Das Gefängnis der Wünsche – Ein Roman von Christoph Geiser

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© Simon Morgenthaler/Secession Verlag

von Johannes Queck

„Kaum haben sie dich aus dem Schlaf geweckt, schon schreist du. For­derst das Recht zu flüs­tern, wenn sie dich auf­for­dern, laut zu reden – deut­lich! – um sechs Uhr früh, weil ihre Haus­ord­nung es vor­schreibt. Du störst ihre Haus­ord­nung absicht­lich. Ihre Ord­nung! Du erregst dich. Ein Erguss von Wör­tern, im Flüs­ter­ton geschrien – ohne Atem, unhör­bar: ein End­los­band. Wo hast du es ver­steckt? Eine schma­le Rol­le aus Papier, wie Klo­pa­pier. Kaum bist du wach, eja­ku­lierst du, im Pas­sé simp­le und im zwei­ten Sub­jon­c­tif. Und genügt dir das Papier nicht, brüllst du in den Nacht­topf, auf der Lei­ter ste­hend, aus dem Git­ter­fens­ter, wie in ein Mega­phon, man wol­le dich erwür­gen, abwür­gen –  Rasch, die Sprit­ze!“ ¹

Die­se Stel­le zu Beginn des Romans „Das Gefäng­nis der Wün­sche“, in der Bas­til­le, wo der Mar­quis de Sade inhaf­tiert ist und kei­ne Ruhe fin­det, mutet wie eine kon­den­sier­te Poe­tik des Tex­tes an. Die Stö­rung von Ordnung(en) jeg­li­cher Art, die – auch und ins­be­son­de­re sexu­el­le – Erre­gung als Text­prin­zip, die nicht nur als Lust im Text, son­dern auch als Lust am Text all­ge­gen­wär­tig ist, und schließ­lich die End­lo­sig­keit des Text­ge­we­bes, in dem der Roman ledig­lich einen Aus­schnitt dar­stellt, wo vie­le Fäden zusam­men­lau­fen; das sind die zen­tra­len Aspek­te die­ses ein­sei­ti­gen Dia­logs der Erzähl­in­stanz mit den his­to­ri­schen Figu­ren des Mar­quis de Sade und Johann Wolf­gang von Goe­thes. Die bei­den fun­gie­ren als Anti­po­den, die für die zwei Pole ste­hen, in deren Span­nungs­ver­hält­nis die Kunst sich stets bewegt: die chao­ti­sche, trieb­haf­te Natur und die geord­ne­te, ein­ge­heg­te Kultur. 

© Seccession Verlag
© Seces­si­on Verlag

Der 1992 erst­mals erschie­ne­ne Text nutzt Bio­gra­phe­me Sades und Goe­thes und ist den­noch alles ande­re als ein his­to­ri­scher Roman, auch wenn die Schau­plät­ze in der ers­ten Hälf­te aus der Zeit der bei­den Figu­ren stam­men. Spä­tes­tens als Sade im West-Ber­lin der 1980er Jah­re auf­er­steht, sind die bei­den nur noch als Pro­jek­ti­ons­flä­chen der Erzähl­in­stanz plau­si­bel. Dem­entspre­chend ist die erzäh­le­ri­sche Fan­ta­sie der ein­zi­ge Maß­stab, dem sie unter­wor­fen sind. So tref­fen sich Goe­the und Sade am Vesuv, so fol­gen wir Sade beim Crui­sing in der Ber­li­ner Apol­lo City Sau­na, so fin­den wir uns am Ende des Tex­tes im KZ Buchenwald.

Der Text ent­zieht sich einem ein­deu­ti­gen Ver­ständ­nis immer wie­der: durch Leer­stel­len in der Text­ko­hä­renz, durch eine unkla­re Sprech­si­tua­ti­on, durch unzäh­li­ge inter­tex­tu­el­le Ver­wei­se. Dadurch ver­wei­gert er sich einer untä­ti­gen Kon­sum­hal­tung, die die Stö­rung mei­det und nur Bestä­ti­gung sucht, und for­dert die täti­ge Aus­ein­an­der­set­zung her­aus; mit dem Erzähl­ten, aber auch mit sei­ner Spra­che, auf die der Text immer wie­der fokussiert.

Inner­halb von Gei­sers Gesamt­werk, das der Seces­si­on Ver­lag mit einer Werk­aus­ga­be bis zum Früh­jahr 2025 wie­der kom­plett zugäng­lich macht, ist der Roman des­halb bemer­kens­wert, weil Gei­ser mit die­sem die Befrei­ung aus der von ihm selbst emp­fun­de­nen Enge sei­ner schwei­ze­risch-bür­ger­li­chen Her­kunft auch ästhe­tisch end­gül­tig voll­zieht. Als ich dem Werk des Autors im Rah­men mei­ner Über­set­zungs­tä­tig­keit für den Ver­lag begeg­ne­te, lern­te ich zunächst einen Autor ken­nen, der sich in den zwei Roma­nen „Grün­see“ und „Brach­land“ in einer völ­lig ande­ren, meis­ter­haft, aber kon­ven­tio­nell erzähl­ter Form mit der eige­nen Fami­li­en­ge­schich­te aus­ein­an­der­setz­te. Über „Wüs­ten­fahrt“, das die Homo­se­xua­li­tät ins Zen­trum rückt, sowie das „Gehei­me Fie­ber“, das die his­to­ri­sche Figur Cara­vag­gi­os als ästhe­ti­schen Hebel erprobt, führt eine bemer­kens­wer­te Ent­wick­lung zum „Gefäng­nis der Wün­sche“, das durch das Bekennt­nis Mar­cel Reich-Rani­ckis im Lite­ra­ri­schen Quar­tett 1992 tref­fend cha­rak­te­ri­siert wird: „Bei allen Schwie­rig­kei­ten, die ich hat­te, hat­te ich durch­ge­hend ein Gefühl […] Dies ist Literatur.“²   

Chris­toph Gei­ser: Das Gefäng­nis der Wün­sche, Seces­si­on Ver­lag Ber­lin 2023, 221 Sei­ten, 25 €, gebunden.

¹ Chris­toph Gei­ser, Das Gefäng­nis der Wün­sche, Ber­lin: Seces­si­on Ver­lag, 2023, S. 14.

² Das Lite­ra­ri­sche Quar­tett 22, 19.11.1992, 57:40 – 57:50, online unter: https://www.youtube.com/watch?v=q0-HKekRKsE&t=17s.