“Es geht immer nur ums Erzählen!”

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Ein Gespräch mit Robert Menasse

von Agnes Bidmon

Schau ins Blau traf den Autor und Essay­is­ten Robert Men­as­se anläss­lich des Erlan­ger Poe­ten­fes­tes und sprach mit ihm über den immer fremd blei­ben­den Zugang zur Unmit­tel­bar­keit des Lebens und der Erin­ne­run­gen, über den Pro­zess des Erzäh­lens, über Zeit­ge­nos­sen­schaft und das Epo­chen­den­ken. Ein Gespräch mit einem der kri­ti­schen Den­ker unse­rer Zeit.

SCHAU INS BLAU: Lie­ber Herr Men­as­se, in Ihrem aktu­el­len Erzäh­lungs­band Ich kann jeder sagen spielt der Kom­plex von Erin­nern und Ver­ges­sen wie­der eine pro­mi­nen­te Rol­le. Ins­be­son­de­re die Unzu­ver­läs­sig­keit von Erin­ne­run­gen ist ja schon immer ein gro­ßes The­ma Ihrer Tex­te gewe­sen, eben­so wie die gleich­zei­tig unab­ding­ba­re Not­wen­dig­keit von Erin­ne­run­gen. Damit ver­bun­den ist aber immer ein zwangs­läu­fig defi­zi­tä­res Erin­nern von his­to­ri­scher ‚Wahr­heit’, die es als sol­che ja nicht geben kann. Ist das moment­haf­te Her­aus­grei­fen von Sze­nen aus einem Leben mit­hil­fe einer Art „Zeit­mi­kro­skop” — wie Sie es in Ihrem aktu­el­len Buch schil­dern — eine Ver­fah­rens­wei­se, um pro­duk­tiv mit die­sem Dilem­ma von Erin­ne­run­gen umzu­ge­hen, indem sich die ‚gro­ße Geschich­te’ in pri­va­ten Lebens­ent­wür­fen offen­bart und spiegelt?

ROBERT MENASSE: Ich glau­be es geht nicht anders. Wenn man ganz ehr­lich mit sich selbst ist und sich fragt, wie plas­tisch und prä­zi­se ich mich erin­nern kann an den gro­ßen Bogen mei­ner Lebens­zeit, dann wird man fest­stel­len, dass sehr, sehr wenig wirk­lich übrig bleibt. Es gibt ja psy­cho­ana­ly­ti­sche Erklä­run­gen dafür, war­um man not­wen­di­ger­wei­se viel ver­ges­sen muss. Es wür­de das Leben, das in die Zukunft gerich­te­te Leben, voll­kom­men blo­ckie­ren. Aber es ist schon erstaun­lich, dass man zum Bei­spiel — man kann das ganz ein­fach bei sich selbst tes­ten — im Nor­mal­fall zum Bei­spiel ein schlech­ter Zeu­ge vor Gericht wäre.

SCHAU INS BLAU: Die­se Gedan­ke wird ja auch in der Erzäh­lung Die blau­en Bän­de aufgegriffen.

ROBERT MENASSE: Das ist ja auch wirk­lich ein inter­es­san­tes Phä­no­men: Man erlebt etwas Dra­ma­ti­sches, was einen scho­ckiert, wo man Adre­na­lin­aus­schüt­tun­gen hat und ganz alert wird, und greift dann auch noch ein, schafft also noch die­se Dif­fe­renz zu vie­len ande­ren, die ein­fach nur dabei­ste­hen und gaf­fen. Man schaut und han­delt also und dann, rela­tiv kur­ze Zeit spä­ter, steht man vor Gericht und soll etwas bezeu­gen und man wird voll­kom­men unsi­cher. Man weiß es nicht mehr genau. Und umge­kehrt weiß jeder auch aus eige­ner Erfah­rung, dass Din­ge, die man oft erzählt hat, mit der Zeit, je öfter man das erzählt, immer plas­ti­scher werden.

SCHAU INS BLAU: Signi­fi­kan­ter­wei­se wäh­len Sie für Ihre Erzäh­lun­gen in Ihrem neu­en Band ja immer die Per­spek­ti­ven von Ich-Erzäh­lern, also die Auto­die­ge­se. Stellt dies ein Ver­fah­ren dar, um sowohl der Welt­ge­schich­te als auch der ver­meint­li­chen Auto­bio­gra­phie nar­ra­tiv gerecht zu wer­den, weil die Per­spek­ti­ve ja von vorn­her­ein — anders als eine ver­meint­lich objek­ti­ve Erzäh­lung in der drit­ten Per­son — ihre Sub­jek­ti­vi­tät schon im Moment des Erzäh­lens markiert?

ROBERT MENASSE: Ich lie­be ja manch­mal das Simp­le. Ich war so ein intel­li­gen­ter Stu­dent, der so kom­plex über Hegel dis­ku­tie­ren konn­te, dass ich mich zu mei­ner Befrei­ung dann manch­mal her­ab­las­se auf ein­fa­che The­sen. Die­se gan­ze Fra­ge des lite­ra­ri­schen Erzäh­lens kann man auf­spal­ten in zwei, oder letzt­end­lich drei Mög­lich­kei­ten. Aber die drit­te inter­es­siert mich am wenigs­ten, dar­um den­ke ich immer an zwei. Die eine ist das Erzäh­len in drit­ter Per­son: der all­wis­sen­de, der aukt­oria­le Erzäh­ler, der alles weiß. Das ist der Erzäh­ler mit dem Ges­tus des Schöp­fer­got­tes. Er erschafft eine Welt, besie­delt sie mit Men­schen, weiß alles von ihnen und hat noch die Gewalt, dass er sogar noch das Wet­ter gestal­tet, so dass es zum Schick­sal der Haupt­hel­den passt. Und dann gibt es den Ich-Erzäh­ler, und der weiß eben nicht alles. Das ist der, der eben wirk­lich nur „ich” sagen kann und nur das weiß, was er glaubt, ver­bür­gen zu kön­nen, oder was er sich traut zu behaup­ten. Und mehr Mög­lich­kei­ten hat er nicht. Ich kann nicht eine Ich-Erzäh­lung schrei­ben und sagen: „Dann sah ich sie an und sie dach­te…”. Das ist eine beschränk­te Palet­te. Im Hin­blick auf die Fra­ge der Erin­ne­run­gen ist eigent­lich nur das Erzäh­len der ers­ten Per­son glaub­haft. Vor allem für den Men­schen mei­ner Gene­ra­ti­on, der auch bereits sei­ne geis­ti­gen Moden durch­schrit­ten hat und schon auf eini­ges zurück­bli­cken kann. Zum Bei­spiel bli­cke ich ja zurück — als ehe­ma­li­ger Stu­dent auch der Geschichts­wis­sen­schaf­ten — auf die Mode der Oral Histo­ry, die eine Zeit lang sozu­sa­gen als Authen­ti­zi­täts­fe­tisch des His­to­ri­kers galt. Das lite­ra­ri­sche Erzäh­len in der ers­ten Per­son ist aber, also wenn man es so macht, wie ich es jetzt ver­ste­he, eine kunst­vol­le Anord­nung und eben nicht Oral Histo­ry, obwohl es vor­der­grün­dig so scheint. Denn wenn ich rea­lis­tisch Erleb­tes als Erzähl­an­ord­nung vor­aus­set­ze und mir einen Freund erfin­de, der mir dann die real erleb­te Geschich­te erzählt, ist es eben Lite­ra­tur und dann unter­läuft es das Prin­zip der Oral Histo­ry. Die­se Geschich­te fasst in der Regel viel mehr Erfah­run­gen zusam­men als einer wirk­lich haben konn­te, oder schafft es, mit viel weni­ger Erfah­run­gen, als einer tat­säch­lich gehabt hat, das Pan­ora­ma irgend­wie aus­zu­leuch­ten, wie das mensch­li­ches Schick­sal sein kann. Die drit­te Mög­lich­keit des Erzäh­lens, die es noch gibt, ist dann das rei­ne Sprach­spiel. Aber, wie gesagt, das inter­es­siert mich nicht.

SCHAU INS BLAU: Damit kom­men wir zu einer wei­te­ren Dia­lek­tik, die sehr span­nend ist, gera­de im Kon­text und Kon­nex mit der Auto­bio­gra­fie. Das Sub­jekt erzählt, was es ist, es erzählt sich folg­lich immer wie­der selbst, um sich sei­ner Selbst zu ver­si­chern. Gera­de bei der Geschich­te Das Ende des Hun­ger­win­ters 1944 wird dies the­ma­ti­siert, wofür eine ritua­li­sier­te Form des Erzäh­lens prak­ti­ziert wird, denn immer wie­der wird die glei­che Geschich­te erzählt…

ROBERT MENASSE: … das haben ganz weni­ge begrif­fen, dass es in der Geschich­te zumin­dest genau so sehr um das Pro­blem des ritua­li­sier­ten Erzäh­lens geht wie um das, was der Vater erzählt. Es haben eini­ge auf die Erzäh­lung reagiert, wie dra­ma­tisch oder berüh­rend sozu­sa­gen der Plot ist, also das Erzähl­te. Und ich bin immer sehr froh, wenn man tie­fer geht und mir dafür hul­digt, dass ich nicht nur das Erzähl­te, son­dern auch die Art und Wei­se, wie man es erzählt, mit­re­flek­tiert habe in der Erzäh­lung. Aber in Wirk­lich­keit ist ja das das The­ma. Dar­um geht es ja auch in der Ver­trei­bung aus der Höl­le. Dar­um geht es ja auch in mei­ner Roman­tri­lo­gie. Dort geht es ja bei­spiels­wei­se auch dar­um, dass ein und der­sel­be Sach­ver­halt ein­mal als Selbst­mord und ein­mal als Mord beschrie­ben und dar­ge­stellt wird. Die objek­ti­ven Fra­gen sind dabei immer die­sel­ben, aber es ist kei­ne Detek­tivsto­ry, wo man sich fragt, was von bei­dem ist es jetzt? Viel­mehr kommt es auf die Erzäh­ler­po­si­ti­on an, wie man die Fak­ten zu einer schlüs­si­gen Geschich­te ordnet.

SCHAU INS BLAU: Die ande­re Sei­te des ange­spro­che­nen dia­lek­ti­schen Moments ist ja, dass man sich selbst durch das Hin­zu­phan­ta­sie­ren und Hin­zu­fü­gen eine Iden­ti­tät kon­stru­iert und kon­sti­tu­iert. Es ist also ein per­ma­nen­tes Wech­sel­spiel von einer Rechen­schaft von sich selbst auf der einen Sei­te und auf der ande­ren Sei­te erst zu einem Selbst wer­den zu kön­nen durch das Erzäh­len. Beinhal­tet das Erzäh­len also ein Moment des Sich-(Er)Findens und somit ein exis­ten­ti­el­les Moment der Identitätskonstitution?

ROBERT MENASSE: Das ist in der Tat exis­ten­zi­ell. Ich glau­be, dass sich wirk­lich alles auf­hört, wenn man nicht mehr erzäh­len wür­de. Es wäre so wie wenn auf ein­mal ein rie­si­ger Appa­rat den Sau­er­stoff weg­zie­hen wür­de von unse­rem Pla­ne­ten und wir alle zusam­men­sin­ken wür­den und ersti­cken. Wir waren immer wie­der schon knapp davor, weil es immer wie­der his­to­ri­sche Situa­tio­nen gab, in denen die Men­schen ein­fach nicht mehr erzäh­len konn­ten — per­fi­der­wei­se egal, wo sie sich in der his­to­ri­schen Situa­ti­on befun­den haben: Die Täter konn­ten nicht erzäh­len, weil sie ja ver­schwei­gen woll­ten, dass sie Täter waren. Und die Opfer konn­ten nicht erzäh­len, weil sie ver­schwei­gen woll­ten, dass sie gede­mü­tigt wur­den. Und das waren dann sol­che Situa­tio­nen, wo auf ein­mal fast so ein sau­er­stoff­lee­rer Pla­net da war. Dann wur­de der mehr oder weni­ger mora­li­sche Impe­tus auf den Plan geru­fen: Wir müs­sen das alles rekon­stru­ie­ren, wir müs­sen das erfah­ren, wir müs­sen die letz­ten Zeit­zeu­gen noch aus­wrin­gen und aus­pres­sen und die Geschichts­wis­sen­schaft ist auf­ge­for­dert, uns zu erzäh­len, was ande­re erlebt haben oder wor­an sie gestor­ben sind, oder war­um sie ermor­det wur­den, damit wir das ver­mei­den kön­nen in Zukunft. Plötz­lich haben alle mög­li­chen Men­schen erzählt. Aber für mich zum Bei­spiel ist es bezeich­nend, dass in der Zeit, als wir uns alle wahn­sin­nig schwer getan haben mit dem Erzäh­len und zwar in ers­ter Linie die­je­ni­gen, die aus his­to­ri­schen Grün­den etwas zu erzäh­len hat­ten, dass genau in die­ser Zeit in der Lite­ra­tur Erzähl­ver­bot herrsch­te. Das waren die­se voll­kom­men ver­blö­de­ten und mora­lisch ver­rot­te­ten 60er und 70 Jah­re, in denen nie­man­dem auf­ge­fal­len ist, dass es — zumin­dest in Deutsch­land — his­to­ri­sche Grün­de für ein Erzähl­pro­blem gab. Die Nazi­kin­der haben „Schluss mit dem Erzähl­ver­dikt” for­mu­liert und man hat das noch Avant­gar­de genannt. Und man hat geglaubt, bei den Nazis wäre das ent­ar­tet gewe­sen, also ist es anti-faschis­tisch. In Wirk­lich­keit war es der blan­ke Faschis­mus, weil es ein Ver­schwei­gen die­ses his­to­ri­schen Kapi­tels war. Es gibt manch­mal Situa­tio­nen, in denen das Erzäh­len in die Defen­si­ve gerät, aber dann bricht es wie­der auf und dann stellt sich wie­der her­aus: am Ende stimmt immer der Satz von Bal­zac. Wahr­schein­lich ist der Satz schon 10.000 Jah­re alt. Wir wis­sen es nicht. Ich ken­ne ihn zufäl­lig von Bal­zac: „Was hat der Schrift­stel­ler zu tun? Er muss erzäh­len, wie es zu sei­ner Zeit gemacht wur­de, so dass die Zeit­ge­nos­sen sich wie­der­erken­nen und dass spä­te­re Gene­ra­tio­nen uns ver­ste­hen.” Das ist ein wahn­sin­nig schlau­er Satz, das ist die Kunst. Und dann kommt so ein Nazi­bub, der immer nur Sprach­spie­le macht und sagt: “Erzäh­len ist ver­bo­ten”. Der soll mal erklä­ren, war­um das reak­tio­när ist, was für die kom­men­den Gene­ra­tio­nen so befrei­end dar­an ist, was er macht. Es geht immer nur ums Erzählen!

SCHAU INS BLAU: Könn­te man also sagen, dass die­se Form des Erzäh­lens von Erin­ner­tem, von Gewe­se­nem und vor allem natür­lich von Zeit­ge­nos­sen­schaft, von Zeit­zeu­gen­schaft ein Ange­bot für Erfah­run­gen für die nach­fol­gen­den Gene­ra­tio­nen ist? Etwas, das man ihnen durchs Erzäh­len mit­ge­ben und ein Ver­ste­hen des für sie Ver­gan­ge­nen ermög­li­chen kann? Birgt die Lite­ra­tur in der Aus­ein­an­der­set­zung mit dem, was war, dann somit viel­leicht doch eine Form von Zukunfts­op­ti­mis­mus, trotz des Bewusst­seins der poten­ti­el­len Wie­der­hol­bar­keit der Geschichte?

ROBERT MENASSE: In Kunst und Lite­ra­tur spie­gelt sich jedes Ich sozu­sa­gen in der Idee des Mensch­seins. Und gleich­zei­tig ist es so, dass jede Erzäh­lung eigent­lich die Erzäh­lung von Defi­zi­ten ist. Ich glau­be, dass das im Para­dies auf­hört, aber eben erst im Para­dies. Da gibt’s nichts mehr zu erzäh­len. Wir haben auch kei­ne Erzäh­lun­gen vom Para­dies, son­dern erst von der Ver­trei­bung aus dem Para­dies. Und wenn wir den Hin­ter­ein­gang wie­der fin­den, hört das Erzäh­len auf und bis dahin ist prak­tisch jedes gelun­ge­ne Stück Lite­ra­tur, auch jedes gelun­ge­ne Stück his­to­ri­sche Lite­ra­tur, das heu­te noch gele­sen wer­den kann und noch funk­tio­niert, ja eigent­lich ein Sym­ptom der Schan­de unse­rer Zeit­ge­nos­sen­schaft, weil das Pro­blem offen­bar noch immer nicht gelöst ist. Noch immer ist es eine uner­füll­te radi­ka­le gesell­schaft­li­che Uto­pie. Es hat sich ja als defi­zi­tä­re Rea­li­tät her­aus­ge­stellt, was im klas­si­schen Bil­dungs­ro­man beschrie­ben ist, dass man am Schluss, nach­dem man sich die Hör­ner abge­sto­ßen hat, sei­nen ver­nünf­ti­gen Platz in der Gesell­schaft fin­det. Mit­nich­ten. Es ist ja jedes Stück Lite­ra­tur ein Stück Schan­de, dar­um geht es auch. In der Lite­ra­tur spie­gelt sich jedes Indi­vi­du­um in der Iden­ti­tät des Mensch­seins. Und aus die­sem Grund bleibt am Ende immer nur die Erzäh­lung über. Es gibt zwar immer wie­der Wel­len und Moden, aber wenn man jetzt zurück­denkt, die letz­ten 2000 Jah­re: was ist geblie­ben? In der Musik die Melo­die, in der bil­den­den Kunst das Bild, das Gegen­ständ­li­che, und in der Lite­ra­tur das Erzäh­len. Und alles ande­re ist letzt­end­lich untergegangen.

SCHAU INS BLAU: Wel­che Rol­le spielt bei die­ser Ver­or­tung des Sub­jekts in sei­ner unmit­tel­ba­ren Zeit und Exis­tenz die Rol­le des Gegen­übers? Wir haben jetzt viel von Erzäh­len gere­det, und das Erzäh­len ist ja etwas, das nie im Vaku­um pas­siert und immer eines Adres­sa­ten bedarf, um gelin­gen zu kön­nen und um in ein dia­lo­gi­sches Moment ein­zu­tre­ten, wovon aus­ge­hend dann eine Wahr­heit, eine Wirk­lich­keit aus­ge­han­delt wer­den kann. Aber es gibt ja auch die kör­per­li­che Iden­ti­tät, und u.a. ist auf­fäl­lig in Ihrem Buch, dass die Iden­ti­täts­su­che auch oft­mals über Sexua­li­tät codiert ist. Ist damit eine Mög­lich­keit ver­bun­den, in einer neu­en Form zu sich zurück fin­den oder sich neu zu for­men? Oder dient das Gegen­über eher als Pro­jek­ti­ons­flä­che, um sich selbst in irgend­ei­ner Form wiederzuerkennen?

ROBERT MENASSE: Ich habe da kei­ne Theo­rie, von der ich aus­ge­he, wenn ich schrei­be. Aber wenn wir so grund­sätz­lich dar­über reden, fal­len mir zwei Din­ge ein, die ich wesent­lich fin­de. Das eine ist, dass sexu­el­le Iden­ti­tät ein ganz wesent­li­cher Bestand­teil von Iden­ti­tät über­haupt ist. Man kann nicht „ich” sagen und voll­kom­men abse­hen von so einer sexu­el­len Iden­ti­tät, weil es die kör­per­li­che Iden­ti­tät prägt und v. a. den Blick auf die Welt. Und das zwei­te ist — viel­leicht auch ein Män­ner­pro­blem, das weiß ich nicht, aber unter der Vor­aus­set­zung, dass ich eben ein Mann bin und noch nie vor­her eine Frau war -, dass in die­sem Fra­gen­kom­plex, den wir zurecht kom­plex nen­nen, ein ganz eigen­tüm­li­cher real-uto­pi­scher Moment schlum­mert, näm­lich: Es gibt Men­schen die gute Grün­de haben, Erlö­sung von sozia­len Pro­ble­men oder sons­ti­gen Pro­ble­men, poli­ti­schen Pro­ble­men wirk­lich zu erseh­nen und es ist nicht aus­ge­macht, dass sie über­haupt auf den Gedan­ken kom­men, dass sie viel­leicht eine ver­steck­te Sehn­sucht haben. Aber auf alle Fäl­le haben Men­schen — also ich glau­be zumin­dest Män­ner — immer wie­der die Phan­ta­sie, dass das ande­re Geschlecht, also Frau­en, die zwei­te Hälf­te des Gesamt­menschen sozu­sa­gen bil­den, sie also erlö­sen können.

SCHAU INS BLAU: Also eine Art Einheitsphantasma?

ROBERT MENASSE: Ja. Ich glau­be, es gibt in der Sexua­li­tät eine ganz star­ke uto­pi­sche Erlö­sungs­sehn­sucht. Ich glau­be, das ist auch der Mes­sia­nis­mus in der Reli­gi­on. Men­schen wol­len erlöst wer­den, sie wol­len irgend­wann ein­mal glück­lich sein. Und der Erlö­ser, das ist die Rück­ho­lung der männ­li­chen Sehn­sucht nach Erlö­sung auch ins eige­ne Geschlecht eigentlich.

SCHAU INS BLAU: Ist das viel­leicht auch ein Zeit­phä­no­men in einer viel­be­schwo­re­nen Zeit ‚nach den Uto­pien’, sich in einer indi­vi­du­el­len Glücks­sehn­sucht ver­wirk­li­chen zu wollen?

ROBERT MENASSE: Das war ja umge­kehrt. Das war ja so, dass man in der Zeit der gro­ßen Uto­pien geglaubt hat, man kann die Uto­pien beför­dern, wenn man sich von ihnen befreit. Man kann also eine Trieb­kraft frei­set­zen. Das war ja Unsinn. Jedes nor­ma­le den­ken­de Gemüt, das mit einem ande­ren Men­schen ins Bett geht und dabei vor die Auf­ga­be gestellt wird, eine gesell­schaft­li­che Pro­duk­tiv­kraft zu ent­fes­seln, in dem Moment muss es ja unter der Last zusam­men­bre­chen. Das ist ja voll­kom­men wahnsinnig!

SCHAU INS BLAU: Zu einem ande­ren The­ma und noch ein­mal den Bogen zurück zum The­ma Auto­bio­gra­fie. Es sind ja auch vie­le meta­nar­ra­ti­ve Kom­men­ta­re über das Schrei­ben von Auto­bio­gra­fien in Ihrem Text ent­hal­ten, ins­be­son­de­re in den „blau­en Bän­den”, wo ja auch der dezi­dier­te Absatz: „Auto­bio­gra­phien sind Lüge” ent­hal­ten ist. Zudem gibt es mehr­fach Ein­schü­be, in denen es inner­halb der auto­bio­gra­fi­schen Erzäh­lun­gen selbst heißt: „Wenn ich eine Auto­bio­gra­fie schrei­ben wür­de…”. Inten­die­ren Sie damit, die Gat­tungs­poe­tik die­ser ver­meint­lich authen­tischs­ten und unmit­tel­bars­ten Gat­tung sub­ver­siv zu unter­lau­fen und zu über­schrei­ben und immer wie­der den fik­tio­na­len Cha­rak­ter und die eigent­lich dahin­ter ste­hen­de Erzähl­per­spek­ti­ve anzuzeigen?

ROBERT MENASSE: Ja, dar­um ging es ja, um den Ein­druck, ers­tens zu zei­gen, wie naiv auto­bio­gra­fi­sches Erzäh­len ist, um die Nai­vi­tät vor­zu­füh­ren. Und zwei­tens aber gleich­zei­tig zu zei­gen, dass man durch­aus kom­ple­xe Geschich­ten ver­mit­teln kann, oder Gesche­he­nes, oder Erleb­tes, sobald man die­se Situa­ti­on reflek­tiert, ohne dass es des­we­gen wahn­sin­nig viel kom­pli­zier­ter sein muss als die naiv erzähl­te Geschich­te. Der Unter­schied ist eben nur die Fra­ge, ob ich das mit­re­flek­tie­re oder nicht.

SCHAU INS BLAU: Ein wei­te­res span­nen­des Moment sind die ver­schie­de­nen Geschichts­kon­zep­tio­nen, die inner­halb der Spie­ge­lun­gen von his­to­ri­schen Ereig­nis­sen neben­ein­an­der ste­hen. Es sind ja auch ver­meint­lich bana­le Ereig­nis, wie z.B. das Euro­pa­meis­ter­schafts­end­spiel Grie­chen­lands, die neben Erzäh­lun­gen arran­giert sind, die die Shoa auf­grei­fen, das Atten­tat in Chi­le oder die Wen­de ‘89. Kann das als Plä­doy­er für die Nivel­lie­rung von Geschichts­nar­ra­ti­ven, also gegen die Hier­ar­chi­sie­rung von Kon­zep­tio­nen, gele­sen werden?

ROBERT MENASSE: Jeder Mensch hat rela­tiv gleich­wer­tig dra­ma­ti­sche und weni­ger dra­ma­ti­sche, aber ihn zufäl­lig doch irgend­wie prä­gen­de Erleb­nis­se, die mit irgend­ei­nem objek­ti­ven Gesche­hen ver­bun­den sind. Der­je­ni­ge, der sich nur erin­nern könn­te an Ken­ne­dys Mord und anschlie­ßend trinkt er was und sonst weiß er nichts mehr, wäre ja ein Unmensch. Ein nor­ma­ler Mensch kann sich eben, also wenn es ein Mann mei­ner Gene­ra­ti­on ist, dann kann er sich erin­nern, wie Grie­chen­land Fuß­ball­eu­ro­pa­meis­ter wur­de, zum Beispiel.

SCHAU INS BLAU: Frau­en auch übrigens…

ROBERT MENASSE: Aber viel­leicht ist es auch nicht, wie Grie­chen­land Fuß­ball­eu­ro­pa­meis­ter wur­de, son­dern wie Rapid Wien Cel­tic Glas­gow aus dem Euro­pa­cup warf. Aber das ist eben weni­ger para­dig­ma­tisch, weni­ger gut para­dig­ma­tisch zu erzäh­len. Dar­um wählt man dann eben die­ses Bei­spiel. Aber, wenn man dar­über nach­denkt, ist es ja unend­lich ver­blüf­fend, wie oft etwas ver­hält­nis­mä­ßig Bana­les, v.a. für Men­schen mei­ner Gene­ra­ti­on, prä­gend wur­de. Das hat mit ver­schie­de­nen Din­gen zu tun. Zuerst ein­mal damit, dass wir das Glück gehabt haben, ein hal­bes Jahr­hun­dert Lebens­zeit zu ver­brin­gen in Frie­den und sta­bi­len Ver­hält­nis­sen und regel­mä­ßi­gem Wachs­tum des Wohl­stands, ohne grö­ße­re dra­ma­ti­sche Ereig­nis­se. Und trotz­dem haben wir ja eine Bio­gra­fie gehabt, trotz­dem ist auf der Welt ja alles Mög­li­che pas­siert. Aber wir selbst waren wirk­lich glück­lich ein­ge­lullt und das war auch das Schö­ne unse­res Lebens. Das Pri­vi­leg, das wir hat­ten, wenn man in einer ele­gan­ten Loge sitzt und unten auf der Büh­ne wird Ken­ne­dy erschos­sen, aber man sitzt in der Loge und man weiß: da pas­siert nichts. Und wenn Feu­er aus­bricht, ret­tet mich der Feu­er­wehr­mann, der hin­ter mir schon zur Sicher­heit parat steht. Dann hat alles irgend­wie so einen leicht thea­tra­li­schen Tick, und dann genügt es, wenn man zum Bei­spiel sei­nen ers­ten Kuss zufäl­lig gibt, in dem Moment, wo Yel­low River in der Dis­co gespielt wird. Und dann erin­nert man sich sein gan­zes Leben, wenn man irgend­wo wie­der in der Nost­al­gie schwel­gend im Radio­pro­gramm Yel­low River hört, an den ers­ten Kuss. Erin­ne­rung funk­tio­niert so. Ich habe den Ken­ne­dy-Mord, der am Tag mei­nes ers­ten Kus­ses war, nicht gebraucht, damit ich mich an mei­nen ers­ten Kuss erin­ne­re, ver­ste­hen Sie? Das sind gleich­wer­ti­ge Sachen. Es gibt Mar­kie­run­gen, da erin­nert man sich und dann gibt es ande­re Din­ge. Das Repe­ti­ti­ve übt uns die Erin­ne­run­gen nicht ein, so Goe­the im Gespräch mit Ecker­mann, son­dern das Repe­ti­ti­ve löscht die Erin­ne­rung aus. Das ist das gan­ze Geheim­nis. Es ist nir­gends gesagt, dass etwas ganz Dra­ma­ti­sches gesche­hen muss. Es muss nur ein­fach irgend­et­was pas­sie­ren. Nicht immer und nicht regel­mä­ßig. Und regel­mä­ßig war Frie­de und wir haben Chan­cen gehabt und wach­sen­den Wohl­stand und wir haben kei­ne Angst haben müs­sen. Es war ganz wit­zig eine Zeit lang, weil der Zeit­geist links war. Aber in Wirk­lich­keit ist es ja ein ein­zi­ges gro­ßes Ein­ge­lullt-Sein. Und dann, was ist pas­siert? Dann sagt man, es ist ja kein Zufall — mei­ner Mei­nung nach -, dass zum Bei­spiel die Jour­na­lis­ten, die unge­fähr so alt sind wie ich, die­sen gan­zen Kult der Fra­ge ent­wi­ckelt haben „Wo warst du, als…?”. Ich glau­be, dass mei­ne Eltern und mei­ne Groß­el­tern, die wirk­lich dra­ma­ti­sche Situa­tio­nen erlebt haben, sich damit begnügt hät­ten, dass man in der Zei­tung liest: „30. Jah­res­tag des Kriegs­en­des”, aber nicht: „Wo warst du, als…?”. Und die­se Gene­ra­ti­on, die in Wirk­lich­keit nichts erlebt hat, die kul­ti­viert plötz­lich die­se Fra­ge „Wo warst du, als…?”. Aber wir haben Ant­wor­ten dar­auf, das ist ja das Spannende.

SCHAU INS BLAU: Ein wei­te­rer inter­es­san­ter Aspekt im Zusam­men­hang mit dem Akt des Erzäh­lens ist ja, dass die ers­te und die letz­te Geschich­te Ihres Buches eine Art poe­to­lo­gi­sche Rah­mung des Ban­des bil­den. Die bei­den Geschich­ten, die pro­gram­ma­ti­scher­wei­se auch noch Begin­nen und Schluss machen hei­ßen spie­geln die­se Pro­ble­ma­tik des Anfan­gens und des Schluss­satz-Fin­dens noch ein­mal in nuce und wecken beim Leser, zusam­men mit den zahl­rei­chen poly­pho­nen Erzähl­stim­men des Buches, die Asso­zia­ti­on an eine Art aktu­el­len Novell­enzy­klus. Inwie­fern könn­te man den Band also auch in die Tra­di­ti­on die­ser aktu­el­len Revi­ta­li­sie­rung des novel­lis­ti­schen Erzäh­lens einordnen?

ROBERT MENASSE: Das habe ich mit­ge­dacht. Das habe ich viel­leicht nicht so radi­kal und so kon­se­quent, wie es mög­lich gewe­sen wäre, getan, son­dern ich habe das ein­fach als Spiel und als Mög­lich­keit mit­ge­nom­men, nach­dem die­se Erzäh­lun­gen grund­sätz­lich schon die­sen Zusam­men­hang hat­ten. Wenn man das jetzt for­mal ganz radi­kal durch­spielt, dann käme man ja noch ganz woan­ders hin, aber ich woll­te die Erzäh­lun­gen und die Fra­ge­stel­lung an die Erzäh­lun­gen jetzt nicht in den Schat­ten des for­ma­len Spiels stel­len. Dar­um hat mir das so genügt, aber die bei­den schul­di­gen Pro­ble­me, also den Rah­men des Einen, der nicht weiß, wie er anfan­gen soll zu erzäh­len, und des ande­ren, der nicht weiß, wie er auf­hö­ren soll, habe ich auf mei­ne infan­til kin­di­sche Wei­se für wit­zig emp­fun­den und es damit aber auch bewen­den las­sen. Ich bin ein­fach manch­mal kin­disch und ich fin­de als Künst­ler habe ich auch ein Recht dar­auf — ein Men­schen­recht auf Infan­ti­li­tät, genau­so wie ich ein Men­schen­recht dar­auf habe, miss­ach­tet wer­den habe. Ich fin­de es nur inter­es­sant, dass von fünf Kri­ti­ken, die erschie­nen sind, drei Kri­ti­ker geschrie­ben haben, die letz­te Erzäh­lung über den Kri­ti­ker sei die Schwächs­te, die hät­te man sich spa­ren kön­nen. Aber das hat wohl auch damit zu tun, dass sich Kri­ti­ker mit Empa­thie schwer tun, außer es steht expli­zit im Text „Kri­ti­ker”. Offen­sicht­lich ist es so, ich weiß es nicht.

SCHAU INS BLAU: Die bei­den Erzäh­lun­gen bil­den doch aber gera­de einen pro­gram­ma­ti­schen Zir­kel­schluss, der auch wie­der­um einen Kon­nex von Ende und Anfang her­stellt und somit auch auf die von Ihnen bereits ange­spro­che­ne Unend­lich­keit des Erzäh­lens ver­weist. Ein The­ma, das Sie ja auch schon in der Ver­trei­bung aus der Höl­le the­ma­ti­siert hat­ten mit­hil­fe des para­tex­tu­el­len Spiels des Inhalts­ver­zeich­nis­ses am Ende.

ROBERT MENASSE: Ich fin­de auch, ja. Das Inhalts­ver­zeich­nis bei der Ver­trei­bung aus der Höl­le, das ist mir auch emi­nent wich­tig, weil das wirk­lich in die Struk­tur des Romans ein­greift: Ein Inhalts­ver­zeich­nis zu machen und jedes Kapi­tel auf­zu­lis­ten, aber kei­ne Sei­ten­an­ga­be zu machen — so funk­tio­niert ja Geschichts­schrei­bung. Die Epo­chen wer­den ja ent­schie­den von denen, die die Epo­chen gele­sen haben. Und die sagen dann: „von… bis… war Renais­sance, oder von…bis…war Hoch­mit­tel­al­ter.” Und es ist ja nicht so, dass in der Früh eine Mensch­heit auf­wacht und dann sagen sie: „Wow, das Hoch­mit­tel­al­ter ist zu Ende!”, son­dern das ist ja die Zuschrei­bung des­sen, der die gan­zen Quel­len gele­sen hat. Und ich woll­te ein­fach, dass der Leser das sel­ber macht. Es geht um Geschich­te in dem Roman, es geht um den Zugang oder dar­um, wie wir Geschich­te begrei­fen kön­nen, oder wie wir sie erin­nern kön­nen und dann woll­te ich, dass der Leser, wenn er es gele­sen hat, selbst die Epo­chen­ein­tei­lung vor­nimmt. Ich mache einen Vor­schlag: fünf Epo­chen, aber er soll sel­ber ent­schei­den, wann die eine Epo­che auf­hört und die ande­re beginnt. Das ist eine Fra­ge, die mich immer inter­es­siert hat: Wann beginnt eine Epo­che und wann endet eine Epo­che — die­ses Epo­chen­den­ken fin­de ich emi­nent faszinierend.

SCHAU INS BLAU: Viel­leicht auch als Art des mythi­schen Zwangs zur Sinn­stif­tung des Men­schen, um durch Klas­si­fi­ka­tio­nen Ord­nung ins Cha­os des Seins zu bringen?

ROBERT MENASSE: Es ist eine Mischung aus Mytho­lo­gie und ganz radi­ka­lem Rea­li­täts­den­ken. Ich glau­be manch­mal, dass man eine Epo­che wirk­lich nur begrei­fen kann, wenn man ihre Rea­li­tät begreift. Und alles, was auf der Welt irgend­wann ein­mal begon­nen hat, ist end­lich. In mei­nem letz­ten Roman habe ich die­se Fra­ge ja ganz offen­siv gestellt und da habe ich selbst gelernt, dass es oft wirk­lich nur über die Begriff­lich­keit struk­tu­riert ist. Es gibt Zei­ten, die leben ein­deu­tig unter der strah­len­den Son­ne, oder im Schat­ten eines gro­ßen Begriffs und solan­ge die­ser gro­ße Begriff das Den­ken und Han­deln, Stre­ben und Seh­nen der Men­schen irgend­wie beein­flusst, leben sie in einer Epo­che. Und die­se Epo­che kann man dann irgend­wann ein­mal mit die­sem Begriff auch bezeich­nen. Und in dem Augen­blick, wo man lacht, wenn man den Begriff hört, ist die Epo­che offen­bar zu Ende. Zum Bei­spiel mei­ne Groß­el­tern­ge­nera­ti­on hat­te wirk­lich eine Nati­on, also das Natio­na­le war wirk­lich ein Ding. Die haben gro­ße Anstren­gun­gen gemacht, dass Deutsch­land eine Nati­on wird. Und die konn­ten nicht ein­mal ein But­ter­brot essen, ohne dass sie es in der Hand gehal­ten haben und dazu gesagt haben: „deut­sches Brot, deut­sche But­ter”, und wir lachen dar­über. Wir wür­den sagen, das ist doch egal, soll es von mir aus eine Iri­sche But­ter sein, wir sind in der EU. Aber das war eine Epo­che und das ers­te, was ich in mei­ner Lebens­zeit nach Kind­heit und Jugend und Inter­nats­zeit als Epo­che wahr­ge­nom­men habe, das war mei­ne Stu­den­ten­zeit. Da habe ich alles, was geschah, irgend­wie so wie Fall­spä­ne ange­ord­net gese­hen vor dem gro­ßen Magnet ‚Frei­heit’. Frei­heit, Befrei­ung, Demo­kra­ti­sie­rung. Brandt hat gesagt: „Mehr Demo­kra­tie wagen!” und der Krei­sky hat gesagt: „Durch­flu­tung aller Lebens­be­rei­che mit Demo­kra­tie!”, und Olaf Pal­me hat gesagt: „Wir müs­sen Demo­kra­tie end­lich leben, nicht nur for­mal-insti­tu­tio­nell erfül­len!”. Die gan­zen Regie­rungs­chefs des Kon­ti­nents haben auch nur davon gere­det und das The­ma Frei­heit und Befrei­ung ging dann ging dann ja eben bis ins Intims­te — man konn­te ja dann nicht vögeln, ohne dass man den Geschlechts­trieb befreit und Sexua­li­tät befreit, also alles muss­te immer befreit wer­den. Man hat auch kein Kind in die Schu­le gebracht, son­dern man hat mit dem Kind die Schu­le befreit und die Päd­ago­gik befreit und dann ist man heim gegan­gen und hat sich befreit von den Ernäh­rungs­ge­wohn­hei­ten der Eltern­ge­nera­ti­on. Und die Frau­en haben sich befreit und die Män­ner haben sich in dem Schat­ten der Frau­en befreit und alles hat sich befreit. Da hat man plötz­lich kein But­ter­brot essen kön­nen, ohne ein But­ter­brot zu befrei­en sozu­sa­gen. Und dann hat man begrif­fen, dass allein die Vor­stel­lung ja etwas Lächer­li­ches hat. Da denkt man sich, was ist da pas­siert? Dann ist mir ein­ge­fal­len, ja, irgend­wo gibt es eine Zäsur. Ab dem Moment war nicht mehr Frei­heit der gro­ße Begriff, son­dern Sicher­heit. Und kaum hat­te ich fer­tig stu­diert und mei­nen Bei­trag zur Befrei­ung der Uni­ver­si­tä­ten gelie­fert, wim­melt es von Stu­den­ten, die über­haupt nicht inter­es­siert sind an Frei­heit, weil sie wol­len siche­re Stu­di­en­plät­ze und siche­re Arbeits­plät­ze, wol­len nur Sicher­heit und machen Safer Sex. Das geht so weit, dass sie sich Sicher­heits­na­deln in die Wan­gen ste­cken und so wei­ter. Ein gro­ßer Begriff hat aus­ge­dient und ein neu­er begon­nen. Und von da an ist ein Epo­chen­wech­sel voll­zo­gen. Das ist fas­zi­nie­rend. Und ich glau­be, dass die Miss­ver­ständ­nis­se, die immer als Miss­ver­ständ­nis­se zwi­schen Gene­ra­tio­nen inter­pre­tiert wer­den, in Wirk­lich­keit kei­ne Miss­ver­ständ­nis­se zwi­schen den Gene­ra­tio­nen sind, son­dern Para­dig­men­wech­sel. Und die drü­cken sich zufäl­li­ger­wei­se dar­in aus, dass der Sohn in einem Schat­ten eines ande­ren Para­dig­mas sozia­li­siert wur­de. Und ich glau­be, dass das sehr vie­le Erklä­rungs­mus­ter ermög­licht, wenn wir uns das vor Augen halten.

SCHAU INS BLAU: Lie­ber Herr Men­as­se, wir dan­ken Ihnen ganz herz­lich für das Gespräch.

 

Robert Men­as­se wur­de 1954 in Wien gebo­ren und ist auch dort auf­ge­wach­sen. Er stu­dier­te Ger­ma­nis­tik, Phi­lo­so­phie sowie Poli­tik­wis­sen­schaft in Wien, Salz­burg und Mes­si­na und pro­mo­vier­te im Jahr 1980 mit einer Arbeit über den “Typus des Außen­sei­ters im Lite­ra­tur­be­trieb”. Men­as­se lehr­te anschlie­ßend sechs Jah­re – zunächst als Lek­tor für öster­rei­chi­sche Lite­ra­tur, dann als Gast­do­zent am Insti­tut für Lite­ra­tur­theo­rie – an der Uni­ver­si­tät São Pau­lo. Dort hielt er vor allem Lehr­ver­an­stal­tun­gen über phi­lo­so­phi­sche und ästhe­ti­sche Theo­rien ab, u.a. über: Hegel, Lukács, Ben­ja­min und Ador­no. Seit sei­ner Rück­kehr aus Bra­si­li­en 1988 lebt Robert Men­as­se als Lite­rat und kul­tur­kri­ti­scher Essay­ist haupt­säch­lich in Wien.