von Helene Marie Hipper
Ich steige die knarzenden Treppenstufen hinunter. Eigentlich will ich das Haus gar nicht verlassen. Am liebsten nie wieder. Draußen regnet es. Die Xenon-Scheinwerfer eines vorbeifahrenden Autos spiegeln sich in den Pfützen am Boden. Ich gehe weiter. In der Ferne höre ich die Glocken des Kirchturms, sehe seine gräulich-grüne Kuppel jedoch direkt vor mir. Ich bleibe stehen. Meine Hände sind eiskalt. Ich gehe weiter. Kleine Kieselsteine knirschen unter meinen Schuhen, die langsam von braunem Schneematsch durchweicht werden. Ein Plätschern aus unidentifizierbarer Quelle gesellt sich zum Klang der Glocken. Ich spüre ein starkes Ziehen in meinem Bauch. In der Angst mich zu erkälten, wickele ich den Schal enger um meinen Hals. Der Regen verwandelt sich in Schnee und ich setzte auch meine Kapuze auf. Sanfte Flocken rieseln auf mein Gesicht, als würden sie mir Sommersprossen aufzeichnen wollen. Auf der Hauptstraße angelangt, blicke ich auf. Ich stolpere über seinen Namen. Antiquariat Gabriel steht in großen Leuchtbuchstaben an der Hauswand auf der anderen Straßenseite. Dieser Name, seit Wochen wandert er in meinem Kopf herum und ich werde ihn nicht los. Wir sind uns viel zu ähnlich, das geht sowieso nicht gut. Ich versuche den Gedanken abzuschütteln, doch vergeblich. Ich muss unwillkürlich an diese Nacht denken. Es war zunächst ein komisches Gefühl, ihm körperlich so nah zu sein. Jahrelang teilten wir uns in jedem Urlaub das Bett, wie beste Freunde es eben tun, und es stand nie auch nur die kleinste Chance im Raum, dass da mehr ist. Und dann lag ich plötzlich nackt neben ihm und es fühlte sich an, als wäre es nie anders gewesen. Die Leuchtbuchstaben vor meinen Augen werden wieder scharf und ich bemerke, dass ich schon wieder stehengeblieben bin. Ich blicke auf die Uhr. Natürlich wieder viel zu spät. Ich muss zu ihm. Er wartet im Park. Ich laufe los.
Das warme Licht der Straßenlaterne leuchtet auf den kleinen Bach, in dem drei Enten in Kreisen umher-schwimmen. Ein schimmernder gelb-goldener Fleck spiegelt sich im Wasser, eine der Enten schwimmt hindurch. Ich würde am liebsten den ganzen Tag nachdenken. Plötzlich beginnt eine Ente ganz schnell und zielgerichtet in eine Richtung zu schwimmen und laut zu quaken, als wäre sie eine automatische Ente, die gerade jemand angeschaltet hat. Ich würde am liebsten nie mehr über irgendetwas nachdenken. Ich setzte mich auf die erste Bank, die ich finden kann, mir ist schwindelig. Ich schaue nach rechts. Gabriel kommt auf mich zu. Er ist schon länger hier, vor zwanzig Minuten hatten wir uns verabredet. Still schweigend setzt er sich neben mich. Kein Kuss, keine Umarmung, nicht mal ein Blick in meine Richtung. Aber unsere Knie berühren sich. »Mal wieder sehr geheimnisvoll, Alma. Was soll das Ganze?« Ich blicke zu ihm hinüber. Von der Seite sehen seine Augen kalt aus und in seinem Gesicht sind keine Anzeichen von Freude zu erkennen. Ich sehe wieder nach unten und schweige. Nach ein paar Sekunden steht er ruckartig auf, sodass ich vor Schreck zusammenfahre. Wütend brüllt er mich an: »Ich habe keine Lust mehr auf deine Spielchen, Alma! Hör endlich auf-« Er bricht seinen Satz ab, als ich auf aufstehe. »Gabriel, ich bekomme ein Kind.« Halb platz es aus mir heraus, halb wollte ich es ihm sagen. Sofort bereue ich es, obwohl ich das nicht darf. Sagen musste ich es ihm ja sowieso. Früher oder später. Ganz nah steht er plötzlich vor mir, mustert mich, als würde ich ihn anlügen. Meine Hände sind kalt, so wie sein Blick. Eine Schneeflocke landet auf meiner Nase, ich spüre, wie sie langsam schmilzt. So lange dauert es, bis er reagiert. Seine Züge unverändert. Er setzt sich.
»Okay. Okay. Ja es ist okay. Für mich.«
»Für dich?«
»Ja.«
Wirklich? »Wirklich?«
Ich setzte mich wieder neben ihn. Seine kalte Hand nimmt meine. Ein seltsames Gefühl. Er sieht mich an. »Hör mal, Alma. Es tut mir leid. Ich wusste nicht, dass es darum geht.« Niemand ist so ehrlich wie er. Ich dachte er hasst mich jetzt. Nein, so unsicher bin ich nicht. Ich schweige. »Es ist schon okay.« Er wendet sich wieder von mir ab und wir schweigen beide. Das Wasser fließt schneller als sonst. Die Stille der Natur steht im Kontrast zu dem Lärm der Autos oberhalb des Hügels. Seine Hand immer noch auf meiner. Wieder sieht er zu mir. Zögernd. »Von wem ist es?«
Ruckartig weiche ich zurück. »Hör auf. Du weißt es. Stell mich nicht bloß.«
»Okay, tut mir leid.« Er wartet eine Zeit lang ab, sieht zum Boden, den Kopf gesenkt. Warum? Jetzt ist er unsicher. »Ich helfe dir.«
Unerwartet. Warum? »Warum solltest du? Du hast nichts damit zu tun.«
Er scheint überzeugt zu sein. »Ja, ich weiß. Trotzdem werde ich dir helfen. Du hast mir immer geholfen.«
»Aber nicht –.« Ich verstumme. Mir ist schwindelig. Ich stehe auf. »Ich gehe.«
Die Nachweihnachtszeit fühlt sich an wie eine Nachkriegszeit. Überall Sale-Angebote und Schilder. Ich gehe an einer Kneipe vorbei, der Eingang ist rot ausgeleuchtet. Drinnen sitzt eine Gruppe von Männern, die sich in einem urbayrischen Dialekt über das laufende Fußballspiel unterhalten. Ich gehe hinein. Die Weihnachtsdekoration wurde noch nicht entfernt, überall hängen Christbaumkugeln und Lichterketten. Ein unangenehmer Geschmack belegt meine Zunge und der Geruch von Bratwurst steigt in meine Nase. Ich setzte mich an den Tresen. Gabriel schreibt mir: »Alles wird gut.« Ja. Das wird es sicherlich. Irgendwann. Er will mir doch bestimmt sowieso nur helfen, weil er weiß, dass Corden es nicht tut und er denkt, dass ich das alleine nicht hinbekomme. Aber das werde ich, und zwar besser noch als mit irgendeinem Mann an meiner Seite.
Ich wünschte, meine Mama wäre hier. Sie weiß wie es ist, jung Mutter zu werden, auch sie hat mich mit gerade einmal zweiundzwanzig Jahren bekommen. Es ist gar nicht so leicht. Manchmal sitze ich einfach plötzlich weinend in der U‑Bahn und habe furchtbare Angst. Ich spüre das Leben in meinem Bauch und habe Angst, dass mein Kind es schwer haben wird. Ich möchte nicht, dass es so eine Kindheit hat wie ich. Ich möchte nicht, dass es jemals traurig ist. Wenn ich mir vorstelle, dass es irgendwann mal genauso so weinend in der U‑Bahn sitzt… Das ist mir alles zu laut. Es fühlt sich an, als hätte ich meinen roten Faden verloren. Niemals mehr allein. Das klingt schön, aber es macht mir auch Angst. Viele Jahre war ich allein und gezwungenermaßen auf mich gestellt. Jetzt, mit diesem kleinen Menschen in mir, um den ich mich kümmern und den ich beschützen muss, werde ich lange Zeit nicht mehr allein sein. Ich werde einen neuen Gefährten an meiner Seite haben. Der Gedanke gefällt mir.
Als Corden nach fünfzehn Minuten immer noch nicht auftaucht, bezahle ich meinen Cappuccino und gehe. Gerade als ich aus der Tür trete, kommt er mir entgegen. Ein kalter Schauer läuft mir den Rücken runter. Wäre ich doch nur eine Minute früher gegangen. »Du bist zu spät.« Ich schiebe mich an ihm vorbei aus der Tür. Er folgt mir und hält mich an einem Arm zurück. »Bleib hier, wir haben noch was zu besprechen.« Wütend drehe ich mich zu ihm und reiße mich mit einer ruckartigen Bewegung von ihm los. »Mit dir habe ich gar nichts mehr zu besprechen. Du gibst dir ja nicht mal ansatzweise Mühe, die Sache anständig zu klären. Ich habe dir nur aus Nettigkeit angeboten, dass wir uns noch mal treffen. Ich bin schon längst durch mit dir.« Erneut packt Corden meinen Arm und schleift mich um die Ecke in eine kleine Gasse. Ich spüre wie er immer aggressiver wird und mein Arm fester drückt. Vergeblich versuche ich, mich aus seinem Griff zu befreien. Er packt auch meinen anderen Arm und presst mich gegen eine Hauswand. »Jetzt hör mir mal genau zu. Ich lasse mir von dir keinen Ärger machen. Du wirst tun, was ich dir gesagt habe.« Seine kalten weißblauen Augen fixieren mich und ich muss unwillkürlich an Gabriel denken. Obwohl seine Augenfarbe mit Cordens absolut identisch ist, wirkt sie ganz anders. Sein Blick ist warm, vertraut und gib mir das Gefühl von Sicherheit. Völlig anders als bei Corden. Nach meinem Einzug hatte er sich verändert. Er begann laut zu werden, wenn ich nicht das tat, was er von mir wollte, fing an, mir Befehle zu erteilen, obwohl er genau wusste, dass ich mir nichts vorschreiben lasse. Und das tat ich auch nicht, bis er anfing, seinen Willen auf andere Weise durchzusetzen. Wenn er wüsste, dass ich mit Gabriel geschlafen habe, würde er mich wahrscheinlich hier und jetzt auf der Stelle tot-prügeln und unser ungeborenes Kind gleich mit dazu. Es hat keinen Zweck, ihm zu widersprechen. Unwillkürlich schließe ich die Augen, lasse Cordens Gebrüll widerstandslos über mich ergehen und verschwinde in meinen Gedanken. Manchmal stelle ich mir vor, wie anders Gespräche hätten verlaufen können und was folglich das Ergebnis dieser gewesen wäre. Vielleicht finden die gleichen Konversationen mit den gleichen Menschen und den gleichen Themen in einer Parallelwelt statt, in denen sie anders ausgehen. Besser. Und schöner. Vielleicht ist doch alles schwarz und weiß und es gibt eine gute und eine schlechte Welt, in der die Dinge immer scheiße enden. Ich glaub, ich hab die falsche Welt erwischt. Ich hoffe wenigstens, die Alma in der anderen Welt ist glücklich, auch wenn sie mir von diesem Glück mal ein bisschen was abgeben könnte. Ich öffne meine Augen, doch senke direkt meinen Blick, schweige und warte, bis er seinen Griff lockert. Er kommt noch ein letztes Mal näher und fixiert mich mit seinem Blick. »Hast du mich verstanden?« Ich nicke nur stumm. Er lässt ab und verschwindet in der Gasse. Unwillkürlich fasse ich mir sofort an den Bauch, mein Atem immer noch stockend. Meine Handgelenke brennen wie Feuer, die Stellen an denen er mich berührt hatte fühlen sich an wie weggeätzt. Kurz muss ich sie betrachten, um sicher zu gehen, dass sie es nicht wirklich sind. Nein, nur rot.
Helene Hipper, geboren 2001 in München, studiert derzeit Vergleichende Literaturwissenschaften an der Universität Augsburg. Die Ideen für ihre Geschichten finden meistens auf Reisen oder langen Spaziergängen zu ihr, häufig sind es aber auch banale Alltagssituationen in denen sie ihre Inspiration zum Schreiben findet. Am liebsten schreibt Helene Kurzgeschichten, jedoch finden sich immer wieder Bruchstücke eines Romans darunter, der nach und nach weiterentwickelt wird. Ein verwandtes Hobby zur klassischen Prosa ist Helenes Interesse am Film und dem Schreiben von Drehbüchern, so ist sie neben ihrem Studium noch in der Filmbranche tätig und arbeitet an der Entwicklung und Umsetzung von eigenen Filmprojekten.