„Ergründen der eigenen Untiefen“

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© Mau­ri­zio Gambarini

Ein Interview mit der Schriftstellerin und Regisseurin Christiane Neudecker

von Tan­ja Selder

Die drit­ten Augs­bur­ger Gesprä­che zu Lite­ra­tur und Enga­ge­ment muss­ten – pas­send zum The­ma „Ritua­le“ – im Ver­gleich zu den Vor­jah­ren völ­lig neu kon­zep­tio­niert und vor dem Hin­ter­grund der Coro­na-Pan­de­mie im digi­ta­len Raum rea­li­siert wer­den. Ob Ritua­le nun etwa als ver­staub­te Über­res­te ande­rer Kul­tu­ren und Reli­gio­nen von der Hand zu wei­sen sind, oder aber wie­der­keh­ren­de All­tags­rhyth­men und Abläu­fe beschrei­ben, wie­so sie Ori­en­tie­rung stif­ten und Über­gän­ge mar­kie­ren sowie unser Den­ken und Zusam­men­le­ben bestim­men, kann im Begleit­vi­deo zu den Augs­bur­ger Gesprä­chen nach­ge­hört werden.

Auch Chris­tia­ne Neu­de­cker war zu Gast bei den Augs­bur­ger Gesprä­chen und sprach im Anschluss mit Tan­ja Sel­der über die Wech­sel­wirk­sam­keit von Schreib­hal­tung und Ritu­al sowie über ihren neu­en Roman Der Gott der Stadt.

schau­ins­blau: Jeder Raum hat sei­ne eige­nen Ritua­le. Auch Sprach­kon­ven­tio­nen lau­fen häu­fig ritua­li­siert ab und pas­sen sich an einen Raum an. Ist die Funk­ti­on des Heym-Frag­ments in Ihrem Roman Der Gott der Stadt bezie­hungs­wei­se der Umgang mit die­sem im Roman als Text im Text eine Form des Rituals?

Chris­tia­ne Neu­de­cker: Wenn Sie den Text als Raum betrach­ten und den Raum als Ritu­al, dann könn­te man das so sehen, ja. Ich wür­de aber nicht so weit gehen, Georg Heyms Frag­ment per se schon als Ritu­al zu bezeich­nen. Um ein Ritu­al zu eta­blie­ren, bedarf es immer einer Hand­lung. Ele­men­tar dafür sind dann natür­lich die Han­deln­den. In mei­nem Roman sind es also die Figu­ren, die das Ritu­al­haf­te aus dem Heym‘schen Faust her­aus­ar­bei­ten. Sie bewe­gen sich in unter­schied­lichs­te Echo­räu­me hin­ein, die wie­der­um selbst ritu­al­ver­haf­te­te Merk­ma­le auf­wei­sen: Tade­usz etwa, der sich dem Ritu­al des Mas­ken­baus und der Wir­kung der Mas­ke auf den eige­nen Kör­per und Geist aus­setzt oder Schwarz, der sich den Regel­wer­ken des Schwarz-Weiß-Films annä­hert und sie scha­blo­nen­haft über die Sze­ne des ihm zuge­teil­ten Text­aus­schnit­tes legt. So eta­blie­ren sie Neu­es und Eige­nes, das aber auch deut­li­che Gefah­ren in sich birgt. Am Klars­ten wird das viel­leicht bei Fran­çois, der sich zum Ergrün­den der eige­nen Untie­fen auf sata­nis­ti­sche Ritua­le stürzt und dabei die Gren­zen sei­ner eige­nen Exis­tenz aus­dehnt und gefährdet.

schau­ins­blau: Kann es im Schrei­ben ‚Gegen­ri­tua­le‘ geben? Oder ist das Auf­bre­chen von Ritua­len dem Schrei­ben grund­sätz­lich inhä­rent und damit bereits eine Form des Rituals?

Chris­tia­ne Neu­de­cker: Das muss jede*r Schriftsteller*in selbst ent­schei­den. Ich wür­de hier auch von einer Arbeits­wei­se und noch nicht zwin­gend von Ritua­len spre­chen. Bei mir selbst ändert sich das Her­an­ge­hen an ein Manu­skript mit jedem neu­en Buch. Der Stoff gibt mir die Arbeits­wei­se – oder wenn Sie so wol­len: die Ritua­le – vor: die Tages­zeit, zu der ich schrei­be, die Art des Aus­gleichs, den ich benö­ti­ge. Muss es hell um mich sein oder dun­kel, brau­che ich Ein­sam­keit oder Aus­tausch, will ich mich stär­ken oder schwä­chen – all das hängt von dem Stoff ab, der mich gera­de beschäftigt.

Hinter die Inszenierung blicken

schau­ins­blau: Ist Schwei­gen eine kon­sti­tu­ie­ren­de Alter­na­ti­ve zu bestehen­den Ritua­len im Schreib­pro­zess? Auf Ihrem Insta­gram-Chan­nel bei­spiels­wei­se pos­ten Sie ger­ne und viel über Ihre Affi­ni­tät zum Sport – v.a. zum Boxen –, gele­gent­lich auch sze­ni­sche Ein­drü­cke Ber­li­ner Land­schaf­ten. Wäh­rend sich ande­re Kunst- und Kul­tur­schaf­fen­de auf ihren ent­spre­chen­den Accounts über die Bran­che oder Lite­ra­tur an sich äußern, hat es den Anschein, als ver­mei­den Sie dies gera­de: Ist das eine Mög­lich­keit, ein gesell­schaft­li­ches Ritu­al des Schrei­bens bzw. der Kom­mu­ni­ka­ti­on auf­zu­bre­chen oder zu erwei­tern? Indem mit Social-Media-Kanä­len aktiv gera­de nichts aus­zu­drü­cken ver­sucht, kei­ne Posi­ti­on oder ein Image ver­tre­ten, nichts ‚bewor­ben‘ wird, voll­zieht sich damit viel­leicht sogar ein Schritt zu einer neu­ar­ti­gen Authentizität?

Chris­tia­ne Neu­de­cker: Ich bin nicht der Mei­nung, dass jede*r Autor*in zu jedem The­ma eine fun­dier­te Äuße­rung abge­ben kann und soll­te. Zu oft sehe ich, dass Kolleg*innen sich wuch­tig zu The­men äußern, zu denen sie höchs­tens Halb­wis­sen besit­zen. Die­se Art der Blen­dung liegt mir nicht, auch wenn ande­re argu­men­tie­ren mögen, dass Trom­meln eben zum Hand­werk gehört. Als Thea­ter-Regis­seu­rin erken­ne ich häu­fig die Absicht hin­ter der Insze­nie­rung und bin dann schnell verstimmt. 

Daher mache ich mich in mei­nem eige­nen Auf­tre­ten mög­lichst frei von die­ser Erwar­tungs­hal­tung. Und geste­he mir aber eben­so jeder­zeit zu, die­se Accounts ganz oder teil­wei­se zu pri­va­ti­sie­ren. Las­sen Sie sich nicht täu­schen: Das, was Sie von mir in den sozia­len Medi­en sehen, ist nur ein Bruch­teil des­sen, was Ver­trau­te von mir sehen können.

schau­ins­blau: Wel­che Rol­le spie­len Medi­en bei der Ver­än­de­rung von Ritualen?

Chris­tia­ne Neu­de­cker: Ich kann Ihnen etwas über das Schrei­ben erzäh­len: dass es zum Bei­spiel einen Unter­schied macht, ob ich einen Text mit der Hand schrei­be oder auf mei­nem Com­pu­ter tip­pe. Die Mög­lich­keit, etwas glei­cher­ma­ßen gedruckt vor mir zu sehen und mit einem ein­zi­gen Tas­ten­druck zu löschen, gibt mir den­ke­ri­sche und dich­te­ri­sche Frei­heit. Das Schrei­ben per Hand engt mich viel mehr ein, das Durch­strei­chen, Aus­ra­die­ren, Über­schrei­ben – und vor allem des­sen wei­te­re Sicht­bar­keit – lässt mich viel stren­ger und vor­sich­ti­ger den­ken. Man soll­te mei­nen, dass es genau anders­her­um wäre: Dass die Hand­schrift das Wil­de, Unge­zwun­ge­ne her­vor­ruft und die Rein­schrift am Com­pu­ter dann schon struk­tu­riert und voll­endet ist. Aber genau das Gegen­teil ist der Fall, zumin­dest bei mir.

Das Individuelle macht die Geschichte aus

schau­ins­blau: Ein Ritu­al schafft u.a. Zusam­men­hän­ge von Macht – bei­spiels­wei­se als Aus­druck einer Hier­ar­chie von Geschlech­tern, Ämtern oder zwi­schen Wis­sen­den und Unwis­sen­den wie es auch in Der Gott der Stadt eine Rol­le spielt (z.B. im Ver­hält­nis zwi­schen den Leh­ren­den und Aus­zu­bil­den­den sowie unter und zwi­schen den Stu­die­ren­den). Ist die­ses Mäch­te­ver­hält­nis ein not­wen­di­ges und wie kann es ver­än­dert wer­den? Kann ein Ritu­al ein wert­frei­er Akt sein?

Chris­tia­ne Neu­de­cker: Hier­ar­chien benut­zen oft Macht als Druck­mit­tel, das ist rich­tig. Ich wür­de hier aber noch lan­ge nicht von Ritua­len spre­chen. Als Schrift­stel­le­rin muss mich die mensch­li­che Trieb­fe­der hin­ter der Hand­lung inter­es­sie­ren: Wie­so agiert die­se oder jene Figur auf die­se oder jene Wei­se? Was treibt exakt die­sen einen Men­schen zu die­ser Form der Akti­on? Sie dür­fen das nicht über einen Kamm sche­ren, im Gegen­teil. Gera­de das Indi­vi­du­el­le ist es, was den ein­zel­nen Men­schen und des­sen Geschich­te ausmacht.

‚Macht­men­schen‘ mögen ähn­li­che Denk­struk­tu­ren besit­zen, aber ihre Moti­ve, ihre Erfah­rungs­wer­te, ihre Zie­le sind oft kom­plett gegen­läu­fig gela­gert. Hier kann Lite­ra­tur anset­zen, so ent­ste­hen Geschich­ten. Ein Pro­fes­sor Brand­ner, wie ich ihn im Gott der Stadt erschaf­fen habe, wür­de mit den Hand­lun­gen eines Auto­kon­zern-Bos­ses wie Kili­an Kay­sert in mei­nem Roman Boxen­stopp über­haupt nicht d’accord gehen. Auch wenn sich bei­de in einer Macht­po­si­ti­on befin­den, die es ihnen erlaubt, die von ihnen Abhän­gi­gen – Stu­den­ten hier, Ange­stell­te und Geschäfts­part­ner da – zu mani­pu­lie­ren und zu miss­brau­chen. Ober­fläch­lich mögen wir es dabei mit zwei Son­nen­göt­tern zu tun haben, die bei­de mit einer Art schwar­zen Päd­ago­gik arbeiten.

Mich inter­es­siert aber nicht die Gleich­ma­chung, mich inter­es­siert der Ein­zel­fall. Dem kann ich mich dann mit einem schrift­stel­le­ri­schen Brenn­glas annä­hern. Und glau­ben Sie mir: Macht­ver­hält­nis­se las­sen sich nicht so ein­fach umkeh­ren, eben­so wenig, wie Ritua­le wert­frei sein kön­nen oder sein soll­ten. Genau das ist dann aber schrift­stel­le­risch interessant.

schau­ins­blau: Macht die Stö­rung eines oder das Nicht-Hin­ein­fin­den in ein Ritu­al – wie es gera­de in Der Gott der Stadt bei den Stu­die­ren­den der Fall ist – die­ses erst sicht­bar? Wie kann man dann in ein ‚frem­des‘ Ritu­al hin­ein­fin­den oder auch aus die­sem aus­tre­ten – gera­de wenn die Ableh­nung des Ritu­als nicht mit einem Aus­tritt aus der zuge­hö­ri­gen, das Ritu­al aus­üben­den Grup­pe, Insti­tu­ti­on, Kul­tur etc. mit­ein­her­ge­hen soll?

Chris­tia­ne Neu­de­cker: Auch hier muss ich als Schrift­stel­le­rin das Indi­vi­du­um in den Vor­der­grund stel­len. Die Ver­wei­ge­rung, sich in ein eta­blier­tes Grup­pen­ri­tu­al hin­ein­zu­be­ge­ben, erzeugt einen Kon­flikt. Und die­ser Kon­flikt kann erzäh­le­risch wert­voll und inspi­rie­rend sein. Wenn alle Betei­lig­ten auf ihren Posi­tio­nen behar­ren und ein Her­aus­tre­ten aus der Situa­ti­on nicht mög­lich ist, wird es lite­ra­risch umso span­nen­der. Denn dann bleibt letzt­end­lich nur die Explo­si­on oder die Implo­si­on. Das kann dann bis zur Dekon­stru­ie­rung des Indi­vi­du­ums gehen.

In mei­nem Roman Nir­gend­wo Sonst etwa haben wir es mit einem Mili­tär­staat zu tun. Die Haupt­fi­gur, ein namen­lo­ser Rei­sen­der, der 2004 durch Myan­mar irrt, gerät immer wie­der in ritu­al­haf­te Situa­tio­nen hin­ein, deren Regel­ge­bung er nicht ent­schlüs­seln kann. Das erstreckt sich auch auf die Schrift­zei­chen des Lan­des, auf die Spra­che, die er nicht ver­steht, auf die Reli­gi­on, die ihm fremd ist, die per­ma­nen­te Kon­trol­le durch das mili­tä­ri­sche Sys­tem. Mit jedem wei­te­ren Schritt auf die­sem streng über­wach­ten Ter­rain fin­det eine Zer­rüt­tung statt, die letz­ten Endes zur abso­lu­ten Infra­ge­stel­lung der eige­nen Selbst­wahr­neh­mung füh­ren muss. Frem­de Ritua­le besit­zen die­se Macht. Das darf man nicht unterschätzen.

Die in Ber­lin leben­de Schrift­stel­le­rin und Regis­seu­rin Chris­tia­ne Neu­de­cker wur­de 1974 in Erlan­gen gebo­ren und stu­dier­te Thea­ter­re­gie an der Hoch­schu­le für Schau­spiel­kunst Ernst Busch. Sie gehört seit 2001 zum Künst­ler­kol­lek­tiv phase7 performing.arts, das für die Ver­knüp­fung von Medi­en und Thea­ter sowie mul­ti­me­dia­le Insze­nie­run­gen steht. Neu­de­cker kon­zi­pier­te hier­für die Per­for­mance „delu­si­ons“ und ver­fass­te das Libret­to „C – the speed of light“. Sie erhielt zahl­rei­che Sti­pen­di­en und Prei­se, ihre „Som­mer­no­vel­le“ war zudem „NDR Buch des Monats“, eines der „7 bes­ten Bücher für jun­ge Leser“ des Deutsch­land­funks und auf der Spie­gel-Best­sel­ler­lis­te. Inner­halb ihrer Wer­ke stellt sie vor allem das Indi­vi­du­um, mit­samt sei­ner Abgrün­dig­keit und sei­nen Ängs­ten in den Vor­der­grund. So auch in ihrem neu­en Roman Der Gott der Stadt, der 2019 erschien.