von Clara Eisenreich und Jona Kron
Die Judith von Shimoda inszeniert vom theter ensemble zum diesjährigen Brechtfestival
„World Wide Brecht“ war das Motto des diesjährigen Brechtfestivals und auch das theter ensemble befasste sich in seiner Inszenierung der Judith von Shimoda mit unserer aktuellen digitalen Vernetzung. So bildete die Inszenierung des Stücks von Bertolt Brecht und Hella Quolijoki aus 1940 kein Stück-im-Stück, sondern eine live Zoom Sitzung mit eingeblendeten Kurzfilmen. Während die Kursteilnehmerinnen der digitalen Sitzung zu Die Judith von Shimoda auf der Bühne des CityClubs Home Work Outs absolvieren und sich um Snacks für die Besprechung kümmern, lernen die Zuschauer*innen in verschiedenen komödiantischen Kurzfilmen die Geschichte der Okichi Monogatari kennen. Der Okichi Mythos geht dabei zurück auf 1856, als die USA drohen, die japanische Stadt Shimoda zu bombardieren. Okichi, die weibliche Heldin dieses Mythos, soll den Konsul Harris von der Bombardierung abhalten. Der Dramatiker Yamamoto Yuzo verfasste 1930 erstmals eine Antilegende zum bisher vorhandenen Mythos, an den Brecht und seine Kollegin Quolijoki anknüpften.
In den Kurzfilmen werden dabei Entwürfe dargestellt, wie das Leben der Okichi nach ihrer Heldinnentat weiter ging: Während film noirs die Verhandlungen und Motivation der Machthaber überspitzt hinterfragen und gleichzeitig Okichis Beginn der Alkoholabhängigkeit und ihrem damit einhergehenden Ruf als „Sake Schale“ einführen, wird ihr Leben nach der Heldinnentat zeitgenössisch und popkulturell dargestellt. Kommentiert wird dies von den Zoomteilnehmerinnen, deren Kacheln durch unterschiedlichen Lichteinfall dargestellt werden. Dabei werden verschiedene Aufarbeitungen des Mythos gezeigt: So analysiert eine übervorbereitete Kito die Szenen auf künstlerischer Ebene, während Ray, nebenher Disney’s Mulan summend, die Figur der Okichi stark emotionalisiert, idealisiert und eigentlich lieber wissen möchte, ob Okichi mit ihrer Jugendliebe eine gemeinsame Zukunft findet.
Die Kostümierung von Kito, ihrer Mitbewohnerin Clyde, von Ray und der sitzungsleitenden Tutorin Akimura kommen authentischer Weise mit Alltagsklamotten aus. Und auch innerhalb der hinter die vier Schauspielerinnen projizierten Kurzfilme erwecken die meisten Kostüme den Anschein, als wären sie aus den Tiefen studentischer Kleiderschränke ausgegraben worden. Hierbei muss man der Inszenierung zugutehalten, dass sie kaum Chancen vergibt, einen Lacher für die Kostümwahl und den kreativen Umgang mit dem spärlichen Bühnenbild zu ernten. Der breitgefächerte und stark referenzielle Humor zusammen mit den charismatischen Schauspielerinnen ließen beim recht buntgemischten Publikum kaum ein Auge trocken.
Die Umsetzung des Zoom-Meetings, das gerade uns Studierenden in den letzten Semestern mehr als vertraut geworden ist, gelingt dem theter ensemble sehr gut. Viele Szenen unseres digitalen Alltags werden hier scharfsinnig und humorvoll aufgegriffen, vom ständigen gegenseitigen ungewollten Unterbrechen, über mangelnde Konzentration und häufiges Abschweifen, bis zum Gießen der Zimmerpflanzen. Auch die feministische Inszenierung, alle von Brecht als männlich geschriebenen Figuren weiblich zu besetzen, stellt in meinen Augen eine gelungene Weiterentwicklung dar.
Doch es wurden auch Fragen aufgeworfen, die den Heldinnenmythos in die heutige Zeit einbetten. Wie verarbeitet Okichi die öffentlichen Anfeindungen, mit denen sie trotz oder gerade wegen ihrer Rolle in der Rettung Shimodas konfrontiert wird? Wie würde heute, in Zeiten von Social Media und der Diskussion zur kulturellen Aneignung, der Mythos medial weitergeführt? Welche Rolle spielen Patriotismus, Kapitalismus und internalisierter Sexismus in ihrer Heldinnentat und den Folgen? Wie sollten im Allgemeinen Held*innentaten und die Mythen um sie weitererzählt werden? Ist ein Weiterleben außerhalb der Denkmäler überhaupt möglich?
Das theter ensemble hat Die Judith von Shimoda nicht nur in die heutige Zeit gebracht, sondern auch mit viel Humor zum Nachdenken angeregt. Wer diese popkulturelle Aufarbeitung des Okichi Mythos nicht verpassen möchte, hat noch am 06., 07., 08. und 09. März 2022 auf der Bühne des CityClubs Gelegenheit dazu.