Georg Trakl oder Die Brüchigkeit der Gemeinschaft

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von Mathi­as Mayer

Man­chen mag der Ein­druck über­kom­men, dass die lan­gen Mona­te der Pan­de­mie etwas von einem ange­hal­te­nen, still­ge­stell­ten Zustand haben, in dem uns das eigent­li­che Leben abhan­den zu kom­men droht. In die­ser Situa­ti­on erwei­sen sich, nach mei­ner Erfah­rung, kur­ze und knap­pe Sät­ze oder Gedich­te als beson­ders inten­si­ve Beglei­ter, die einem wie­der und wie­der durch den Kopf gehen, sei­en es rhyth­mi­sche Wie­der­ho­lun­gen („Tur­ning and tur­ning in the widening gyre, / The fal­con can­not hear the fal­co­ner“ – der Beginn von Wil­liam But­ler Yeats „The Second Coming“ kann auf die­se Wei­se wir­ken), oder sei­en es Denk­auf­ga­ben, die sich nicht ein­ma­li­gem Lesen erschließen.

Hier möch­te ich an ein paar Zei­len des öster­rei­chi­schen Lyri­kers Georg Tra­kl erin­nern, des­sen Gedich­te sich für vie­le Leser als nicht leicht zugäng­lich erwei­sen – wie etwa auch für Lud­wig Witt­gen­stein, der sag­te, er ver­ste­he die Gedich­te nicht, aber ihr Ton beglü­cke ihn. Tra­kl hat sei­ne Gedich­te kaum kom­men­tiert, auch in Brie­fen fin­den sich weni­ge poe­to­lo­gi­sche Äuße­run­gen. Aber als er, wie vie­le sei­ner Gene­ra­ti­on, im August 1914 in den Krieg zog, von dem man damals nicht wuss­te, dass man ihn als einen Welt­krieg bezeich­nen wür­de, über­gab er beim nächt­li­chen Auf­bruch am Bahn­hof in Inns­bruck einem Freund einen Zet­tel, der fol­gen­den Apho­ris­mus enthält:

„Gefühl in den Augen­bli­cken toten­ähn­li­chen Seins: Alle Men­schen sind der Lie­be wert. Erwa­chend fühlst du die Bit­ter­nis der Welt; dar­in ist alle dei­ne unge­lös­te Schuld; dein Gedicht eine unvoll­kom­me­ne Sühne.“

Die­ser Text hat mich immer wie­der ereilt, beglei­tet und betrof­fen, auch in sei­ner Her­me­tik: Bemer­kens­wert, wenn auch nicht ohne wei­te­res erklär­bar, dürf­te sein, dass die Augen­bli­cke toten­ähn­li­chen Seins, die uns heu­ti­ge Leser viel­leicht an unse­re unmit­tel­ba­re Gegen­wart erin­nern mögen, gera­de nicht der Erfah­rung des Krie­ges ent­stam­men, son­dern ihm vor­aus­ge­gan­gen sind, als Lebens­ge­fühl einer Star­re, die etwas von einem tie­fen Schlaf des Unbe­wuss­ten hat, und in der eine Soli­da­ri­tät, ein Ver­ste­hen und Ver­zei­hen der Men­schen­ge­mein­schaft wahr­ge­nom­men wird. Aber im Moment des Erwa­chens hält die­se Erfah­rung nicht mehr an. Gleich­wohl schwenkt der klei­ne Text nicht in den Ges­tus der Ent­täu­schung um, son­dern in eine ganz an sich selbst gerich­te­te Erkennt­nis: Wahr­ge­nom­men wird nun gera­de die Bit­ter­nis der Welt, die aber nicht „der Welt“ zur Last gelegt wird, son­dern die zu einer Selbst­be­fra­gung und Selbst­er­kennt­nis führt, zu einer ethi­schen Ein­sicht, in der eine, „dei­ne“, „unge­lös­te Schuld“ eine Rol­le spielt, so als ob das eige­ne Ich mit­ver­ant­wort­lich, und Teil die­ser Bit­ter­nis der Welt wäre. Inwie­fern kann dann das Gedicht, um das Tra­kl immer wie­der gerun­gen hat, eine Süh­ne sein, die gleich­wohl unvoll­kom­men bleibt? Wir wis­sen es nicht, Tra­kl hat weni­ge Wochen spä­ter, ver­zwei­felt,  sei­nem Leben ein Ende gesetzt, aber deut­lich wird den­noch, dass Tra­kls Dich­ten im Umfeld einer Nach­denk­lich­keit steht, das, mit einem sei­ner Lieb­lings­au­toren gespro­chen, von Schuld und Süh­ne Zeug­nis ablegt, aber nur wie von einem Traum von jener Gemein­schaft spre­chen kann, die aus dem toten­ähn­li­chen Sein kaum hin­über­zu­ret­ten ist. „Ethik und Ästhe­tik sind Eins“, heißt es bei Witt­gen­stein im „Trac­ta­tus“. Dar­an kann man sich bei Tra­kl erinnern.