Eine (Gesellschafts-) kritik über das Stück Terror von Ferdinand von Schirach
von Ellen Köhler
„Vergessen sie alles, was sie bisher über diesen Fall gehört haben“ – Mit dieser Aufforderung wendet sich die Gerichtsvorsitzende zu Beginn des Theaterstücks „Terror“, welches von dem Theaterensemble AugsburgOnstage an der Universität Augsburg inszeniert wurde, an das Publikum.
Die Moral von Leben und Töten
Aufgrund der großen Popularität des vom Bestsellerautoren Ferdinand von Schirach verfassten Dramas ist es in der Tat schwer, als Zuschauer:in unvoreingenommen in das Stück einzutauchen. Mir war bereits klar, welche großen moralischen Fragen dort verhandelt werden: Darf man Leben gegen Leben aufwägen? Ist die Würde des Menschen wirklich unantastbar?
In Ferdinand von Schirachs Stück Terror wird über das Strafmaß eines Bundeswehrpiloten, der durch den Abschuss einer von Terroristen gekaperten Passagiermaschine den Tod hunderter unschuldiger Flugzeugpassagiere zu verantworten hat, verhandelt. Das Tragische dabei ist, dass man nicht weiß, ob die Insassen des Flugzeuges es doch noch geschafft hätten, den geplanten Crash der Terroristen in ein voll besetztes Stadion abzuwenden: Denn ein einziges Individuum — der Pilot Koch- hat es sich zur Aufgabe gemacht, darüber zu bestimmen, wer leben darf und wer nicht.
Beeindruckende Argumentationsketten
Die Gesprächsdynamik auf der Bühne lässt eine klare Front zwischen der Staatsanwältin und dem Verteidiger des Angeklagten Piloten erkennen: Die Staatsanwältin tritt als Hüterin der Verfassung auf, sie wird oft laut, nahezu forsch. Doch es wirkt auf den Zuschauer zu keinem Zeitpunkt des Stückes so, als ob sie sich in ihrem Plädoyer von Ihren Emotionen leiten lassen würde. All ihre Aussagen gliedern sich in eine lückenlose Argumentationskette ein, zudem besitzt sie das Talent, alle Rechtfertigungen des Angeklagten so umzudrehen, dass sie gegen ihn verwendet werden können.
Emotionale Distanz – Abgebrühtheit oder Überlebensmechanismus?
Der Verteidiger gibt sich im Gegensatz zur Staatsanwältin betont lässig, als wäre er sich seines Sieges schon fast sicher. Er plädiert, anders als die Staatsanwältin, an die Emotionen der Zuschauer, indem er sie an das Attentat auf das World Trade Center erinnert. Der Angeklagte Koch scheint ebenfalls in sich zu ruhen, es wirkt auf den Zuschauer fast schon bizarr, wie distanziert er der Verhandlung, die über seine Zukunft bestimmt, beiwohnt. Er ist von der moralischen Richtigkeit seines Handelns überzeugt.
Nur ein einziges Mal weicht er von seiner militärischen, fast schon mechanischen Sprechweise ab und wird für den Zuschauer nahbar: „Hätten sie auch geschossen, wenn Ihre Frau und ihr Sohn im Flugzeug gewesen wären?“ Mit dieser Frage versucht die Staatsanwältin, ihn in die Offensive zu drängen. Doch es gelingt ihr nicht.
Der innere Kompass des Menschen
Es liegt in der Natur der Moral, dass das „richtige Handeln“ stets abgewogen werden muss, man führt einen inneren Dialog mit der Instanz des Gewissens, es gibt keinen klaren moralischen Kompass, nachdem man sich in jeder Lebenssituation richten kann. Doch was geschieht, wenn die Frage nach Richtig oder Falsch plötzlich tausende Menschenleben betrifft?
Der bemerkenswerte Ausgang der Publikumsabstimmung
Die Besonderheit des Theaterstückes ist es, dass das Publikum am Ende über den Ausgang des Prozesses abstimmen kann: Spricht man den Piloten Lars Koch, der Leben gegen Leben anzahlsmäßig gegeneinander abgewogen hat, frei, oder verurteilt man ihn, da er damit gegen den Grundsatz der Würde des Menschen verstoßen hat?
Das bemerkenswerte an dieser Abstimmung ist, dass es vom juristischen Standpunkt gesehen klar ist, dass man Koch verurteilen müsste. Obwohl Ferdinand von Schirach die Rhetorik des Stückes klar zu Gunsten der Verfassung verfasst hat, hat das Publikum für einen Freispruch Kochs gestimmt.
Persönliche Haltung versus Verfassung
Was bewegt Menschen dazu, diesen Fall so zu beurteilen? Sollte die Verfassung nicht eigentlich, wie es die Staatsanwältin bereits formulierte, uns vor spontanem, von einen Bauchgefühl geleiteten Handeln bewahren? Ist die Verfassung mit ihrem Prinzip der unantastbaren Würde nicht klüger als wir? Beim Verlassen des Theaterstückes sagte eine Zuschauerin, die für den Freispruchs Koch gestimmt hatte: „Ich finde, man muss in solch eine Entscheidung eine persönliche Haltung miteinbringen“. Welche Folgen hat es für eine Gesellschaft, wenn die Mehrheit der Menschen es für richtig hält, in ein juristisches Verfahren eine „persönliche Haltung“, wie auch immer diese sein mag, miteinzubringen?
Der Hunger nach Individualismus
Vielleicht kann man diese Entwicklung als Folge unseres Strebens nach Individualismus um jeden Preis sehen: Anscheinend haben wir die Fähigkeit verloren, einmal nicht alles nach unseren individuellen Wünschen ausrichten zu können, wir haben verlernt, Vertrauen in die Grundpfeiler unserer Gesellschaft zu fassen, befinden uns in dem Glauben, klüger als die Prinzipien der Verfassung zu sein. Doch die Verfassung dient mit ihrem Grundsatz der Würde doch genau dazu, das einzelne Individuum vor der „persönlichen Haltung“ anderer zu schützen. Hat uns das Streben nach Selbstentfaltung — welches meist als Errungenschaft der Moderne angesehen wird — in moralischen Belangen doch eher einen gesellschaftlichen Rückschritt beschert, gemäß dem Motto, Auge um Auge, Zahn um Zahn?