als sie merk­ten, dass ich rela­tiv viel über ihr Land wuss­te und äußerst neu­gie­rig war, habe ich sehr viel Reso­nanz bekom­men. Ich konn­te mit ihnen über die Geschich­te Iraks in den 60er, 70er Jah­ren in einen sehr leb­haf­ten Dia­log tre­ten, dar­aus habe ich die Figur geformt.

SCHAU INS BLAU: Die his­to­ri­schen und poli­ti­schen Ereig­nis­se nach dem 11. Sep­tem­ber und der dadurch aus­ge­lös­te Krieg sind jedoch nur eine Ebe­ne des Romans. Es gibt noch wei­te­re Dimen­sio­nen, Sie gehen gleich­zei­tig auf die frü­he hoch­kul­tu­rel­le Tra­di­ti­on Meso­po­ta­mi­ens ein und stel­len die­se in Form von frag­men­ta­ri­schen Refle­xio­nen in inne­ren Mono­lo­gen der ira­ki­schen Prot­ago­nis­ten dar. Auf wel­chem Wege fan­den Sie die­sen brei­ten, fun­dier­ten Zugang zur ira­ki­schen Kul­tur, und wie lässt sich die­se Tra­di­ti­on in Pro­sa verarbeiten?

THOMAS LEHR: Die Ver­bin­dung zu den alten geschicht­li­chen Wur­zeln liegt ja auf der Hand, man fin­det sie in fast jedem Zei­tungs­be­richt: Wenn man in den Irak ein­mar­schiert, kommt man nicht umhin, auf die Urzeug­nis­se unse­rer gemein­sa­men zivi­li­sa­to­ri­schen Wur­zeln zu sto­ßen, irgend­wann steht man in Baby­lon. So wie wir alle wis­sen, was der Köl­ner Dom bedeu­tet, so wis­sen die Ira­ker etwas über den Turm zu Babel. Die­se Din­ge sind nicht nur leben­dig, son­dern sie sind auch im Irak stän­dig Gegen­stand des Selbst­bil­des — also muss­te ich mich damit beschäf­tigen. Die Aus­ein­an­der­set­zung mit der älte­ren Ver­gan­gen­heit des Irak kann man viel leich­ter füh­ren, weil die wis­sen­schaft­li­che Lite­ra­tur hier­für viel umfas­sen­der und viel abge­klär­ter ist. So kann man sich rela­tiv gut ein­ar­bei­ten in halb­wegs soli­de recher­chier­te his­to­ri­sche Hin­ter­grün­de. Die sind ein­fa­cher zugäng­lich als das, was in den letz­ten fünf­zig Jah­ren dort pas­siert ist.

SCHAU INS BLAU: Sie hat­ten ange­deu­tet, dass Sie die Figu­ren bewusst ausge­wählt haben. Es fällt natür­lich auf, dass es kul­tu­rel­le Grenz­gän­ger sind: Mar­tin, der deutsch-ame­ri­ka­ni­sche Lite­ra­tur­wis­sen­schaft­ler, und Tarik, der ira­ki­sche Arzt, der in Paris stu­diert hat. Gleich­zei­tig fin­de ich die Idee span­nend, den Bewusst­seins­strom der Figu­ren als per­ma­nen­ten west-öst­li­chen Dia­log zu insze­nie­ren, so dass die Figu­ren stets teils ver­su­chen, sich in die Kul­tur der Ande­ren hin­ein­zu­den­ken, teils ver­su­chen, das eige­ne Leben, die eige­ne Kul­tur zu vermitteln.

THOMAS LEHR: Das Grund­the­ma der kul­tu­rel­len Grenz­gän­ger schien mir aufschluss­reich, weil ich damit auch zei­gen konn­te, dass die­se Kul­tu­ren viel mit­ein­an­der zu tun haben. Über die gemein­sa­men Schnitt­flä­chen kann man ein Ver­ständ­nis ent­wi­ckeln. Auch die Ame­ri­ka­ner sind uns oft fremd. Und wenn man sich einen Deutsch-Ame­ri­ka­ner vor­stellt, einen Deut­schen, der eine ame­ri­ka­ni­sche Frau gehei­ra­tet und ein deutsch-ame­ri­ka­ni­sches Kind hat, dann hat man plötz­lich einen sehr inni­gen Zugang zur Selbst­de­fi­ni­ti­on Nord­ame­ri­kas oder zu der Bos­to­ner Sze­ne­rie, in der Mar­tin lebt, zu die­sem Urame­ri­ka. Man wird durch die Figur ganz auto­ma­tisch in die­ses Milieu hin­ein­ge­führt. Und da ist auf der ande­ren Sei­te eine Figur wie Tarik, die drei Spra­chen spricht und in Euro­pa stu­diert hat. Men­schen wie er sind über­haupt nicht sel­ten. Unter dem Sad­dam Regime sind schon Hun­dert­tau­sen­de geflo­hen, die­se Intel­lek­tu­el­len sind gewis­ser­ma­ßen welt­weit ver­brei­tet. Ande­rer­seits war ich auch in den U.S.A. und habe mich mit etli­chen Pro­fes­so­ren unter­hal­ten, die eine ganz ähn­li­che Geschich­te wie Mar­tin haben. Ich mei­ne, an die­sen Grenz­gän­ger-Figu­ren ist gar nichts Künst­li­ches. Es gibt sie ein­fach, und sie haben sehr auf­schluss­rei­che Perspektiven.

SCHAU INS BLAU: Mar­tin, der Prot­ago­nist, ver­liert beim Anschlag auf das World Trade Cen­ter sei­ne Ex-Frau und sei­ne Toch­ter. Dadurch ver­la­gert sich der Schwer­punkt sei­ner For­schun­gen weg von Goe­the und dem 19. Jahrhun­dert und hin zu den Hin­ter­grün­den des Atten­tats. Er geht den fun­da­men­ta­len kul­tu­rel­len Dif­fe­ren­zen zwi­schen der west­li­chen und der öst­li­chen Kul­tur nach — wobei die­se ein­fa­che Dichoto­mie bei nähe­rer Betrach­tung gar nicht auf­recht zu erhal­ten ist. Hart­nä­ckig stellt er sich die Fra­ge: „War­um has­sen sie uns?” Nun ist der lite­ra­ri­sche Text sicher­lich nicht dazu da, ein­fa­che Ant­wor­ten zu geben, son­dern steht eher dafür, die unge­lös­ten Pro­ble­me in ihrer Kom­ple­xi­tät auf­zu­zei­gen. Wel­che Defi­zi­te des inter­kul­tu­rel­len Dia­logs waren Ihnen in die­sem Zusam­men­hang wichtig?

THOMAS LEHR: Mir kam es eher dar­auf an, die huma­ni­tä­ren Gemein­sam­kei­ten zu ent­de­cken und von dort aus auf Unter­schie­de hin­zu­wei­sen, die haupt­säch­lich in den sozio­kul­tu­rel­len Lebens­um­stän­den lie­gen. Ein Arzt wie Tarik in Bag­dad hat ein ande­res Leben als ein Arzt in Mas­sa­chus­sets. Und das habe ich ganz kon­kret gezeigt, mit Beschrei­bun­gen, die ich ver­sucht habe, mög­lichst genau zu machen.

SCHAU INS BLAU: Der Roman for­mu­liert auch eine Kri­tik an macht­politischen Ver­hält­nis­sen in den U. S. A. und ent­larvt die Dis­kre­panz zwi­schen der man­geln­den poli­ti­schen Legi­ti­ma­ti­on des Krie­ges und den Stra­te­gien der Regie­rung, die­se feh­len­de Legi­ti­ma­ti­on zu kom­pen­sie­ren: Die media­le Mani­pu­la­ti­on, getarnt als sach­lich-objek­ti­ve Information.

THOMAS LEHR: Das Ver­hält­nis zwi­schen dem Ereig­nis und des­sen media­ler Reprä­sen­ta­ti­on ist gera­de in den Irak­krie­gen zwei­mal zum wich­ti­gen The­ma gewor­den. Zum einen gab es die strik­te Gän­ge­lungs­po­li­tik im Golf­krieg 1991, in dem die Jour­na­lis­ten gemaß­re­gelt und mit Scheu­klap­pen ver­se­hen wur­den oder auch zum Teil abge­straft, wenn sie es wag­ten, etwas ande­res zu fil­men, als man ihnen vor­gab. So hat man sie dann im nächs­ten Krieg mit dem „embed­ding-Kon­zept” auf eine raf­fi­nier­te­re Wei­se ein­ge­bun­den, man hat ihnen ver­spro­chen, dass sie alles tun dürf­ten, in jede Akti­on ein­ge­bet­tet sein wür­den, weil man wuss­te, dass man eine neue media­le Stär­ke schaf­fen muss­te. Dadurch sind natür­lich auch wie­der Chi­mä­ren ent­stan­den. Gera­de durch die­ses neue „embedding”-Konzept fokus­sier­te sich die media­le Bericht­erstat­tung dar­auf, wie es in den alli­ier­ten Trup­pen zuging, denn die Jour­na­lis­ten waren in die ame­ri­ka­ni­schen Trup­pen ein­ge­bet­tet und nicht in die ira­ki­sche Bevöl­ke­rung. Ob das beab­sich­tigt war oder nicht, blie­be zu unter­su­chen. Auch das woll­te ich kon­ter­ka­rie­ren, indem ich mich selbst in ira­ki­sche Figu­ren hin­ein­ver­setz­te. Es ging mir dar­um, den Kon­flikt aus ver­schie­de­nen Per­spek­ti­ven bei­der Kul­tu­ren zu schil­dern, also durch das erwei­ter­te poe­ti­sche „embed­ding” das gesteu­er­te poli­ti­sche „embed­ding” aufzuheben.

SCHAU INS BLAU: Im Roman ist zu beob­ach­ten, wie die Figu­ren stets nach logisch nach­voll­zieh­ba­ren Begrün­dun­gen für die­sen Krieg suchen und wie sie ver­su­chen, sich Zuver­sicht ein­zu­re­den, dass es für die Zeit nach der Inva­si­on einen Wie­der­auf­bau­plan geben wird. Und wenn man im Ver­gleich fest­stellt, wie unvor­be­rei­tet das Verteidigungs­ministerium der größ­ten mili­tä­ri­schen Macht bezüg­lich der Wie­der­auf­bau­stra­te­gie war: Es fehl­ten tie­fe­re Ein­sich­ten in die Geschich­te der eth­ni­schen Kon­flik­te Iraks, es fehl­te die genaue­re Kennt­nis der poli­tisch-kul­tu­rel­len Zusam­men­hän­ge, es fehl­te der Wil­le zum Schutz kul­tu­rel­ler Denkmäler…

THOMAS LEHR: Es ist sehr wich­tig zu ver­ste­hen, wie das zustan­de kam. Das konn­te ich im Roman nicht so aus­führ­lich dar­stel­len. Ich habe ver­sucht, es im Kapi­tel, das ich „Embedded Pre­si­dent” über­schrie­ben habe, nach­zu­voll­zie­hen: die Mecha­nik der Admi­nis­tra­ti­on in einer der mäch­tigs­ten Demo­kra­tien der Welt. Ich bin der Fra­ge nach­ge­gan­gen, an wel­chen Stel­len sie in ihren Mecha­nis­men unde­mo­kra­tisch wird, und wie das denn eigent­lich funk­tio­niert, dass so eine geschei­ter­te Poli­tik zustan­de kommt. Das hat mich inter­es­siert: die Mecha­nik der Macht. Ame­ri­ka ist eine Demo­kra­tie. Wir in der Demo­kra­tie müs­sen begrei­fen, wie das funk­tio­niert, um Wie­der­ho­lun­gen zu verhindern.

SCHAU INS BLAU: Das Kon­zept des „embedded jour­na­lism” sug­ge­rier­te nach außen Authen­ti­zi­tät und Objek­ti­vi­tät, war davon aber weit ent­fernt — nichts ande­res als „Hof­kriegs­be­richts­er­stat­tung”. Ihr Roman setzt sich damit kri­tisch aus­ein­an­der, dass das trans­por­tier­te Bild vom Krieg höchst selek­tiv ist. Das bre­chen Sie auf, indem Sie zei­gen, dass es vie­le Facet­ten gibt, die in den media­len Reprä­sen­ta­tio­nen der Macht, die Krieg führt, unbe­rück­sich­tigt blieben.

THOMAS LEHR: Ich habe ver­sucht, das im Buch deut­lich zu the­ma­ti­sie­ren und den Blick­win­kel zu öff­nen. Das ist für mich eine genui­ne Auf­ga­be von Lite­ra­tur. Des­we­gen fin­de ich, dass die gro­ßen lite­ra­ri­schen Kunst­wer­ke alle Sach­bü­cher, zum Teil auch wis­sen­schaft­li­chen Wer­ke und erst recht die jour­na­lis­ti­schen Publi­ka­tio­nen über­le­ben kön­nen, weil sie die Brei­te die­ses Blicks haben und das Ereig­nis ins­ge­samt in einer bestimm­ten Art und Wei­se wahr­haf­ti­ger dar­stel­len kön­nen. Wenn sie groß sind als Lite­ra­tur, dann sind sie das, weil sie den Blick öff­nen, weil sie die Scheu­klap­pen weg­neh­men, weil sie bei­de Sei­ten dar­stel­len und weil sie wenigs­tens den Ver­such unterneh­men, sich aus die­sen gesteu­er­ten Ver­blen­dungs­zu­sam­men­hän­gen herauszuarbeiten.

SCHAU INS BLAU: Eine Fra­ge zum Ver­hält­nis der Ori­en­t­re­zep­ti­on zur Zeit Goe­thes — die im Roman ja auch eine gewis­se Rol­le spielt — und der heu­ti­gen Ori­en­t­re­zep­ti­on. Spiel­ten Saids Kri­tik am west­li­chen Ori­ent­bild als kul­tu­rel­les Kon­strukt und die dar­an anschlie­ßen­den post­ko­lo­nia­len Stu­di­en eine Rol­le für die Kon­zep­ti­on des Romans?

THOMAS LEHR: Bei Goe­the stellt man eine der frü­he­ren Beschäf­ti­gun­gen mit dem Ori­ent fest. Der soge­nann­te Ori­en­ta­lis­mus beginnt mit einem kräf­ti­gen Miss­ver­ste­hen des Ori­ents, das ist das, was Said klar und pla­ka­tiv zusammen­gefasst hat. Ich rekur­rie­re immer dar­auf, weil der Roman „Septem­ber” durch­zogen ist von einem his­to­ri­schen Grund­ver­gleich: Ich ver­glei­che die frü­he­re Beherr­schung der ara­bi­schen Welt durch die euro­päi­schen Kolonial­mächte und die rezen­te­re Okku­pa­ti­on durch die U.S.A. mit der Sze­ne­rie zu Goe­thes Zei­ten, als die ver­meint­lich fort­schritt­li­che Macht Napo­le­ons ganz Euro­pa über­roll­te, und las­se die Figu­ren dar­über reflek­tie­ren (es gibt einen Satz im Roman, in dem es heißt: „Goe­the war Ara­ber”). Goe­the hat­te ein bestimm­tes Bild von Napo­le­on, das nicht unbe­dingt rich­tig war oder sagen wir: nicht frei von Zügen der blo­ßen Bewun­de­rung der Macht und der ver­meint­li­chen his­to­ri­scher Grö­ße. Eben­so wird das Goe­the­sche Ori­ent­bild im Roman iro­nisch gebro­chen. Es gibt Momen­te, in denen Mar­tin den gesam­ten Orient­kitsch betrach­tet, der da auf­ge­häuft wird, die Musselin­kränzchen und das Baja­de­ren-Lied Mari­an­nes etce­te­ra. Der Ori­en­ta­lis­mus, der im spä­te­ren 19. Jahr­hun­dert noch kit­schi­ger und blü­mer­an­ter wird, nimmt hier sei­nen Anfang. Wobei man ande­rer­seits auch sagen muss, dass Goe­thes Beschäf­ti­gung auch sehr tief­ge­hend ist und haupt­säch­lich über die Spra­che erfolgt. Er zieht sich irgend­wel­che ori­en­ta­li­schen Kos­tü­mie­run­gen an und dringt gleich­zei­tig wie kein ande­rer in die ori­en­ta­li­sche Dich­tung ein.

SCHAU INS BLAU: Sie wer­fen einen iro­ni­schen Blick auf die Figur Goe­thes und auf den Goe­the­kult, so fin­den sich in Ihrem Roman Anspie­lun­gen auf Tho­mas Manns „Lot­te in Wei­mar” oder auf Mar­tin Walsers „Ein lie­ben­der Mann”.

THOMAS LEHR: „Lot­te in Wei­mar” zitie­re ich, denn das hät­te Mar­tin ger­ne gemacht, so was Ähn­li­ches wie Tho­mas Mann in sei­nem schö­nen Roman. Das sind Anklän­ge für Leu­te, die bele­sen sind, die zwi­schen den Zei­len lesen kön­nen. Viel­leicht ist es auch Selbst­kri­tik, die dann impli­zit kommt, weil ich den­ke, egal wie man das macht, wird in drei­ßig Jah­ren jemand die Kli­schee­haf­tig­keit oder Bor­niert­heit mei­ner eige­nen Sicht ent­de­cken. Es ging mir dar­um, zu zei­gen, was an Goe­thes Zugriff einer­seits so groß­ar­tig war und was ande­rer­seits lächer­lich war, und dass man das eine von dem ande­ren kaum wird tren­nen können.

SCHAU INS BLAU: Mar­tin, der Roman­prot­ago­nist, schreibt an einem Buch über Goe­thes Frau­en: Im Mit­tel­punkt steht die Epi­so­de mit Mari­an­ne von Wil­le­mer von 1815, die für die Ent­stehungs­geschichte des „West-Öst­li­chen Diwans” wich­tig wer­den soll­te. Spielt das chif­frier­te Liebeszwie­gespräch zwi­schen Hatem und Sulei­ka im „West-Öst­li­chen Diwan” — ein Spiel der Mas­ken und Verwand­lungen — für die Schreib­wei­se und Struk­tur Ihres Romans eine Rol­le? Denn auch die Prot­ago­nis­ten Ihres Romans neh­men in mono­lo­gi­schen Zwie­ge­sprä­chen sehr sub­til wech­sel­sei­tig Bezug aufeinander.

THOMAS LEHR: Ja, ich habe eini­ges aus dem Diwan über­nom­men: Das eine, Grund­le­gen­de, ist das dia­lo­gi­sche Prin­zip. Als Goe­the anfing zu lesen und sich mit dem The­ma zu beschäf­ti­gen — er begann eigent­lich mit der Koran­lek­tü­re in frü­hen Jah­ren — , schrieb er, dass er sich „pro­duk­tiv” gegen­über der ori­en­ta­li­schen Dich­tung ver­hal­ten müs­se. Er konn­te nicht ein­fach Hafis lesen und absor­bie­ren, wie es ein Leser oder Wis­sen­schaft­ler getan hät­te, son­dern er muss­te selbst in der vor­ge­fun­de­nen Manier dich­ten. Damit hat er einen Dia­log in der Lyrik begon­nen. Er zitiert im Diwan sowohl Hafis als auch die Gedich­te, von denen wir heu­te wis­sen, dass sie von Mari­an­ne von Wil­le­mer stam­men, ohne das kennt­lich zu machen. Er fängt also an, ein Werk dia­lo­gisch auf­zu­bau­en. Die­ses dia­lo­gi­sche Prin­zip war für mich der Urge­dan­ke mei­nes eige­nen Buches, so bin ich auf den Dia­log als Struk­tur­prin­zip gekom­men. Ich haben die Figur Tarik erfun­den, so wie Goe­the sich den Hafis als Part­ner aus­er­se­hen hat. Er hat sich ja selbst Hatem genannt, er hat sich ver­klei­det, um sich in die ande­re Kul­tur zu trans­por­tie­ren. Man könn­te den­ken, dass mein Held Mar­tin etwas Ähn­li­ches macht, indem er unter Umstän­den sei­nen Anti­po­den, Tarik, erfin­det. Durch die Ver­klei­dung macht man den ers­ten Schritt zu einer Art von kul­tu­rel­ler Meta­mor­pho­se und beginnt zu lernen.

SCHAU INS BLAU: Sie sag­ten, dass zum Pro­duk­ti­ons­pro­zess des Romans sehr vie­le Dia­lo­ge mit ira­ki­schen Bür­gern gehör­ten. Die­ses hat sich nieder­geschlagen in Figu­ren, die aus­schließ­lich inne­re Mono­lo­ge füh­ren. Doch das Inter­es­san­te ist, dass die inne­ren Mono­lo­ge immer dia­lo­gisch struk­tu­riert sind. Die Figu­ren reflek­tie­ren über die eige­ne Kul­tur, aber gleich­zei­tig auch über die Kul­tur der Ande­ren, der (noch) Frem­den. Die nur schein­bar para­do­xe Simul­tanei­tät des Dia­lo­gi­schen im Monologi­schen scheint mir ein wich­ti­ges Struk­tur­prin­zip des Romans zu sein.

THOMAS LEHR: Es ist fast eine phi­lo­so­phi­sche Grund­tat­sa­che, die man zum Bei­spiel auf Hegel zurück­füh­ren kann: Die Selbst­er­kennt­nis ist nur im Dia­log mög­lich. Wenn Sie wol­len, ist das auch der mora­li­sche Tief­gang die­ses Buchs, den habe ich auch expli­ziert in mei­nen Vor­ar­bei­ten, indem ich sag­te: Wenn das Buch etwas leh­ren will, dann ist es das Hegel­sche Kon­zept, dass die Gewin­nung der eige­nen Sub­jek­ti­vi­tät nur durch die Aner­ken­nung des Ande­ren mög­lich ist. Mit die­ser Ein­sicht endet schon „Nabo­kovs Kat­ze”, und mit die­ser Ein­sicht habe ich auch wei­ter geschrie­ben. Die Figu­ren in „42? haben die Mög­lich­keit zu die­sem Dia­log nicht mehr und des­halb wird ihr Leben sinn­los. In „Sep­tem­ber” ist der Dia­log die Vor­aus­set­zung der Defi­ni­ti­on der eige­nen Kul­tur. Es sind fast tri­via­le Erkennt­nis­se, aber wenn man sie wirk­lich ernst nimmt und in dem Kon­flikt der Kul­tu­ren beob­ach­tet, erwei­sen sie sich als substantiell.

SCHAU INS BLAU: Auch in „Sep­tem­ber” ist — wie in „42? — die erzähl­tech­ni­sche Zeit­ge­stal­tung vir­tu­os. Das zen­tra­le Ereig­nis, der Anschlag auf das World Trade Cen­ter, wird erst nach den ers­ten 140 Sei­ten geschil­dert. Doch der Erzähl­fa­den bewegt sich nicht direkt auf das Ereig­nis zu, son­dern ent­hält vie­le Vor­aus­deu­tun­gen und Rück­blen­den sowie ein stän­di­ges Chan­gie­ren zwi­schen pro­spek­ti­vem und retro­spek­ti­vem Erzäh­len. Wie kon­zi­pie­ren Sie Ihre Tex­te? Man merkt ihnen an, dass sie bis ins Detail durch­kom­po­niert sind.

THOMAS LEHR: Ich bin kein Autor, der für jeden Abschnitt fünf Fas­sun­gen schreibt, ich bin eher jemand, der beim Schrei­ben denkt. Ich ver­su­che mög­lichst viel zu pla­nen, das heißt, dass die Struk­tur mög­lichst schon von vorn­her­ein aus­ge­dacht ist. Ich habe regel­rech­te Plan­pha­sen, in denen ich drei, vier Wochen kei­ne Zei­le schrei­be, son­dern nur Plä­ne mache. Dadurch kommt auch die Tie­fen­di­men­si­on der Struk­tur zustan­de. Für mich ist die Archi­tek­tur eines Romans eine wich­ti­ge Arbeit, die ich am Anfang hass­te, aber mitt­ler­wei­le ger­ne mache. Ich den­ke mir die Sta­tik eines Buches ger­ne vor­her aus und dann hat es schon in der Anla­ge die Mög­lich­keit, raf­fi­nier­ter zu wer­den. Dann ver­su­che ich beim Schrei­ben den Pro­zess selbst auch theore­tisch zu fas­sen und ver­su­che immer wie­der Pau­sen ein­zu­le­gen, in denen ich das Buch reflek­tie­re. So kommt es zu so einer Ver­äs­te­lung der Struk­tur, indem ich fast immer ver­su­che, neben­her auch zu den­ken, wenn ich schrei­be. Das ver­lang­samt manch­mal den Schreib­prozess, das ist der gro­ße Nach­teil dabei. Ich kann dann oft zwei, drei Mona­te lang nicht viel Mate­ri­al erzeu­gen. Es hat aber den Vor­teil, dass ich gar nicht so vie­le Fas­sun­gen benö­ti­ge. Das Buch ent­steht in der ers­ten Ver­si­on meis­tens in der inten­dier­ten Kom­ple­xi­tät.
Tech­nisch schreibt es sich unter­schied­lich. So sind zum Bei­spiel die Abschnit­te im „Sep­tem­ber”, die­ses Alter­nie­ren zwi­schen den Kul­tu­ren, spä­ter zu­sa­m­men­gefügt wor­den. Da habe ich oft ein gan­zes Jahr lang nur auf der einen Sei­te Sze­nen geschrie­ben, und dann auf der ande­ren Sei­te, und dann habe ich die Sze­nen inein­an­der gescho­ben. Da ist natür­lich auch sehr viel kom­po­si­to­ri­sche Arbeit nötig, und da muss man auch recht viel kor­ri­gie­ren, weil die Tei­le nicht unbe­dingt so ein­fach zusammenpassen.

SCHAU INS BLAU: Zur for­ma­len Kon­zep­ti­on gehört auch, dass der Roman ohne Inter­punk­ti­on aus­kommt und die damit ein­her­ge­hen­de rhyth­mi­sche Kühn­heit der syntak­tischen Kon­struk­tio­nen, die in Ihrem Werk in die­ser Form neu­ar­tig sind. Ich neh­me an, dass die­se mit dem The­ma und dem Inhalt eng zusammenhängen.

THOMAS LEHR: Der Aus­gangs­punkt des Tex­tes war das Betroffen­sein von dem Anschlag im World Trade Cen­ter und von dem sich dar­aus fast zwangs­läu­fig anbah­nen­den Irak-Krieg. Dann kam auch ein Erschre­cken darü­ber, dass ich das wohl tat­säch­lich lite­ra­risch ange­hen wür­de. Die Form, wie ich das ange­hen könn­te, schien mir nur mög­lich als mög­lichst freie, mö­glichst asso­zia­ti­ve oder medi­ta­ti­ve Art. So schnell nach Ablauf der Ereig­nis­se schon einen gro­ßen rea­lis­ti­schen Roman zu schrei­ben, schien mir unmög­lich. Ich brauch­te einen direk­te­ren Zugang und gleich­zei­tig auch einen distanzie­renden Zugang. Und dann kam die­se Visi­on auf, die im Unter­ti­tel des Romans jetzt steht, die der Fata Mor­ga­na, der Luft­spie­ge­lung. Das beschreibt die Art und Wei­se, in der sich in mei­nem Hirn das Gan­ze abspiel­te, in der sich die­se Ereig­nis­se wider­spie­gel­ten. Was ich unter­nahm, war die Medi­ta­ti­on eines Künst­lers über ein sehr nahe lie­gen­des, noch gar nicht zu bewäl­ti­gen­des zeit­ge­schicht­li­ches The­ma. So for­mu­lier­te ich mei­ne künstleri­sche Idee, die Medi­ta­ti­on oder Visi­on als ein­zi­ge Art und Wei­se, das The­ma in sol­cher his­to­ri­scher Nähe anzu­ge­hen. Im Wider­streit zu einer bestimm­ten Art von Jour­na­lis­mus glau­be ich über­haupt nicht dar­an, die Wahr­heit fas­sen zu kön­nen, son­dern bin vol­ler Skru­pel. Als ich dann ange­fan­gen hat­te, die beson­de­re Spra­che des Romans zu ent­wi­ckeln, eine stark rhyth­mi­sier­te und zugleich flie­ßen­de und leuch­ten­de, dia­lo­gi­sche Spra­che, habe ich all­mäh­lich ihre Vor­tei­le und ihren tie­fe­ren Sinn erkannt.

SCHAU INS BLAU: Wie ist es, wenn man im Pro­zess des Schrei­bens eine sol­che Para­do­xie zu bewäl­ti­gen hat: Einer­seits die Beschrei­bung der Zer­stö­run­gen, der Wut, der Ver­zweif­lung und Ent­täu­schung der Men­schen, des Todes, der an allen Ecken lau­ert, sei es durch Atten­ta­te oder durch den Man­gel an Medi­ka­men­ten, und ande­rer­seits Ihre küh­nen poe­ti­schen Bil­der mit über­ra­schen­den metapho­rischen Wen­dun­gen und einer beein­dru­cken­den Musi­ka­li­tät der Spra­che, die an man­chen Stel­len an Cel­ans „Todes­fu­ge” erin­nert. Emp­fin­den Sie das als ein Para­dox, die Ästhe­tik des Grauens?

THOMAS LEHR: Der Geni­tiv wäre falsch. Ich ver­su­che kei­ne Ästhe­tik des Grau­ens, son­dern ich ver­su­che eine Ästhe­tik im Grau­en. Es wird näm­lich in die­sem Roman rela­tiv wenig Grau­en geschil­dert. Es gibt wenig Kriegs­hand­lung. Wenn man den Roman anschaut, dann fällt eines auf: Er hat drei Tei­le und er spielt immer im Sep­tem­ber: das Jahr 2001, das Jahr 2002 und das Jahr 2004 wer­den geschil­dert, ich über­sprin­ge das eigent­li­che Kriegs­jahr 2003 und erzäh­le die Kriegs­gräu­el dann als Rück­blen­den, um die Flä­chen zu mini­mie­ren, an denen das eigent­li­che Grau­en über­haupt erzählt wird. Das heißt, ich beschäf­ti­ge mich gar nicht lang und breit mit der Dar­stel­lung von Grau­en, auch nicht mit der Ästhe­ti­sie­rung von Grau­en. Es ist eher ein Auf­fin­den von sprach­li­cher Schön­heit in einem The­ma oder in einer Umwelt, die grau­en­haft ist. Ohne dass ich das Grau­en so genau schil­de­re, begreift man unwill­kür­lich den Stress, dem die Men­schen im Irak unter­wor­fen sind und dem auch die Ange­hö­ri­gen des Opfers des Atten­tats auf das World Trade Cen­ter aus­ge­setzt sind. Die Spra­che soll man fast als The­ra­peu­ti­kum emp­fin­den, als Mög­lich­keit, den Dia­log zu füh­ren und als Mög­lich­keit der Ver­ar­bei­tung des Grau­ens. Da haben mich auch wie­der die lite­ra­ri­schen Vor­bil­der geführt. Mein Vor­bild ist Homer. Nun, das wird jeder Schrift­stel­ler sagen, aber man muss ihn auch ernst neh­men, und wenn man Homer ernst nimmt, bei die­sem The­ma wirk­lich ernst nimmt, dann lernt man zwei Din­ge, die ele­men­tar sind. Das eine ist das dia­lo­gi­sche Prin­zip: Wenn man einen Krieg erzäh­len will und wenn man ihn fas­sen möch­te, dann muss man bei­de Sei­ten dar­stel­len, sowohl die Tro­ja­ner als auch die angreifen­den Achai­er. Und zwei­tens, dass es mög­lich ist, das Kriegs­geschehen durch eine sehr streng geform­te rhyth­mi­sche Spra­che für den Leser erträg­lich zu machen. Es ist mög­lich, in die­se Din­ge hin­ein­zu­ge­hen und sie zu über­le­ben, weil einem die­se rhyth­mi­sier­te und for­ma­li­sier­te Spra­che hilft, damit umzu­ge­hen. Die­se bei­den Leh­ren kann ich direkt auf die „Ili­as” zurückführen.

SCHAU INS BLAU: Gleich­zei­tig ist der Roman ein­ge­bet­tet in wei­te­re grundle­gende kul­tu­rel­le Dis­kur­se auch jen­seits Homers: Es gibt unzäh­li­ge inter­tex­tu­el­le Anspie­lun­gen auf die Dich­tung Hafis, auf das Gil­ga­mesch-Epos, auf Emi­ly Dick­in­son oder Walt Whit­man. Der Pro­sa­text, selbst in einer über­wäl­ti­gen­den poe­ti­schen Spra­che ver­fasst, wird durch lyri­sche Tex­te unter­bro­chen, die wie Intar­si­en ein­mon­tiert sind. Wel­che Funk­ti­on haben die lyri­schen Tex­te im Roman? Es scheint mir, als wür­den sie am Ende jedes ein­zel­nen Abschnitts des­sen Quint­essenz dia­lo­gisch reflektieren.

THOMAS LEHR: Ich war durch den „West-Öst­li­chen Diwan” schon grun­diert. Eine der literari­schen Foli­en, von denen ich gelernt habe, mit denen ich in das The­ma hinein­fand, war eben eine lyri­sche Quel­le, und schon daher lag die Lyrik nahe. Und dann habe ich gelernt, dass die lyri­sche Form in der ara­bi­schen Kul­tur die höchs­te Form der sprach­li­chen Kunst ist und dass die Lyrik den Ara­bern viel mehr bedeu­tet als die Pro­sa. Sie haben hier eine viel grö­ße­re Tra­di­ti­on. Daher lag das Lyri­sche nahe und des­halb habe ich auch mit dem lyri­schen Zugriff ange­fan­gen, die­ses dia­lo­gi­sche Prin­zip zu durch­den­ken. Ich merk­te, dass mei­ne Pro­sa selbst ohne­hin einen grenz­ly­ri­schen Gang führt, selbst in Tex­ten, die nicht so gestal­tet sind wie „Sep­tem­ber”. Das gilt auch für mei­ne ande­ren Tex­te, das trifft auch für „42? zu. Das heißt, mei­ne Pro­sa nähert sich in ihrem Bewusst­sein und in ihrer Rhyth­mik ohne­hin schon immer der Lyrik, und hier habe ich das ein­fach wei­ter fort­ge­spon­nen. Zum Teil hat es ganz per­sön­li­che Grün­de gehabt: Mich hat die Lyrik getrös­tet bei der jah­re­lan­gen Beschäf­ti­gung mit Blut und Schre­cken. Dann dach­te ich, dass Lyrik nicht nur für den Autor ein Trost sein kann, son­dern sie trös­tet auch die exis­tie­ren­den Men­schen, auch die Ara­ber im Krieg. Wenn ein Lyri­ker in Damas­kus zu einer Lyri­k­le­sung ein­ge­la­den wird, dann kom­men 300 Men­schen. Die Ge­dichte wer­den vor­ge­sun­gen. Und selbst wenn es den Men­schen schlecht geht, hat die Lyrik für sie einen fest­li­chen und sehr wich­ti­gen Cha­rak­ter. Und dann habe ich gemerkt, dass ich es noch stär­ker ver­tie­fen muss­te, denn die Grund­stim­men der Völ­ker, das sind eben die lyri­schen. Des­halb habe ich Lyri­ker­stim­men zitiert, die sehr bekannt sind und die den Nationalcha­rak­teren der bei­den Völ­ker sehr nahe ste­hen, die das Wesen die­ser Kul­tu­ren zum Aus­druck brin­gen. Die­se Stim­men ste­hen in einem merk­wür­di­gen Dia­log mit­ein­an­der. Wenn man sich damit näher beschäf­tigt, dann fin­det man eine Kühn­heit bei Emi­ly Dick­in­son, die auch Abu Nuwas hat­te. Das hat mich fas­zi­niert. Es ist, als wäre der Dia­log schon da, in der Lyrik. Dann wird zum Bei­spiel auch Ado­nis zitiert. Ado­nis hat lei­den­schaft­lich Walt Whit­man gele­sen. Die­ser Dia­log fin­det statt, in den Köp­fen der leben­den Lyri­ker zum Beispiel.

SCHAU INS BLAU: Es ist umso wich­ti­ger, auf die­se Form des kul­tu­rel­len Dia­logs in der Lite­ra­tur hin­zu­wei­sen, als die ein­sei­ti­ge Dia­gno­se Hun­ting­tons vom Kampf der Kul­tu­ren den media­len Dis­kurs viel zu lang beherrscht hat. Wenn man einem sol­chen Roman und sei­nen zugrun­de lie­gen­den Prä­tex­ten nach­geht, dann merkt man, dass es nur eine Sei­te der Medail­le ist, und dass es viel mehr Kor­re­spon­den­zen und Berüh­run­gen, gibt, auf die Sie hinweisen.

THOMAS LEHR: Mir kam es schon dar­auf an, und das habe ich sehr schnell gelernt, dass die Ähn­lich­kei­ten grö­ßer sind als die Unter­schie­de. Man muss die Ähn­lich­kei­ten nur erken­nen wol­len, dann gibt es sehr vie­le Möglich­keiten, Dia­lo­ge zu füh­ren. Es gibt eini­ge dras­ti­sche Unter­schie­de, aber die sind nicht der­art, dass nicht ein sehr gedeih­li­ches Mit­ein­an­der mög­lich wäre.

SCHAU INS BLAU: Sie hat­ten in einem frü­he­ren Inter­view gesagt, dass Ihnen bei der Kon­zep­ti­on des Roma­nes „42? die Ver­qui­ckung kom­ple­xer naturwissen­schaftlicher Theo­rien und phi­lo­so­phi­scher The­men mit einer anspruchs­vol­len poe­ti­schen Spra­che zunächst als eine Zumu­tung an den Leser, danach der ein­zig gang­ba­re Weg erschien. Die for­ma­le Kon­struk­ti­on in „Sep­tem­ber” scheint mir noch küh­ner zu sein, durch die feh­len­de Inter­punk­ti­on und durch den Vers­cha­rak­ter man­cher Pro­sa­zei­len. Ein­zel­ne Wör­ter im Satz wer­den betont, indem sie — wie Ver­se — iso­liert in ein­zel­nen Text­zei­len ste­hen und durch Enjam­be­ments an poe­ti­schem Gewicht gewin­nen. Die her­kömm­li­chen Gat­tungs­gren­zen zwi­schen Lyrik und Pro­sa schei­nen auf­ge­ho­ben zu sein. So merkt man mit jedem neu erschie­ne­nen Roman eine Ent­wick­lung des Stils und das per­ma­nen­te Rin­gen um neue poe­ti­sche Aus­drucks­for­men. Haben Sie den Anspruch, für jede neue Geschich­te oder neue The­ma­tik eine neue poe­ti­sche Form zu fin­den, so dass Inhalt und Form inein­an­der verschmelzen?

THOMAS LEHR: Wenn es eine durch­gän­gi­ge Cha­rak­te­ris­tik mei­nes Schrei­bens gibt, dann ist es sicher­lich die, dass ich mit jedem The­ma die Form suche. Ein Buch ent­steht bei mir dann, wenn die­ser Zusam­men­klang gege­ben ist. Vie­le mei­ner Bücher sind noch nicht ent­stan­den, weil die­ser Zusam­men­klang noch nicht mög­lich war. Ich wer­de vom The­ma getrie­ben: Das ers­te, was ich habe, ist die the­ma­ti­sche Idee, und dann beginnt eigent­lich die Suche, wie ich sie sprach­lich rea­li­sie­ren kann. Wenn ich die Ant­wort auf die­se Fra­ge habe, ent­steht das Buch oder es ent­steht nicht. Es muss ein maxi­ma­les Gefühl von Kohä­renz geben. Das ist eine ästhe­ti­sche und eigent­lich sehr sinn­li­che Sache, damit das Buch mir wert scheint, geschrie­ben zu wer­den, oder damit ich es über­haupt bewäl­ti­gen kann und es aus­hal­te, mich mit die­sem Buch jah­re­lang zu beschäf­ti­gen. Das kann ich nur, wenn ich eine sehr schö­ne Form finde.

SCHAU INS BLAU: Herr Lehr, ich bedan­ke mich herz­lich für das Gespräch und wün­sche Ihnen viel Erfolg bei Ihren zukünf­ti­gen Pro­jek­ten, auf die wir uns jetzt schon freu­en, und den Lesern unse­rer Zeit­schrift viel Freu­de bei der Lek­tü­re Ihres Buches.

Tho­mas Lehr wur­de 1957 in Spey­er gebo­ren. Er stu­dier­te Bio­che­mie in Ber­lin und ist dort als frei­er Schrift­stel­ler tätig. Sei­ne Wer­ke – Zwei­was­ser oder Die Biblio­thek der Gna­de. Roman (1993), Die Erhö­rung. Roman (1994), Nabo­kovs Kat­ze. Roman (1999), Früh­ling. Novel­le (2001), 42. Roman (2005) – wur­den mit zahl­rei­chen Lite­ra­tur­prei­sen aus­ge­zeich­net, u. a. mit dem Lite­ra­tur-För­der­preis Ber­lin, dem Rhein­gau Lite­ra­tur Preis, dem Wolf­gang-Koep­pen-Preis der Han­se­stadt Greifs­wald und dem Kunst­preis des Lan­des Rhein­land-Pfalz.
Am 18. August 2010 ist Tho­mas Lehrs Roman „Sep­tem­ber. Fata Mor­ga­na“ im Han­ser Ver­lag erschie­nen. Er wur­de für den Deut­schen Buch­preis 2010 nominiert.