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Review des neuen Indie-Pop Albums von Lizzy McAlpine
von Roman Matzke
Für Millionen TikTok-Nutzer erweckt der Name Lizzy McAlpine spätestens seit ihrem viralen „You Ruined the 1975“ sofort musikalische Assoziationen; für die restlichen Indie-Pop Hörer heißt es spätestens jetzt – mit dem Release ihres neuen Albums five seconds flat – Ohren auf! Dass die 24-Jährige mit ihrer musikalischen Neuorientierung als Künstlerin auch abseits der Social-Media-Welt ernstgenommen wird, zeigt bereits die in Rekordzeit ausverkaufte Solotour (im November auch in Deutschland). Publikumsreaktionen auf ihre Rolle als Opening Act der diesjährigen Dodie Tour zeigen ähnliche Ergebnisse: Indie Fans wollen mehr von der noch durchaus schüchternen Sängerin. Ohne Gimmick und Spektakel – und manchmal verlegen – steht Lizzy auf der Bühne und performt ihr Repertoire in gekonnter Reduktion. Akustikgitarre und Stimme. Und letztere überzeugt.
Sicher spielt auch die Persönlichkeit mit, wenn es darum geht, neue Hörer anzulocken. Der schwer übersetzbare Begriff „relatable“ drückt die Publikumshaltung zu ihrer Social-Media- und Youtube-Präsenz wohl am besten aus, denn hier spricht sie offen über jugendrelevante Themen wie Social Anxiety beim Zimmerservice-Telefonat oder Panikattacken vor dem Auftritt. Aber reichen ihr Indie-Ballad-Girl Image und ihr Gesangstalent, um heute noch ein nennenswertes Album auf den Markt zu bringen? Nein, und darüber ist sich auch die Ex-Berklee Studentin im Klaren, die weiß, wie sie in five seconds flat ihre einzigartigen Seiten zeigt. Was auf den ersten Blick nach typischem Indie Pop aussieht, zeigt bei genauerem Hinhören ein Zusammentreffen überraschender Einflüsse – Wiedererkennungswert garantiert.
Wer sich eine strikte Weiterführung des bare-to-the-bones Akustikballadenstils der 2021 erschienenen Live-EP erhofft hatte, musste bereits zu Release der ersten Single umdenken. Im Endeffekt sind es wohl die drei Titel „ceilings“, „nobody likes a secret“ und „chemtrails“, welche alte Fans zufriedenstellen und zeigen, dass Indie-Balladen mit persönlichen Lyrics auch weiterhin Lizzys Stärke sind. Wer aufmerksam hinhört, mag feststellen, dass Phoebe Bridgers sicher ein großer Einfluss auf die neue Klangwelt war. Was E‑Gitarrensound, Effektnutzung, Komposition der Streichinstrumente und Phrasierung der Stimme angeht, ist die Ähnlichkeit zu Phoebes Indie-Meilenstein Punisher (2020) wohl mehr als reiner Zufall. Jedoch soll dies kein Plagiatsvorwurf sein. Es ist schließlich bekannt, dass Bridgers offen von Elliott Smith borgt. Künstler inspirieren sich — immitate and innovate. McAlpine experimentiert hier am Limit des Akzeptablen, verliert aber dennoch nie die eigene Stimme.
Wo die Phoebe Bridgers Einflüsse im gemeinsamen Genre (eine Kollaboration wurde bereits angekündigt) mehr als Sinn machen, bringt Lizzys Musical-Affinität frischen Wind in die Indie-Welt. Das Berklee-Studium brachte zwar bereits seit dem ersten Release komplexe Akkordfolgen zutage, hört man sich nun aber beispielsweise die key-modulation in „Doomsday“ oder den buildup in „called you again“ (ab 1:34 min) an, wird deutlich, dass sich die Liebe zu Dear Evan Hansen, Waitress und Co. während der Produktionsphase nicht nur auf Instagram-Cover beschränkte.
Ganz ohne negative Worte kommt das Projekt jedoch nicht davon, denn kritisch wird es mit der Inspiration hinter „an ego thing“ und „firearms“. Ausgerechnet Richtung Billie Eilish wurde geblickt, wo doch FINNEAS – Billies Bruder – mit Lizzy in „hate to be lame“ kollaboriert. Der staccato Electropop-Versuch in „ego thing“ wirkt aufgesetzt; wer den Gitarrenbreak in „firearms“ passabel findet, hat Billies „Happier Than Ever“ nie gehört; und „reckless driving“? Nun, unter den vier Kollaborateuren ist hier das wohl beste Duo aufzufinden, auch wenn die Komposition für Lizzys Verhältnisse ärgerlich nah am fiesen Mainstream-Ohrwurm kratzt. Diese Gefahr wird besonders bei „reckless driving“ und Ben Kesslers wenig erinnerungswürdigen 08/15-Popstimme klar. Auch bei „weird“ darf man sich fragen, warum Laura Elliotts Parts nicht von Lizzy selbst übernommen wurden. Eine freundschaftliche Geste zu Gunsten der Gesamtqualität?
Die Zusammenarbeit mit Jacob Collier („erase me“) zählt hingegen zu den Highlights: Protools-Spielereien höchster Klasse lassen bei jedem Hören neue Details erkennen. Wer Jacobs Schaffen nicht kennt, wird überrascht sein, wie viel Tiefe hier durch Schichtung seiner natürlichen Stimme geschaffen wurde. Weiterhin verdienen es „all my ghosts“ und „orange show speedway“ als Höhepunkte bezeichnet zu werden. Hier wird kombiniert, was Lizzy unverkennbar macht: Alle alten und neuen Stärken fließen in intimer ‚Vier-Uhr-nachts-mit-Kopfhörern-anhören-Produktion‘ in ihre seit Anbeginn tiefst persönlichen Texte. Wer sich über Streaming Plattformen bereits davon überzeugen konnte, darf sich im August auch auf einen Vinyl Release freuen.