von Philipp Sonntag
Die stark emotional konnotierte, semireligiöse Verehrung einer Kultfigur scheint der rationalen Orientierung der wissenschaftlichen Welt in paradoxer Weise zu widersprechen. Am Beispiel des slowenischen Philosophen und Kulturtheoretikers Slavoj Žižek, der als wissenschaftliche Kultfigur der Gegenwart angesehen werden kann, lassen sich mögliche Definitionskriterien für wissenschaftliche Kultphänomene erproben und gegenwartsspezifische Aspekte der medialen Repräsentation und Selbstinszenierung diskutieren.
Im Gegensatz zu anderen kultischen Erscheinungsformen in der Kultur der Gegenwart, die sich zumeist um literarische, künstlerische, politische oder populärkulturelle Phänomene und Akteure bilden und die ein gewisses Maß an gesellschaftlichem Interesse bündeln, äußern sich Kultphänomene in der Wissenschaft weit weniger deutlich. Der hoch spezialisierte, für große Teile der Gesellschaft hermetische wissenschaftliche Diskurs ist grundsätzlich durch eine weitaus geringere öffentliche Wahrnehmung gekennzeichnet. Das grundlegende Paradoxon liegt jedoch auf der Hand, stehen doch die Emotionalität und extreme Subjektivität kultischer Verehrung den Idealen wissenschaftlicher Praxis mit ihrem Anspruch auf Rationalität, Logik und Wahrheitsfindung diametral entgegen.
1. Visibilität und Normativität von Kultphänomenen in der Wissenschaft
Ein Kultphänomen weist in der Regel drei konstitutive Merkmale auf: ein Kultobjekt, einen Träger des Kultes und eine mehr oder weniger ritualisierte Form einer kultischen Handlung. Diese können zu unterschiedlichen Graden institutionalisiert werden und verschiedene Funktionen erfüllen. Wird eine Person zum Objekt eines Kults, so lässt sich diese als Kultperson oder Kultfigur innerhalb einer bestimmten Gesellschaft oder sozialen Gruppe beschreiben. Neben prominenten Beispielen aus der Politik, die auch als Herrscherkulte bezeichnet werden können, gehen Kultfiguren auch aus der Unterhaltungsindustrie, dem Sport, der Musik, der Wirtschaft, der Kunst und der Literatur hervor (vgl. Makrides 2008: 263).
Im Bereich der Wissenschaft existieren verschiedene Ausprägungen von Personenkulten. Gemessen am Grad der öffentlichen Wahrnehmung lassen sich Kulte um Personen, die ihre Trägerschaft hauptsächlich außerhalb des wissenschaftlichen Bereichs finden und eher im Licht der gesellschaftlichen Öffentlichkeit stehen, wie etwa Jean-Jacques Rousseau, Voltaire, Auguste Comte, Ernst Haeckel, Friedrich Nietzsche, Albert Einstein oder Stephen Hawking von solchen Kultfiguren unterscheiden, deren Verehrer und Träger selbst innerhalb des wissenschaftlichen Rahmens situiert sind (vgl. Makrides 2008: 269–270). Bei Kultfiguren, deren Status sich einer größeren Öffentlichkeit verdankt, können Institutionalisierungsmechanismen beobachtet werden, die an spezifische Funktionen geknüpft sind. So lässt sich die Wirkung der Kultfiguren Marx und Lenin kaum ohne Rückgriff auf deren ideologische Funktionalisierung innerhalb eines politischen Systems erklären: „In diesem Fall haben wir es […] mit einer Organisation, Normierung, Zentralisierung und systematischen Propagierung ihres Kultes zu tun“ (Makrides 2008: 270).
Die geringe öffentliche Visibilität von Phänomenen kultischer Verehrung innerhalb der Wissenschaft ist auf unterschiedliche Ursachen zurückzuführen. Wissenschaftliche Kulte sind „kein organisiertes Massenphänomen, das in der Gesellschaft deutlich wahrgenommen werden kann“ (Makrides 2008: 269). Einer der Gründe hierfür ist zunächst „die fehlende Institutionalisierung und Normierung solcher Kultphänomene, die eher in diffusen Formen existieren und verschiedene Funktionen erfüllen“ (Makrides 2008: 263). Eine solche Funktion kann beispielsweise darin bestehen, „die Kohärenz und künftige Entwicklung“ einer bestimmten Disziplin zu garantieren, und oftmals geht damit auch die Hoffnung auf die „Bildung von Autoritäten und bestimmten ‚Schulen‘“ (Makrides 2008: 264) einher. Zudem handelt es sich bei den meisten Fällen um „implizite Kultphänomene, die von denen, die sie betreiben, nicht als solche bezeichnet werden“ (Makrides 2008: 264). Damit rückt die normative Dimension des Kultbegriffs in den Blick. Personenkulte in der akademischen Welt stehen „oft im Verdacht, lediglich irrationale Emotionszustände hervorzurufen“ (Makrides 2008: 264), die der kritisch-rationalen Ausrichtung der Wissenschaft widersprechen. Eine geringe Visibilität und implizite Erscheinungsform von innerwissenschaftlichen Kulten lässt sich somit auf die enge Verknüpfung mit der normativen Verwendung des Kultbegriffs zurückführen. Die mit dem Verweis auf eine unangemessene Emotionalität und Irrationalität begründete negative Bewertung kultischer Phänomene in der Wissenschaft, die einen Mangel an wissenschaftlicher Qualität suggeriert, wirft jedoch die Frage auf, inwiefern sich eine übermäßige und übersteigerte Verehrung von der konventionalisierten Form wissenschaftlichen Arbeitens unterscheiden lässt und inwiefern Kriterien der Wissenschaftlichkeit durch kultische Verehrungsstrategien von Wissenschaftlern verletzt werden.
2. Wissenschaft als Kult und Wissenschaftskultur
Überträgt man das Grundmuster eines Kultes auf die Wissenschaft, so lässt sich als Kultobjekt ein bestimmter theoretischer oder methodischer Ansatz ausmachen, der im Falle eines Personenkultes mit dem jeweiligen Theoretiker verbunden ist. Der Träger eines solchen Kultes konstituiert sich in einer Rezeptionsgemeinschaft, die sich bis zu der Ausbildung einer eigenen Denkschule verfestigen kann. Die rituell-kultische Handlung, die diese Gruppe ausführt, besteht dann in der Referenz auf die jeweilige Theorie oder den jeweiligen Denker in Form von Zitaten, spontanen Akklamationen in Form von Namedropping oder Argumentationen ad verecundiam, die sich der Fremdautorität als Kriterium der Wahrheit bedienen, oder in Form von methodischen Adaptationen. Angesichts dieser Grundannahme zur Erscheinungsform von kultischen Mustern in der Wissenschaft wirft der Versuch der klaren Abgrenzung übermäßiger, hagiographischer Verehrung von den allgemein anerkannten Qualitätsstandards wissenschaftlicher Praxis Probleme auf.
Die Referenz auf fremde Forschungsleistungen, spezifische disziplinäre Traditionen oder Denkschulen – in Form von Zitaten, Literaturverzeichnissen und methodischen Adaptationen – stellt einen konstitutiven Faktor wissenschaftlichen Arbeitens dar und gilt als Qualitätsmerkmal akademischer Praxis. Innerhalb dieser Normalität der Verweise und Referenzen, die den einzelnen Forscher 1 als ‚intellektuellen Zwerg auf den Schultern der Riesen der disziplinären Geschichte und Tradition‘ erscheinen lassen können, droht die Grenze zwischen einer legitimen Berufung auf vorherige Forschungsergebnisse und einer übersteigerten Verehrung, die die akademische Integrität korrumpieren könnte, zu verschwimmen. Eine Abgrenzung auf der Grundlage von Kriterien der Wissenschaftlichkeit eines bestimmten Forschungsansatzes scheint jedoch nicht möglich zu sein. Begreift man Wissenschaft als die systematische Analyse eines konkreten Forschungsobjekts, die, unter der Maßgabe terminologischer und methodologischer Explikation, anhand einer logischen Argumentation intersubjektive, verifizierbare und in irgendeiner Form relevante Erkenntnis generiert, und nimmt man ferner an, dass ein kultisches Muster in der Wissenschaft im Wesentlichen in der Verabsolutierung eines bestimmten theoretischen oder methodischen Ansatzes zu erkennen ist, so widerspricht dies nicht notwendiger Weise den Kriterien der Wissenschaftlichkeit. Das Kriterium der Relevanz weist jedoch auf die zugrunde liegende Problematik hin, dass sowohl die Wahl des jeweiligen Forschungsobjekts und die Ausrichtung des Forschungsinteresses als auch die Evaluation und Anerkennung von Forschungsergebnissen nicht primär wissenschaftsinternen Faktoren unterliegen. Die Fragen, zu welchem Zweck Wissenschaft betrieben wird, welche Forschungsobjekte dementsprechend gewählt werden, ob der, zumindest in den Geistes- und Sozialwissenschaften, allgemein anerkannte Methodenpluralismus deskriptiv aufgefasst wird und ob eine kultische Verabsolutierung eines bestimmten Ansatzes damit als gerechtfertigt angesehen werden müsste oder ob sich hieraus ein Gebot zu multiperspektivischem Denken ableiten lässt, sind allgemein dem Bereich der Wissenschaftskultur zuzuordnen, insbesondere der Wissenschaftssoziologie, ‑ethik und ‑psychologie (vgl. Poser 2011: 14–16). Kultische Phänomene in der Wissenschaft kollidieren mit einer Wissenschaftskultur, die sich den Idealen des kritischen und antidogmatischen Denkens verschrieben hat, nicht jedoch zwangsläufig mit Kriterien der Wissenschaftlichkeit.
3. Werk und Leben: Merkmale akademischer Kultfiguren
Trotz der geringen Visibilität und der impliziten Erscheinungsform von Kultphänomenen in der Wissenschaft können bestimmte Merkmale und Voraussetzungen identifiziert werden, die eine genauere Bestimmung akademischer Kultfiguren ermöglichen. Ein erstes Kriterium stellt die außerordentliche wissenschaftliche Leistung einer bestimmten Person dar, die gewissermaßen die Grundlage für ihre Entwicklung hin zu einer Kultfigur bildet (vgl. Makrides 2008: 266). Da die Bewertung einer wissenschaftlichen Leistung dem, wiederum nur implizit wahrnehmbaren, Konsens der wissenschaftlichen Gemeinschaft unterworfen ist, tritt eine außerordentliche Leistung eines einzelnen Forschers lediglich dann besonders hervor, wenn die Wirkung seiner Ideen und Theorien zur Bildung einer eigenen Denkschule oder zur Begründung eines neuen Forschungsparadigmas führt (vgl. Makrides 2008: 266). Darüber hinaus bilden die transdisziplinäre Wirkungsmacht, die epochenübergreifende Rezeption einer Idee oder Theorie (vgl. Makrides 2008: 266), aber auch der Grad der internationalen Rezeption, der an der Quantität der fremdsprachigen Übersetzungen gemessen werden kann, sowie die Produktivität der Rezeption und die Anschlussfähigkeit eines Ansatzes (vgl. May 2004: 105, 107), ablesbar an der Quantität der wissenschaftlichen Publikationen und Tagungen, wichtige und deutlich wahrnehmbare Anhaltspunkte für den relativen Wert einer wissenschaftlichen Leistung.
Dennoch ist zwischen einer wissenschaftlichen Kultfigur und der Koryphäe eines bestimmten Faches zu unterscheiden; nicht jeder herausragende Wissenschaftler wird durch sein fachliches Prestige auch zu einer Kultfigur. Neben herausragenden Leistungen in der Forschung spielen zusätzliche, außerwissenschaftliche, Faktoren, die „zumeist auf psychologischen Motiven und Dispositionen“ (Makrides 2008: 266) beruhen, eine zentrale Rolle. Neben dem Werk und dessen Wirkung bildet die „besondere Art der Rezeption des Werkes bzw. der Ideen solcher Kultfiguren […], die eindeutig die Sphäre der Wissenschaftlichkeit übersteigt“ (Makrides 2008: 265) und die sich primär auf die Biographie und Persönlichkeit des jeweiligen Wissenschaftlers fokussiert, ein weiteres wichtiges Merkmal (vgl. Makrides 2008: 266–267). Verknüpfungen zwischen Leben und Werk können zweifelsohne wichtige Anhaltspunkte für einzelne Analysenansätze und Interpretationen liefern. Problematisch wird der Rekurs auf die Person erst dann, wenn dieser die Grenzen der biographisch geleiteten Analyse überschreitet und dadurch mit wissenschaftskulturell geprägten Konventionen in Konflikt gerät: in diesem Falle mit dem Kriterium der Relevanz. Wird jeder Information über das Leben der betreffenden Kultfigur, von der sexuellen Orientierung über die physiognomische Erscheinung bis hin zu kleinsten Details, wie Erinnerungen von Bekannten aus frühester Kindheit, kurzum allem, das die Person je gesagt, getan und geschrieben haben mag, eine enorme Bedeutung zugemessen, so stellt sich die Frage, inwiefern diese Informationen noch relevant für das wissenschaftliche Verständnis der entsprechenden Texte oder Werke sein können (vgl. Makrides 2008: 271). Gleichermaßen stellt sich diese Frage im Falle einer textzentrierten Rezeption, die durch eine übermäßig selektive und reduktive Lesart den Blick für das Textganze einzubüßen droht (vgl. May 2004: 114).
Ein weiterer entscheidender Faktor für die Entstehung einer Kultfigur ist deren „besondere Verhaltensweise – allgemeiner: ihre Lebensweise“ (Makrides 2008: 267). Die Lebensführung von Kultfiguren weist demnach unterschiedliche Devianzerscheinungen und Idiorrhythmien (Makrides 2008: 267) auf, die sie von der Normalität des privaten und wissenschaftlichen Alltags abgrenzen. In Bezug auf die Frage, inwiefern die individuelle Lebensführung eines Wissenschaftlers Einfluss auf die Deutung seines professionellen Schaffens nimmt, muss jedoch grundsätzlich zwischen der, sozusagen unfreiwilligen, Fremdzuschreibung biographischer Deutungsansätze und der selbst forcierten Verknüpfung von Leben und Werk im Sinne einer bewussten Selbstinszenierung unterschieden werden. Kultfiguren können, wenn auch ohne Garantie auf Erfolg, selbst zur Etablierung ihres eigenen Kultes beitragen (vgl. Makrides 2008: 267). Die unterschiedlichen Gründe für eine solche Selbstinszenierung lassen sich nicht generalisieren und müssen am jeweils konkreten Einzelfall überprüft werden. Makrides’ pauschale Aussage, dass Selbstinszenierungen „zumeist etwas mit menschlicher Eitelkeit sowie mit dem Verlangen nach allgemeiner Anerkennung und Unsterblichkeit zu tun“ (Makrides 2008: 267) haben, scheint hier allerdings zu kurz zu greifen. Auch das Beispiel der Kultfigur Jacques Derrida, das Makrides in diesem Kontext als repräsentativ für postmoderne Denker ansieht, muss zumindest in Frage gestellt werden. Für charakteristisch erachtet Makrides „die Art und Weise[,] wie sie [die postmodernen Denker; Anm. d. Verf.] schreiben, sprechen, sich benehmen, aussehen und diskutieren“, wobei die „vielleicht auffälligste Devianzform“ für Makrides in „der Verständnisschwierigkeit ihrer oft verklausulierten Texte und Sprache“ besteht (Makrides 2008: 267). Der entscheidende Aspekt, der mit der Deutung des ungewöhnlichen Sprachgebrauchs als Selbstinszenierung offenbar übersehen wird, besteht darin, dass gerade bei Derrida der Referenzwert der Schrift selbst zum Inhalt und zu einem Bedeutungsträger seines Denkens wird, dem eine solche Aburteilung als stilistische Spielerei und narzisstische Selbstinszenierung nicht gerecht wird.
Das vielleicht wichtigste Merkmal für die Erfassung von akademischen Kultfiguren ist die „Ausschließlichkeit des Interesses“ (Makrides 2008: 274) der jeweiligen Kultträger an ihrer Kultfigur. Dies äußert sich in der Gründung von Fachzeitschriften und Buchreihen, die der Kultfigur gewidmet sind und sich nicht ausschließlich mit dem wissenschaftlichen Werk der jeweiligen Person befassen, ebenso wie in der Gründung wissenschaftlicher Gesellschaften, einer Vielzahl an wissenschaftlichen Publikationen allgemein, und in extremen Fällen in der Etablierung „inoffizieller wissenschaftlicher Disziplinen“ (Makrides 2008: 274). Makrides nennt in diesem Zusammenhang die sog. „Weberologie“, die sich dem Werk und Leben Max Webers widmet, oder die „Wittgensteinologie“ (Makrides 2008: 274). Mit der ausschließlichen Verehrung der Kultfigur gehen zudem die „außerakademische Bekanntmachung der Kultfigur und ihre Popularisierung“ (Makrides 2008: 275) einher. Dazu können Theater‑, Film- und Fernsehproduktionen sowie populärwissenschaftliche Einführungsliteratur (vgl. Makrides 2008: 275) zählen, aber, insbesondere unter Berücksichtigung der digitalen Medien, auch thematisch basierte Websites, audio-visuelle Dokumentationen von Vorträgen, Interviews und Podiumsdiskussionen, spezifische Kanäle auf Video-Plattformen, Gruppen in sozialen Netzwerken, Fanartikel und sonstige ‚Devotionalien‘.
Weitere Charakteristika für Kultfiguren, die jedoch teilweise nur posthum zu beobachten sind, sind die „Zentralisierung“ der Kultfigur „im Kontext ihrer Epoche“ (Makrides 2008: 274), der Umgang mit dem Nachlass, „der sehr oft an den pietätvollen Umgang mit einer Reliquie im konventionellen religiösen Sinne erinnert“ (Makrides 2008: 272), die „religiöse Beschreibungssprache“ (Makrides 2008: 275) die teilweise verwendet wird, und die Musealisierung der Lebens- und Wirkungsstätten des jeweiligen Denkers (vgl. Makrides 2008: 276).
4. Kultische Rezeptionsformen bei Slavoj Žižek
Slavoj Žižek ist in vielerlei Hinsicht „kein gewöhnlicher slowenischer Philosophieprofessor“ (Leigh 2011; Übers. d. Verf.). Žižeks Denken verbindet Lacansche Psychoanalyse, den Deutschen Idealismus und postmarxistisches Gedankengut mit medientheoretischen Reflexionen, populärkulturellen Referenzen und politischem Engagement. Žižeks ideologiekritische Haltung gegenüber der für die Gegenwart diagnostizierten Konsumkultur und dem liberalen Kapitalismus macht ihn für die politische Rechte zumindest zu einem politischen Zyniker, wenn nicht zum „gefährlichsten westlichen Philosophen“ (Kirsch 2009; Übers. d. Verf.), und für die politische Linke zu einem Konformisten (vgl. Sharpe 2010: 243). Žižeks politisches Engagement, das sich von seiner Präsidentschaftskandidatur 1990 in Slowenien (vgl. Sharpe 2010: 243–244) bis zu seinem jüngsten Auftritt bei der New Yorker „Occupy-Bewegung“ (vgl. Gell 2011) erstreckt, ist eng mit seinen theoretischen Positionen verbunden und äußert sich zunehmend in seinen Publikationen, die unter anderem die Terroranschläge vom 11. September 2001 und den zweiten Irakkrieg thematisieren (vgl. Sharpe 2010: 244). Dieser ideologiekritische Impetus, die globale Dimension und die große Anschlussfähigkeit von Žižeks Denken an das tagespolitische Geschehen bieten einen ersten Anhaltspunkt für die Erklärung seiner Popularität und des öffentlichen Interesses an dem ‚Phänomen Žižek‘.
In Bezug auf die wissenschaftliche Aufmerksamkeit lässt sich unter Berücksichtigung der verhältnismäßig kurzen Rezeptionsgeschichte von Žižeks Texten ein relativ großes Interesse verzeichnen. Auch wenn sich kein neues Forschungsparadigma um Žižeks Theorien abzeichnet, so werden diese doch international – worauf die Übersetzung seiner Schriften in bisher 20 Sprachen hinweist (vgl. O’Hagan 2010) – und fächerübergreifend (vgl. Brivic 2008, Depoortere 2008) rezipiert. Akzeptiert man diese quantitativen Kriterien als ausreichenden Beleg für die Leistung von Žižeks Theorien, so stellt sich im Anschluss die Frage nach einer außergewöhnlichen Rezeptionsform innerhalb der Wissenschaft, die eine besondere Verknüpfung zwischen Leben und Werk aufweist, nach spezifischen Devianzerscheinungen in der Lebensführung, nach Selbstinszenierungsstrategien und nach der Ausschließlichkeit des Forschungsinteresses, die Žižek als wissenschaftliche Kultfigur beschreibbar machen könnten. Eine Analyse Žižeks als Kultfigur muss logischerweise ohne einige Merkmale, die zur Bestimmung einer Kultfigur herangezogen werden können, wie die Frage nach der epochenübergreifenden Wirkung seiner Theorien, dem Umgang mit seinem Nachlass und der Musealisierung seines Geburtshauses, auskommen. Jedoch kommt gerade Žižeks Zeitgenossenschaft eine besondere Rolle im Rahmen seiner Wirkung als Kultfigur zu.
Die wissenschaftliche Rezeption von Žižeks Texten lässt zunächst keine übermäßige Verknüpfung von Leben und Werk erkennen. Auffallend ist lediglich, dass Žižek in vielen wissenschaftlichen Publikationen selbst in irgendeiner Weise zu Wort kommt, sei es in Form eines Vorwortes (Žižek 2011), eines Nachwortes (Žižek 2007) oder eines eigenen Beitrags (Žižek 2008) in einem Sammelband. Dennoch sind es im Fall von Žižek andere Merkmale, die seiner Etablierung als Kultfigur zuträglich sind. Als ein deutliches Beispiel für die Ausschließlichkeit des Forschungsinteresses lässt sich das International Journal of Žižek Studies (IJŽS) anführen. Allein der Titel und die Konzeption der frei zugänglichen Online-Zeitschrift suggerieren die enorme Bedeutung, die der exklusiven Erforschung von Žižeks Texten zugewiesen wird. Darüber hinaus ist Žižeks Mitgliedschaft in der Redaktionsleitung ein besonderes Merkmal der Zeitschrift, das den Eindruck einer übermäßigen Konzentration auf die Titel- und Kultfigur unterstützt. Den Herausgebern ist es ein Anliegen, bereits auf der Startseite jeden Zweifel an der Objektivität und Relevanz der Publikation zu zerstreuen und dessen Seriosität zu untermauern: „With a desire to avoid ‘how many Žižeks can dance on the head of a pin?’ types of debate, and mere hagiography, IJŽS aims to provide a valuable resource for those interested in his inimitable brand of critical thought“ (IJŽS). Der Unterstellung einer ‚Heiligenverehrung‘ wird hier also explizit entgegen gewirkt, und auch Žižeks Redaktionsmitgliedschaft wird positiv ausgelegt: „Žižek is alive, which allows him to answer back. […] He readily challenges people trying to sum him up. Hence his presence on the Board of the journal is unsettling rather than anything else – unsettling in a positive way“ (IJŽS). Die Möglichkeit, in einen Dialog einzutreten, stellt zweifelsohne einen wünschenswerten Effekt dar, da dies eine kritische Auseinandersetzung fördern kann. Inwiefern kritische Inhalte durch diese Einflussnahme aber eventuell verhindert werden, bleibt logischer Weise verborgen. Der Inhalt der Zeitschrift lässt jedenfalls erkennen, dass Žižek selbst die öffentliche Plattform der Zeitschrift nutzt, wenngleich mitunter auch dazu, biographische Informationen zu kommentieren und deren Deutung zu beeinflussen (vgl. Žižek 2009).
Neben dem Merkmal der Ausschließlichkeit des Forschungsinteresses, das zumindest am Beispiel der Zeitschrift deutlich zu erkennen ist, zeichnet sich Žižek sowohl durch gewisse Devianzerscheinungen in seiner Lebensführung, eine klare Tendenz zur Selbstdarstellung und durch die Popularisierung seiner Arbeiten aus, die einerseits auf die mediale Repräsentation, anderseits aber auch auf die bewusste Verknüpfung populärkultureller Referenzen und theoretischer Inhalte durch Žižek selbst zurückzuführen ist. In der medialen Repräsentation wird Žižek zu einer schillernden akademischen Figur stilisiert, die mitunter der Lächerlichkeit preisgegeben wird. So gerät das mediale Bild Žižeks zu dem eines intellektuellen ‚Clowns‘, der als „halb Rasputin, halb Groucho Marx“ (Taylor 2007; Übers. d. Verf.), als „The Elvis of Cultural Theory“ (IJŽS), oder als „The Marx Brother“ (IJŽS) beschrieben wird. Das medial vermittelte Bild von Žižek hebt die Idiorrhythmien seiner Lebensführung hervor, die ihn (gerade) auch innerhalb des akademischen Mainstreams als Exoten markieren. Neben physiognomischen Aspekten und seinem starken Akzent sind es vor allem sein Sinn für Humor, der unterstellte Charme des ‚unorthodoxen Intellektuellen‘ und der große Unterhaltungswert seiner zahlreichen Vorträge und Auftritte innerhalb und außerhalb der Akademie (vgl. Oehmke 2010), die teilweise den Charakter einer charismatischen Erweckungspredigt besitzen (vgl. Akrap 2011), welche genannt werden und die seine Lebensweise als deviant charakterisieren.
Die mediale Fremdrepräsentation von Žižek als clowneske Kultfigur wird stets überlagert von seiner Selbstinszenierung und seinen Provokationen, die sich beispielsweise in seiner Vorliebe für skatologische Witze äußert (vgl. Taylor 2007). Ebenso wird die enorme Popularisierung Žižeks und seiner Ideen sowohl von seinen Anhängern als auch von ihm selbst betrieben. So fungiert er beispielsweise als Protagonist von zwei biographischen Dokumentationen, Žižek! (2005) und Alien, Marx & Co. (2010), die ausschließlich seiner Person und seinem Werk gewidmet sind, als Gesprächspartner in der biographisch-philosophischen Dokumentation Examined Life (2008) und als Moderator der TV-Produktion The Pervert’s Guide to Cinema (2009), deren Fortsetzung The Pervert’s Guide to Ideology momentan produziert wird (vgl. Leigh 2011). Diese enge Verknüpfung von Leben und Werk, die für eine Deutung Žižeks als Kultfigur spricht, wird durch jenes oben benannte Moment der selbst betriebenen Popularisierung und Inszenierung unterstützt. Als Anspielung auf den Titel von Žižeks The Sublime Object of Ideology (1989) findet sich auf der Zeitschriften-Website unter der Rubrik „The Sublime Objects of IJŽS“ ein Link (der treffender Weise als „IJŽS objets de kitsch“ betitelt ist) zu einem Online-Shop, der Žižek-Fanartikel vertreibt: „‚Purely in a spirit of fun‘ and in keeping with Žižek’s own irreverent style, we have created a range of IJŽS-themed objects that can be purchased online“ (IJŽS). In diesem Shop finden sich so banale Dinge wie T‑Shirts, Unterhosen und Kopfkissen mit dem Logo der Zeitschrift. Ebenfalls im Angebot befinden sich T‑Shirts und andere Devotionalien mit der Aufschrift „WWŽS?“,; ein Akronym für die Frage „What would Žižek say?“.
Wie unterschiedlich die Deutungen dieser Überlagerungen von Werk und Leben sowie von Fremd- und Selbstdarstellung ausfallen können, zeigen die Äußerungen von Žižek in Astra Taylors Dokumentarfilm Žižek! (2005) sowie die verschiedenen Reaktionen auf diesen Film. Aus der Sicht seiner Anhänger dient die mediale Repräsentation der Diskreditierung seiner Ideen (vgl. Taylor 2010). So spekuliert Paul Taylor: „The media’s apparent need to caricature him […] is perhaps a strategic distraction from the disturbing implications his work has for our interpretation of popular culture’s explicit and implicit ideologies“ (Taylor 2007). Diese Sichtweise wird durch eine Äußerung Žižeks in Žižek! unterstützt: „I’m almost tempted to say that making me popular is a resistance against taking me seriously“ (Žižek! 2005). Žižek und seine Anhänger lehnen die mediale Repräsentation, die mehr auf seine Person abzielt denn auf die Inhalte, die er verbreiten möchte, also einerseits ab, heben aber andererseits die performative Vermittlung der Inhalte durch die Person als besonderes Merkmal von Žižeks Denken und Arbeiten hervor. Dies wird in einer Rezension des Dokumentarfilmes, die im IJŽS veröffentlicht wurde, deutlich: „The intelligence of the documentary Žižek! is to present the phenomenon while taking part in it. […] The case of Žižek – where the medium takes the whole place of the message – teaches us that one and the other are not to be distinguished“ (Lemieux 2008). Im Gegensatz dazu erscheint Žižeks Status als „intellektueller Superstar“ (Scott 2005; Übers. d. Verf.), den der Betroffene zu genießen scheint, in einer andere Kritik des Filmes als „Beleg für die Neigung von Akademikern, insbesondere in den Vereinigten Staaten, Personenkulte um Theoretiker aus fremden Ländern zu bilden“ (Scott 2005; Übers. d. Verf.).
Vor dem Hintergrund dieser vielfältigen Überlangerungen von Leben und Werk, der medialen Repräsentation sowie Žižeks eigenen Popularisierungs- und Selbstinszenierungsstrategien lässt sich der Hype um die Person Žižeks klar im Kontext kultischer Rezeptionsformen verorten. Žižek ist zweifellos ein öffentlicher Intellektueller, dessen ebenfalls aus Taylors Dokumentarfilm stammende Äußerung „I like philosophy as an anonymous job“ (Žižek! 2005) nur als selbstironischer Kommentar verstanden werden kann.
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Anmerkungen
- Im weiteren Verlauf wird aus Gründen der Übersichtlichkeit stets die maskuline Genusform als generalisierender Begriff verwendet. ↩
Philipp Sonntag studierte Anglistik, Philosophie, politische Wissenschaft und „Ethik der Textkulturen“ an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Seit 2010 ist er Lehrkraft für besondere Aufgaben am Lehrstuhl für Anglistik, insbesondere Literaturwissenschaft, und Doktorand im Promotionsprogramm „Literatur und Kultur“.