Ein Gespräch mit Robert Menasse
von Agnes Bidmon
Schau ins Blau traf den Autor und Essayisten Robert Menasse anlässlich des Erlanger Poetenfestes und sprach mit ihm über den immer fremd bleibenden Zugang zur Unmittelbarkeit des Lebens und der Erinnerungen, über den Prozess des Erzählens, über Zeitgenossenschaft und das Epochendenken. Ein Gespräch mit einem der kritischen Denker unserer Zeit.
SCHAU INS BLAU: Lieber Herr Menasse, in Ihrem aktuellen Erzählungsband Ich kann jeder sagen spielt der Komplex von Erinnern und Vergessen wieder eine prominente Rolle. Insbesondere die Unzuverlässigkeit von Erinnerungen ist ja schon immer ein großes Thema Ihrer Texte gewesen, ebenso wie die gleichzeitig unabdingbare Notwendigkeit von Erinnerungen. Damit verbunden ist aber immer ein zwangsläufig defizitäres Erinnern von historischer ‚Wahrheit’, die es als solche ja nicht geben kann. Ist das momenthafte Herausgreifen von Szenen aus einem Leben mithilfe einer Art „Zeitmikroskop” — wie Sie es in Ihrem aktuellen Buch schildern — eine Verfahrensweise, um produktiv mit diesem Dilemma von Erinnerungen umzugehen, indem sich die ‚große Geschichte’ in privaten Lebensentwürfen offenbart und spiegelt?
ROBERT MENASSE: Ich glaube es geht nicht anders. Wenn man ganz ehrlich mit sich selbst ist und sich fragt, wie plastisch und präzise ich mich erinnern kann an den großen Bogen meiner Lebenszeit, dann wird man feststellen, dass sehr, sehr wenig wirklich übrig bleibt. Es gibt ja psychoanalytische Erklärungen dafür, warum man notwendigerweise viel vergessen muss. Es würde das Leben, das in die Zukunft gerichtete Leben, vollkommen blockieren. Aber es ist schon erstaunlich, dass man zum Beispiel — man kann das ganz einfach bei sich selbst testen — im Normalfall zum Beispiel ein schlechter Zeuge vor Gericht wäre.
SCHAU INS BLAU: Diese Gedanke wird ja auch in der Erzählung Die blauen Bände aufgegriffen.
ROBERT MENASSE: Das ist ja auch wirklich ein interessantes Phänomen: Man erlebt etwas Dramatisches, was einen schockiert, wo man Adrenalinausschüttungen hat und ganz alert wird, und greift dann auch noch ein, schafft also noch diese Differenz zu vielen anderen, die einfach nur dabeistehen und gaffen. Man schaut und handelt also und dann, relativ kurze Zeit später, steht man vor Gericht und soll etwas bezeugen und man wird vollkommen unsicher. Man weiß es nicht mehr genau. Und umgekehrt weiß jeder auch aus eigener Erfahrung, dass Dinge, die man oft erzählt hat, mit der Zeit, je öfter man das erzählt, immer plastischer werden.
SCHAU INS BLAU: Signifikanterweise wählen Sie für Ihre Erzählungen in Ihrem neuen Band ja immer die Perspektiven von Ich-Erzählern, also die Autodiegese. Stellt dies ein Verfahren dar, um sowohl der Weltgeschichte als auch der vermeintlichen Autobiographie narrativ gerecht zu werden, weil die Perspektive ja von vornherein — anders als eine vermeintlich objektive Erzählung in der dritten Person — ihre Subjektivität schon im Moment des Erzählens markiert?
ROBERT MENASSE: Ich liebe ja manchmal das Simple. Ich war so ein intelligenter Student, der so komplex über Hegel diskutieren konnte, dass ich mich zu meiner Befreiung dann manchmal herablasse auf einfache Thesen. Diese ganze Frage des literarischen Erzählens kann man aufspalten in zwei, oder letztendlich drei Möglichkeiten. Aber die dritte interessiert mich am wenigsten, darum denke ich immer an zwei. Die eine ist das Erzählen in dritter Person: der allwissende, der auktoriale Erzähler, der alles weiß. Das ist der Erzähler mit dem Gestus des Schöpfergottes. Er erschafft eine Welt, besiedelt sie mit Menschen, weiß alles von ihnen und hat noch die Gewalt, dass er sogar noch das Wetter gestaltet, so dass es zum Schicksal der Haupthelden passt. Und dann gibt es den Ich-Erzähler, und der weiß eben nicht alles. Das ist der, der eben wirklich nur „ich” sagen kann und nur das weiß, was er glaubt, verbürgen zu können, oder was er sich traut zu behaupten. Und mehr Möglichkeiten hat er nicht. Ich kann nicht eine Ich-Erzählung schreiben und sagen: „Dann sah ich sie an und sie dachte…”. Das ist eine beschränkte Palette. Im Hinblick auf die Frage der Erinnerungen ist eigentlich nur das Erzählen der ersten Person glaubhaft. Vor allem für den Menschen meiner Generation, der auch bereits seine geistigen Moden durchschritten hat und schon auf einiges zurückblicken kann. Zum Beispiel blicke ich ja zurück — als ehemaliger Student auch der Geschichtswissenschaften — auf die Mode der Oral History, die eine Zeit lang sozusagen als Authentizitätsfetisch des Historikers galt. Das literarische Erzählen in der ersten Person ist aber, also wenn man es so macht, wie ich es jetzt verstehe, eine kunstvolle Anordnung und eben nicht Oral History, obwohl es vordergründig so scheint. Denn wenn ich realistisch Erlebtes als Erzählanordnung voraussetze und mir einen Freund erfinde, der mir dann die real erlebte Geschichte erzählt, ist es eben Literatur und dann unterläuft es das Prinzip der Oral History. Diese Geschichte fasst in der Regel viel mehr Erfahrungen zusammen als einer wirklich haben konnte, oder schafft es, mit viel weniger Erfahrungen, als einer tatsächlich gehabt hat, das Panorama irgendwie auszuleuchten, wie das menschliches Schicksal sein kann. Die dritte Möglichkeit des Erzählens, die es noch gibt, ist dann das reine Sprachspiel. Aber, wie gesagt, das interessiert mich nicht.
SCHAU INS BLAU: Damit kommen wir zu einer weiteren Dialektik, die sehr spannend ist, gerade im Kontext und Konnex mit der Autobiografie. Das Subjekt erzählt, was es ist, es erzählt sich folglich immer wieder selbst, um sich seiner Selbst zu versichern. Gerade bei der Geschichte Das Ende des Hungerwinters 1944 wird dies thematisiert, wofür eine ritualisierte Form des Erzählens praktiziert wird, denn immer wieder wird die gleiche Geschichte erzählt…
ROBERT MENASSE: … das haben ganz wenige begriffen, dass es in der Geschichte zumindest genau so sehr um das Problem des ritualisierten Erzählens geht wie um das, was der Vater erzählt. Es haben einige auf die Erzählung reagiert, wie dramatisch oder berührend sozusagen der Plot ist, also das Erzählte. Und ich bin immer sehr froh, wenn man tiefer geht und mir dafür huldigt, dass ich nicht nur das Erzählte, sondern auch die Art und Weise, wie man es erzählt, mitreflektiert habe in der Erzählung. Aber in Wirklichkeit ist ja das das Thema. Darum geht es ja auch in der Vertreibung aus der Hölle. Darum geht es ja auch in meiner Romantrilogie. Dort geht es ja beispielsweise auch darum, dass ein und derselbe Sachverhalt einmal als Selbstmord und einmal als Mord beschrieben und dargestellt wird. Die objektiven Fragen sind dabei immer dieselben, aber es ist keine Detektivstory, wo man sich fragt, was von beidem ist es jetzt? Vielmehr kommt es auf die Erzählerposition an, wie man die Fakten zu einer schlüssigen Geschichte ordnet.
SCHAU INS BLAU: Die andere Seite des angesprochenen dialektischen Moments ist ja, dass man sich selbst durch das Hinzuphantasieren und Hinzufügen eine Identität konstruiert und konstituiert. Es ist also ein permanentes Wechselspiel von einer Rechenschaft von sich selbst auf der einen Seite und auf der anderen Seite erst zu einem Selbst werden zu können durch das Erzählen. Beinhaltet das Erzählen also ein Moment des Sich-(Er)Findens und somit ein existentielles Moment der Identitätskonstitution?
ROBERT MENASSE: Das ist in der Tat existenziell. Ich glaube, dass sich wirklich alles aufhört, wenn man nicht mehr erzählen würde. Es wäre so wie wenn auf einmal ein riesiger Apparat den Sauerstoff wegziehen würde von unserem Planeten und wir alle zusammensinken würden und ersticken. Wir waren immer wieder schon knapp davor, weil es immer wieder historische Situationen gab, in denen die Menschen einfach nicht mehr erzählen konnten — perfiderweise egal, wo sie sich in der historischen Situation befunden haben: Die Täter konnten nicht erzählen, weil sie ja verschweigen wollten, dass sie Täter waren. Und die Opfer konnten nicht erzählen, weil sie verschweigen wollten, dass sie gedemütigt wurden. Und das waren dann solche Situationen, wo auf einmal fast so ein sauerstoffleerer Planet da war. Dann wurde der mehr oder weniger moralische Impetus auf den Plan gerufen: Wir müssen das alles rekonstruieren, wir müssen das erfahren, wir müssen die letzten Zeitzeugen noch auswringen und auspressen und die Geschichtswissenschaft ist aufgefordert, uns zu erzählen, was andere erlebt haben oder woran sie gestorben sind, oder warum sie ermordet wurden, damit wir das vermeiden können in Zukunft. Plötzlich haben alle möglichen Menschen erzählt. Aber für mich zum Beispiel ist es bezeichnend, dass in der Zeit, als wir uns alle wahnsinnig schwer getan haben mit dem Erzählen und zwar in erster Linie diejenigen, die aus historischen Gründen etwas zu erzählen hatten, dass genau in dieser Zeit in der Literatur Erzählverbot herrschte. Das waren diese vollkommen verblödeten und moralisch verrotteten 60er und 70 Jahre, in denen niemandem aufgefallen ist, dass es — zumindest in Deutschland — historische Gründe für ein Erzählproblem gab. Die Nazikinder haben „Schluss mit dem Erzählverdikt” formuliert und man hat das noch Avantgarde genannt. Und man hat geglaubt, bei den Nazis wäre das entartet gewesen, also ist es anti-faschistisch. In Wirklichkeit war es der blanke Faschismus, weil es ein Verschweigen dieses historischen Kapitels war. Es gibt manchmal Situationen, in denen das Erzählen in die Defensive gerät, aber dann bricht es wieder auf und dann stellt sich wieder heraus: am Ende stimmt immer der Satz von Balzac. Wahrscheinlich ist der Satz schon 10.000 Jahre alt. Wir wissen es nicht. Ich kenne ihn zufällig von Balzac: „Was hat der Schriftsteller zu tun? Er muss erzählen, wie es zu seiner Zeit gemacht wurde, so dass die Zeitgenossen sich wiedererkennen und dass spätere Generationen uns verstehen.” Das ist ein wahnsinnig schlauer Satz, das ist die Kunst. Und dann kommt so ein Nazibub, der immer nur Sprachspiele macht und sagt: “Erzählen ist verboten”. Der soll mal erklären, warum das reaktionär ist, was für die kommenden Generationen so befreiend daran ist, was er macht. Es geht immer nur ums Erzählen!
SCHAU INS BLAU: Könnte man also sagen, dass diese Form des Erzählens von Erinnertem, von Gewesenem und vor allem natürlich von Zeitgenossenschaft, von Zeitzeugenschaft ein Angebot für Erfahrungen für die nachfolgenden Generationen ist? Etwas, das man ihnen durchs Erzählen mitgeben und ein Verstehen des für sie Vergangenen ermöglichen kann? Birgt die Literatur in der Auseinandersetzung mit dem, was war, dann somit vielleicht doch eine Form von Zukunftsoptimismus, trotz des Bewusstseins der potentiellen Wiederholbarkeit der Geschichte?
ROBERT MENASSE: In Kunst und Literatur spiegelt sich jedes Ich sozusagen in der Idee des Menschseins. Und gleichzeitig ist es so, dass jede Erzählung eigentlich die Erzählung von Defiziten ist. Ich glaube, dass das im Paradies aufhört, aber eben erst im Paradies. Da gibt’s nichts mehr zu erzählen. Wir haben auch keine Erzählungen vom Paradies, sondern erst von der Vertreibung aus dem Paradies. Und wenn wir den Hintereingang wieder finden, hört das Erzählen auf und bis dahin ist praktisch jedes gelungene Stück Literatur, auch jedes gelungene Stück historische Literatur, das heute noch gelesen werden kann und noch funktioniert, ja eigentlich ein Symptom der Schande unserer Zeitgenossenschaft, weil das Problem offenbar noch immer nicht gelöst ist. Noch immer ist es eine unerfüllte radikale gesellschaftliche Utopie. Es hat sich ja als defizitäre Realität herausgestellt, was im klassischen Bildungsroman beschrieben ist, dass man am Schluss, nachdem man sich die Hörner abgestoßen hat, seinen vernünftigen Platz in der Gesellschaft findet. Mitnichten. Es ist ja jedes Stück Literatur ein Stück Schande, darum geht es auch. In der Literatur spiegelt sich jedes Individuum in der Identität des Menschseins. Und aus diesem Grund bleibt am Ende immer nur die Erzählung über. Es gibt zwar immer wieder Wellen und Moden, aber wenn man jetzt zurückdenkt, die letzten 2000 Jahre: was ist geblieben? In der Musik die Melodie, in der bildenden Kunst das Bild, das Gegenständliche, und in der Literatur das Erzählen. Und alles andere ist letztendlich untergegangen.
SCHAU INS BLAU: Welche Rolle spielt bei dieser Verortung des Subjekts in seiner unmittelbaren Zeit und Existenz die Rolle des Gegenübers? Wir haben jetzt viel von Erzählen geredet, und das Erzählen ist ja etwas, das nie im Vakuum passiert und immer eines Adressaten bedarf, um gelingen zu können und um in ein dialogisches Moment einzutreten, wovon ausgehend dann eine Wahrheit, eine Wirklichkeit ausgehandelt werden kann. Aber es gibt ja auch die körperliche Identität, und u.a. ist auffällig in Ihrem Buch, dass die Identitätssuche auch oftmals über Sexualität codiert ist. Ist damit eine Möglichkeit verbunden, in einer neuen Form zu sich zurück finden oder sich neu zu formen? Oder dient das Gegenüber eher als Projektionsfläche, um sich selbst in irgendeiner Form wiederzuerkennen?
ROBERT MENASSE: Ich habe da keine Theorie, von der ich ausgehe, wenn ich schreibe. Aber wenn wir so grundsätzlich darüber reden, fallen mir zwei Dinge ein, die ich wesentlich finde. Das eine ist, dass sexuelle Identität ein ganz wesentlicher Bestandteil von Identität überhaupt ist. Man kann nicht „ich” sagen und vollkommen absehen von so einer sexuellen Identität, weil es die körperliche Identität prägt und v. a. den Blick auf die Welt. Und das zweite ist — vielleicht auch ein Männerproblem, das weiß ich nicht, aber unter der Voraussetzung, dass ich eben ein Mann bin und noch nie vorher eine Frau war -, dass in diesem Fragenkomplex, den wir zurecht komplex nennen, ein ganz eigentümlicher real-utopischer Moment schlummert, nämlich: Es gibt Menschen die gute Gründe haben, Erlösung von sozialen Problemen oder sonstigen Problemen, politischen Problemen wirklich zu ersehnen und es ist nicht ausgemacht, dass sie überhaupt auf den Gedanken kommen, dass sie vielleicht eine versteckte Sehnsucht haben. Aber auf alle Fälle haben Menschen — also ich glaube zumindest Männer — immer wieder die Phantasie, dass das andere Geschlecht, also Frauen, die zweite Hälfte des Gesamtmenschen sozusagen bilden, sie also erlösen können.
SCHAU INS BLAU: Also eine Art Einheitsphantasma?
ROBERT MENASSE: Ja. Ich glaube, es gibt in der Sexualität eine ganz starke utopische Erlösungssehnsucht. Ich glaube, das ist auch der Messianismus in der Religion. Menschen wollen erlöst werden, sie wollen irgendwann einmal glücklich sein. Und der Erlöser, das ist die Rückholung der männlichen Sehnsucht nach Erlösung auch ins eigene Geschlecht eigentlich.
SCHAU INS BLAU: Ist das vielleicht auch ein Zeitphänomen in einer vielbeschworenen Zeit ‚nach den Utopien’, sich in einer individuellen Glückssehnsucht verwirklichen zu wollen?
ROBERT MENASSE: Das war ja umgekehrt. Das war ja so, dass man in der Zeit der großen Utopien geglaubt hat, man kann die Utopien befördern, wenn man sich von ihnen befreit. Man kann also eine Triebkraft freisetzen. Das war ja Unsinn. Jedes normale denkende Gemüt, das mit einem anderen Menschen ins Bett geht und dabei vor die Aufgabe gestellt wird, eine gesellschaftliche Produktivkraft zu entfesseln, in dem Moment muss es ja unter der Last zusammenbrechen. Das ist ja vollkommen wahnsinnig!
SCHAU INS BLAU: Zu einem anderen Thema und noch einmal den Bogen zurück zum Thema Autobiografie. Es sind ja auch viele metanarrative Kommentare über das Schreiben von Autobiografien in Ihrem Text enthalten, insbesondere in den „blauen Bänden”, wo ja auch der dezidierte Absatz: „Autobiographien sind Lüge” enthalten ist. Zudem gibt es mehrfach Einschübe, in denen es innerhalb der autobiografischen Erzählungen selbst heißt: „Wenn ich eine Autobiografie schreiben würde…”. Intendieren Sie damit, die Gattungspoetik dieser vermeintlich authentischsten und unmittelbarsten Gattung subversiv zu unterlaufen und zu überschreiben und immer wieder den fiktionalen Charakter und die eigentlich dahinter stehende Erzählperspektive anzuzeigen?
ROBERT MENASSE: Ja, darum ging es ja, um den Eindruck, erstens zu zeigen, wie naiv autobiografisches Erzählen ist, um die Naivität vorzuführen. Und zweitens aber gleichzeitig zu zeigen, dass man durchaus komplexe Geschichten vermitteln kann, oder Geschehenes, oder Erlebtes, sobald man diese Situation reflektiert, ohne dass es deswegen wahnsinnig viel komplizierter sein muss als die naiv erzählte Geschichte. Der Unterschied ist eben nur die Frage, ob ich das mitreflektiere oder nicht.
SCHAU INS BLAU: Ein weiteres spannendes Moment sind die verschiedenen Geschichtskonzeptionen, die innerhalb der Spiegelungen von historischen Ereignissen nebeneinander stehen. Es sind ja auch vermeintlich banale Ereignis, wie z.B. das Europameisterschaftsendspiel Griechenlands, die neben Erzählungen arrangiert sind, die die Shoa aufgreifen, das Attentat in Chile oder die Wende ‘89. Kann das als Plädoyer für die Nivellierung von Geschichtsnarrativen, also gegen die Hierarchisierung von Konzeptionen, gelesen werden?
ROBERT MENASSE: Jeder Mensch hat relativ gleichwertig dramatische und weniger dramatische, aber ihn zufällig doch irgendwie prägende Erlebnisse, die mit irgendeinem objektiven Geschehen verbunden sind. Derjenige, der sich nur erinnern könnte an Kennedys Mord und anschließend trinkt er was und sonst weiß er nichts mehr, wäre ja ein Unmensch. Ein normaler Mensch kann sich eben, also wenn es ein Mann meiner Generation ist, dann kann er sich erinnern, wie Griechenland Fußballeuropameister wurde, zum Beispiel.
SCHAU INS BLAU: Frauen auch übrigens…
ROBERT MENASSE: Aber vielleicht ist es auch nicht, wie Griechenland Fußballeuropameister wurde, sondern wie Rapid Wien Celtic Glasgow aus dem Europacup warf. Aber das ist eben weniger paradigmatisch, weniger gut paradigmatisch zu erzählen. Darum wählt man dann eben dieses Beispiel. Aber, wenn man darüber nachdenkt, ist es ja unendlich verblüffend, wie oft etwas verhältnismäßig Banales, v.a. für Menschen meiner Generation, prägend wurde. Das hat mit verschiedenen Dingen zu tun. Zuerst einmal damit, dass wir das Glück gehabt haben, ein halbes Jahrhundert Lebenszeit zu verbringen in Frieden und stabilen Verhältnissen und regelmäßigem Wachstum des Wohlstands, ohne größere dramatische Ereignisse. Und trotzdem haben wir ja eine Biografie gehabt, trotzdem ist auf der Welt ja alles Mögliche passiert. Aber wir selbst waren wirklich glücklich eingelullt und das war auch das Schöne unseres Lebens. Das Privileg, das wir hatten, wenn man in einer eleganten Loge sitzt und unten auf der Bühne wird Kennedy erschossen, aber man sitzt in der Loge und man weiß: da passiert nichts. Und wenn Feuer ausbricht, rettet mich der Feuerwehrmann, der hinter mir schon zur Sicherheit parat steht. Dann hat alles irgendwie so einen leicht theatralischen Tick, und dann genügt es, wenn man zum Beispiel seinen ersten Kuss zufällig gibt, in dem Moment, wo Yellow River in der Disco gespielt wird. Und dann erinnert man sich sein ganzes Leben, wenn man irgendwo wieder in der Nostalgie schwelgend im Radioprogramm Yellow River hört, an den ersten Kuss. Erinnerung funktioniert so. Ich habe den Kennedy-Mord, der am Tag meines ersten Kusses war, nicht gebraucht, damit ich mich an meinen ersten Kuss erinnere, verstehen Sie? Das sind gleichwertige Sachen. Es gibt Markierungen, da erinnert man sich und dann gibt es andere Dinge. Das Repetitive übt uns die Erinnerungen nicht ein, so Goethe im Gespräch mit Eckermann, sondern das Repetitive löscht die Erinnerung aus. Das ist das ganze Geheimnis. Es ist nirgends gesagt, dass etwas ganz Dramatisches geschehen muss. Es muss nur einfach irgendetwas passieren. Nicht immer und nicht regelmäßig. Und regelmäßig war Friede und wir haben Chancen gehabt und wachsenden Wohlstand und wir haben keine Angst haben müssen. Es war ganz witzig eine Zeit lang, weil der Zeitgeist links war. Aber in Wirklichkeit ist es ja ein einziges großes Eingelullt-Sein. Und dann, was ist passiert? Dann sagt man, es ist ja kein Zufall — meiner Meinung nach -, dass zum Beispiel die Journalisten, die ungefähr so alt sind wie ich, diesen ganzen Kult der Frage entwickelt haben „Wo warst du, als…?”. Ich glaube, dass meine Eltern und meine Großeltern, die wirklich dramatische Situationen erlebt haben, sich damit begnügt hätten, dass man in der Zeitung liest: „30. Jahrestag des Kriegsendes”, aber nicht: „Wo warst du, als…?”. Und diese Generation, die in Wirklichkeit nichts erlebt hat, die kultiviert plötzlich diese Frage „Wo warst du, als…?”. Aber wir haben Antworten darauf, das ist ja das Spannende.
SCHAU INS BLAU: Ein weiterer interessanter Aspekt im Zusammenhang mit dem Akt des Erzählens ist ja, dass die erste und die letzte Geschichte Ihres Buches eine Art poetologische Rahmung des Bandes bilden. Die beiden Geschichten, die programmatischerweise auch noch Beginnen und Schluss machen heißen spiegeln diese Problematik des Anfangens und des Schlusssatz-Findens noch einmal in nuce und wecken beim Leser, zusammen mit den zahlreichen polyphonen Erzählstimmen des Buches, die Assoziation an eine Art aktuellen Novellenzyklus. Inwiefern könnte man den Band also auch in die Tradition dieser aktuellen Revitalisierung des novellistischen Erzählens einordnen?
ROBERT MENASSE: Das habe ich mitgedacht. Das habe ich vielleicht nicht so radikal und so konsequent, wie es möglich gewesen wäre, getan, sondern ich habe das einfach als Spiel und als Möglichkeit mitgenommen, nachdem diese Erzählungen grundsätzlich schon diesen Zusammenhang hatten. Wenn man das jetzt formal ganz radikal durchspielt, dann käme man ja noch ganz woanders hin, aber ich wollte die Erzählungen und die Fragestellung an die Erzählungen jetzt nicht in den Schatten des formalen Spiels stellen. Darum hat mir das so genügt, aber die beiden schuldigen Probleme, also den Rahmen des Einen, der nicht weiß, wie er anfangen soll zu erzählen, und des anderen, der nicht weiß, wie er aufhören soll, habe ich auf meine infantil kindische Weise für witzig empfunden und es damit aber auch bewenden lassen. Ich bin einfach manchmal kindisch und ich finde als Künstler habe ich auch ein Recht darauf — ein Menschenrecht auf Infantilität, genauso wie ich ein Menschenrecht darauf habe, missachtet werden habe. Ich finde es nur interessant, dass von fünf Kritiken, die erschienen sind, drei Kritiker geschrieben haben, die letzte Erzählung über den Kritiker sei die Schwächste, die hätte man sich sparen können. Aber das hat wohl auch damit zu tun, dass sich Kritiker mit Empathie schwer tun, außer es steht explizit im Text „Kritiker”. Offensichtlich ist es so, ich weiß es nicht.
SCHAU INS BLAU: Die beiden Erzählungen bilden doch aber gerade einen programmatischen Zirkelschluss, der auch wiederum einen Konnex von Ende und Anfang herstellt und somit auch auf die von Ihnen bereits angesprochene Unendlichkeit des Erzählens verweist. Ein Thema, das Sie ja auch schon in der Vertreibung aus der Hölle thematisiert hatten mithilfe des paratextuellen Spiels des Inhaltsverzeichnisses am Ende.
ROBERT MENASSE: Ich finde auch, ja. Das Inhaltsverzeichnis bei der Vertreibung aus der Hölle, das ist mir auch eminent wichtig, weil das wirklich in die Struktur des Romans eingreift: Ein Inhaltsverzeichnis zu machen und jedes Kapitel aufzulisten, aber keine Seitenangabe zu machen — so funktioniert ja Geschichtsschreibung. Die Epochen werden ja entschieden von denen, die die Epochen gelesen haben. Und die sagen dann: „von… bis… war Renaissance, oder von…bis…war Hochmittelalter.” Und es ist ja nicht so, dass in der Früh eine Menschheit aufwacht und dann sagen sie: „Wow, das Hochmittelalter ist zu Ende!”, sondern das ist ja die Zuschreibung dessen, der die ganzen Quellen gelesen hat. Und ich wollte einfach, dass der Leser das selber macht. Es geht um Geschichte in dem Roman, es geht um den Zugang oder darum, wie wir Geschichte begreifen können, oder wie wir sie erinnern können und dann wollte ich, dass der Leser, wenn er es gelesen hat, selbst die Epocheneinteilung vornimmt. Ich mache einen Vorschlag: fünf Epochen, aber er soll selber entscheiden, wann die eine Epoche aufhört und die andere beginnt. Das ist eine Frage, die mich immer interessiert hat: Wann beginnt eine Epoche und wann endet eine Epoche — dieses Epochendenken finde ich eminent faszinierend.
SCHAU INS BLAU: Vielleicht auch als Art des mythischen Zwangs zur Sinnstiftung des Menschen, um durch Klassifikationen Ordnung ins Chaos des Seins zu bringen?
ROBERT MENASSE: Es ist eine Mischung aus Mythologie und ganz radikalem Realitätsdenken. Ich glaube manchmal, dass man eine Epoche wirklich nur begreifen kann, wenn man ihre Realität begreift. Und alles, was auf der Welt irgendwann einmal begonnen hat, ist endlich. In meinem letzten Roman habe ich diese Frage ja ganz offensiv gestellt und da habe ich selbst gelernt, dass es oft wirklich nur über die Begrifflichkeit strukturiert ist. Es gibt Zeiten, die leben eindeutig unter der strahlenden Sonne, oder im Schatten eines großen Begriffs und solange dieser große Begriff das Denken und Handeln, Streben und Sehnen der Menschen irgendwie beeinflusst, leben sie in einer Epoche. Und diese Epoche kann man dann irgendwann einmal mit diesem Begriff auch bezeichnen. Und in dem Augenblick, wo man lacht, wenn man den Begriff hört, ist die Epoche offenbar zu Ende. Zum Beispiel meine Großelterngeneration hatte wirklich eine Nation, also das Nationale war wirklich ein Ding. Die haben große Anstrengungen gemacht, dass Deutschland eine Nation wird. Und die konnten nicht einmal ein Butterbrot essen, ohne dass sie es in der Hand gehalten haben und dazu gesagt haben: „deutsches Brot, deutsche Butter”, und wir lachen darüber. Wir würden sagen, das ist doch egal, soll es von mir aus eine Irische Butter sein, wir sind in der EU. Aber das war eine Epoche und das erste, was ich in meiner Lebenszeit nach Kindheit und Jugend und Internatszeit als Epoche wahrgenommen habe, das war meine Studentenzeit. Da habe ich alles, was geschah, irgendwie so wie Fallspäne angeordnet gesehen vor dem großen Magnet ‚Freiheit’. Freiheit, Befreiung, Demokratisierung. Brandt hat gesagt: „Mehr Demokratie wagen!” und der Kreisky hat gesagt: „Durchflutung aller Lebensbereiche mit Demokratie!”, und Olaf Palme hat gesagt: „Wir müssen Demokratie endlich leben, nicht nur formal-institutionell erfüllen!”. Die ganzen Regierungschefs des Kontinents haben auch nur davon geredet und das Thema Freiheit und Befreiung ging dann ging dann ja eben bis ins Intimste — man konnte ja dann nicht vögeln, ohne dass man den Geschlechtstrieb befreit und Sexualität befreit, also alles musste immer befreit werden. Man hat auch kein Kind in die Schule gebracht, sondern man hat mit dem Kind die Schule befreit und die Pädagogik befreit und dann ist man heim gegangen und hat sich befreit von den Ernährungsgewohnheiten der Elterngeneration. Und die Frauen haben sich befreit und die Männer haben sich in dem Schatten der Frauen befreit und alles hat sich befreit. Da hat man plötzlich kein Butterbrot essen können, ohne ein Butterbrot zu befreien sozusagen. Und dann hat man begriffen, dass allein die Vorstellung ja etwas Lächerliches hat. Da denkt man sich, was ist da passiert? Dann ist mir eingefallen, ja, irgendwo gibt es eine Zäsur. Ab dem Moment war nicht mehr Freiheit der große Begriff, sondern Sicherheit. Und kaum hatte ich fertig studiert und meinen Beitrag zur Befreiung der Universitäten geliefert, wimmelt es von Studenten, die überhaupt nicht interessiert sind an Freiheit, weil sie wollen sichere Studienplätze und sichere Arbeitsplätze, wollen nur Sicherheit und machen Safer Sex. Das geht so weit, dass sie sich Sicherheitsnadeln in die Wangen stecken und so weiter. Ein großer Begriff hat ausgedient und ein neuer begonnen. Und von da an ist ein Epochenwechsel vollzogen. Das ist faszinierend. Und ich glaube, dass die Missverständnisse, die immer als Missverständnisse zwischen Generationen interpretiert werden, in Wirklichkeit keine Missverständnisse zwischen den Generationen sind, sondern Paradigmenwechsel. Und die drücken sich zufälligerweise darin aus, dass der Sohn in einem Schatten eines anderen Paradigmas sozialisiert wurde. Und ich glaube, dass das sehr viele Erklärungsmuster ermöglicht, wenn wir uns das vor Augen halten.
SCHAU INS BLAU: Lieber Herr Menasse, wir danken Ihnen ganz herzlich für das Gespräch.
Robert Menasse wurde 1954 in Wien geboren und ist auch dort aufgewachsen. Er studierte Germanistik, Philosophie sowie Politikwissenschaft in Wien, Salzburg und Messina und promovierte im Jahr 1980 mit einer Arbeit über den “Typus des Außenseiters im Literaturbetrieb”. Menasse lehrte anschließend sechs Jahre – zunächst als Lektor für österreichische Literatur, dann als Gastdozent am Institut für Literaturtheorie – an der Universität São Paulo. Dort hielt er vor allem Lehrveranstaltungen über philosophische und ästhetische Theorien ab, u.a. über: Hegel, Lukács, Benjamin und Adorno. Seit seiner Rückkehr aus Brasilien 1988 lebt Robert Menasse als Literat und kulturkritischer Essayist hauptsächlich in Wien.