© Simon Morgenthaler/Secession Verlag
von Johannes Queck
„Kaum haben sie dich aus dem Schlaf geweckt, schon schreist du. Forderst das Recht zu flüstern, wenn sie dich auffordern, laut zu reden – deutlich! – um sechs Uhr früh, weil ihre Hausordnung es vorschreibt. Du störst ihre Hausordnung absichtlich. Ihre Ordnung! Du erregst dich. Ein Erguss von Wörtern, im Flüsterton geschrien – ohne Atem, unhörbar: ein Endlosband. Wo hast du es versteckt? Eine schmale Rolle aus Papier, wie Klopapier. Kaum bist du wach, ejakulierst du, im Passé simple und im zweiten Subjonctif. Und genügt dir das Papier nicht, brüllst du in den Nachttopf, auf der Leiter stehend, aus dem Gitterfenster, wie in ein Megaphon, man wolle dich erwürgen, abwürgen – Rasch, die Spritze!“ ¹
Diese Stelle zu Beginn des Romans „Das Gefängnis der Wünsche“, in der Bastille, wo der Marquis de Sade inhaftiert ist und keine Ruhe findet, mutet wie eine kondensierte Poetik des Textes an. Die Störung von Ordnung(en) jeglicher Art, die – auch und insbesondere sexuelle – Erregung als Textprinzip, die nicht nur als Lust im Text, sondern auch als Lust am Text allgegenwärtig ist, und schließlich die Endlosigkeit des Textgewebes, in dem der Roman lediglich einen Ausschnitt darstellt, wo viele Fäden zusammenlaufen; das sind die zentralen Aspekte dieses einseitigen Dialogs der Erzählinstanz mit den historischen Figuren des Marquis de Sade und Johann Wolfgang von Goethes. Die beiden fungieren als Antipoden, die für die zwei Pole stehen, in deren Spannungsverhältnis die Kunst sich stets bewegt: die chaotische, triebhafte Natur und die geordnete, eingehegte Kultur.
Der 1992 erstmals erschienene Text nutzt Biographeme Sades und Goethes und ist dennoch alles andere als ein historischer Roman, auch wenn die Schauplätze in der ersten Hälfte aus der Zeit der beiden Figuren stammen. Spätestens als Sade im West-Berlin der 1980er Jahre aufersteht, sind die beiden nur noch als Projektionsflächen der Erzählinstanz plausibel. Dementsprechend ist die erzählerische Fantasie der einzige Maßstab, dem sie unterworfen sind. So treffen sich Goethe und Sade am Vesuv, so folgen wir Sade beim Cruising in der Berliner Apollo City Sauna, so finden wir uns am Ende des Textes im KZ Buchenwald.
Der Text entzieht sich einem eindeutigen Verständnis immer wieder: durch Leerstellen in der Textkohärenz, durch eine unklare Sprechsituation, durch unzählige intertextuelle Verweise. Dadurch verweigert er sich einer untätigen Konsumhaltung, die die Störung meidet und nur Bestätigung sucht, und fordert die tätige Auseinandersetzung heraus; mit dem Erzählten, aber auch mit seiner Sprache, auf die der Text immer wieder fokussiert.
Innerhalb von Geisers Gesamtwerk, das der Secession Verlag mit einer Werkausgabe bis zum Frühjahr 2025 wieder komplett zugänglich macht, ist der Roman deshalb bemerkenswert, weil Geiser mit diesem die Befreiung aus der von ihm selbst empfundenen Enge seiner schweizerisch-bürgerlichen Herkunft auch ästhetisch endgültig vollzieht. Als ich dem Werk des Autors im Rahmen meiner Übersetzungstätigkeit für den Verlag begegnete, lernte ich zunächst einen Autor kennen, der sich in den zwei Romanen „Grünsee“ und „Brachland“ in einer völlig anderen, meisterhaft, aber konventionell erzählter Form mit der eigenen Familiengeschichte auseinandersetzte. Über „Wüstenfahrt“, das die Homosexualität ins Zentrum rückt, sowie das „Geheime Fieber“, das die historische Figur Caravaggios als ästhetischen Hebel erprobt, führt eine bemerkenswerte Entwicklung zum „Gefängnis der Wünsche“, das durch das Bekenntnis Marcel Reich-Ranickis im Literarischen Quartett 1992 treffend charakterisiert wird: „Bei allen Schwierigkeiten, die ich hatte, hatte ich durchgehend ein Gefühl […] Dies ist Literatur.“²
Christoph Geiser: Das Gefängnis der Wünsche, Secession Verlag Berlin 2023, 221 Seiten, 25 €, gebunden.
¹ Christoph Geiser, Das Gefängnis der Wünsche, Berlin: Secession Verlag, 2023, S. 14.
² Das Literarische Quartett 22, 19.11.1992, 57:40 – 57:50, online unter: https://www.youtube.com/watch?v=q0-HKekRKsE&t=17s.