Ein Interview mit der Schriftstellerin Zsuzsanna Ghase
von Agnes Bidmon
Anlässlich der Übersetzerwerkstatt beim Erlanger Poetenfest 2008 sprach
Schau ins Blau mit der in der Schweiz lebenden Autorin und Übersetzerin Zsuzsanna Gahse über Interkulturalität, die Begegnung des Eigenen mit dem Fremden sowie den Unterschied von sprachlicher und bildhafter Ausdrucksform.
Schau Ins Blau: Sie beschreiben das menschliche Leben als einen Aufenthalt in verschiedenen “Aggregatszuständen”. Beschreibt diese Metapher in ihren Augen treffend das Leben als Übersetzerin mit und zwischen den verschiedenen Kulturen, in Ihrem Fall der ungarischen und der deutsch-schweizerischen.
Zsuzsanna Gahse: Nicht unbedingt, denn mit den Aggregatszuständen meine ich eher die unterschiedlichen Launen und Verfassungen, die jeder an sich kennt, und jeder kennt die Veränderungen, die eine Wut, eine Lust, eine Niedergeschlagenheit auslösen können. Außerdem meine ich “Aggregatszustand” nicht als Metapher, sondern als Realität. Trotzdem haben Sie mit Ihrer Frage Recht, schon weil man sich in jeder Sprache anders, also verändert, fühlt. In jeder Sprache bewegt man sich geradezu verändert.
Schau ins Blau: Während der Diskussion bei der Übersetzerwerkstatt wurde konstatiert, dass man als Übersetzer in verschiedenen Sprachen auch ein je verschiedener Mensch ist. Wie viel Authentizität des eigenen Selbst kommt beim Grenzgang zwischen den Sprachen überhaupt zum Tragen oder ist dieses Je-Verschieden-Sein vielleicht auch ein konstitutiver Bestandteil der Übersetzertätigkeit?
Zsuzsanna Gahse: Ja, ohne die unterschiedlichen Verhaltensweisen der jeweiligen Sprachen zu verstehen, kann man sicher nicht übersetzen.
Schau ins Blau: Erachten Sie das Übersetzen an sich als eine genuin ethische Tätigkeit, indem Sie in der Sprache eines Anderen, und zwar nicht nur in der Sprache eines anderen Menschen, sondern auch einer anderen Kultur, das Wort ergreifen und in einem altruistischen Sinn “für jemanden sprechen”?
Zsuzsanna Gahse: In meinem Fall ist die Sprache, aus der ich übersetze, ein Stück von mir, ein Stück meiner eigenen Kultur, die übrigens rein kulturell betrachtet von der deutschen Wirklichkeit nicht so weit entfernt ist, als würde ich aus einer afrikanischen oder asiatischen Sprache übersetzen. Kulturell muss ich keine großen Sprünge machen. Nur sind die strukturellen Unterschiede zwischen Ungarisch und Deutsch so eminent, dass ich auf dieser Ebene eine Menge leisten muss. Anders gesagt, diese beiden Sprachen sind einander viel ferner als Deutsch und Russisch oder Deutsch und Spanisch. Man muss sich vorstellen, dass es im Ungarischen beispielsweise nur eine Vergangenheit gibt. Folglich muss ich in meine deutsche Übersetzung die Vergangenheiten einbauen, installieren. Dazu braucht man Fingerspitzengefühl. Ich begnüge mich mit diesem einzigen Beispiel, aber es gäbe auf dieser Ebene viel zu erzählen. Und altruistisch ist meine Aufgabe als Übersetzerin praktisch nie, weil ich das Glück habe, Autoren zu übersetzen, die ich wirklich mag. Ihre Anliegen, ihre Schreibweise mag ich, so dass ich mich kaum einmal verleugnen oder verstellen muss.
Schau ins Blau: Kann sich die Begegnung mit dem individuell und kulturell Fremden in ihren Augen eher vollziehen, indem Sie dem Fremden im Sinne Lévinas’ seine Fremdheit belassen oder indem Sie es einbürgern, um es in der Zielsprache möglichst verständlich zu machen? Wie begegnen Sie persönlich diesem schmalen Grat des interkulturellen Dialogs, um dem Ausgangstext “gerecht” zu werden
Zsuzsanna Gahse: “Meine” Autoren, und das sind Péter Esterházy, Péter Nádas oder im Augenblick Otto Tolnai, sie alle arbeiten höchst aufmerksam an der Sprache selbst, und entsprechend ist ihr Ungarisch wunderbar elastisch, aussagefähig. Selbstverständlich versuche ich das Adäquate auf Deutsch. Eine elastische, aussagefähige Sprache. Und wenn mal ausgefallene Vokabeln und Wendungen im Ungarischen auftauchen, bin ich entsprechend ausgefallen in der Übersetzung. Wenn dort etwas absichtlich Antiquiertes oder Ländliches oder Slangartiges auftaucht, muss das auf Deutsch auch so sein. Durch solche Aspekte wird man den Originalton und das Anliegen des Originals wahrnehmen, aber die fertige Übersetzung muss auf Deutsch ein Stück Literatur sein. Also ein wirkliches Deutsch.
Schau ins Blau: Welche Möglichkeiten gibt es, um als ÜbersetzerIn darüber hinaus nicht nur dem jeweiligen Autor/der Autorin des ‘Originals’, sondern auch der Sprache an sich, also sowohl der Ausgangs- wie auch der Zielsprache, gerecht zu werden?
Zsuzsanna Gahse: Der Ausgangssprache muss ich in der Zielsprache möglichst entsprechen. Eine Voraussetzung dafür ist, dass ich die Zielsprache sehr genau kenne. Ich glaube, bei diesem Kennen Vorteile zu haben, weil ich selber schreibe und meine Sprache, die deutsche, gerne genau durchleuchte.
Schau ins Blau: In Ihrem programmatischen Text “Übersetzt. Eine Entzweiung” schreiben Sie aufgrund des eben angesprochenen schmalen Grats davon, dass Übersetzen immer auch ein Unehrlich-Sein und eine Art des Lügens impliziert. Wie verorten Sie also die Position des Übersetzers im Spannungsfeld von Übertragung, Wahrheit und Lüge?
Zsuzsanna Gahse: Was ich in diesem Buch schreibe, ist weitgehend spielerisch gemeint. Einmal sage ich zum Beispiel, dass ich zwischen den beiden Sprachen ein Spion sei, und das meine ich natürlich auch nicht ernst. Aber immerhin, ich höre mir ungarische Sätze an und sage das Gehörte auf Deutsch weiter. Und wenn ich dabei, um auf das schon genannte Beispiel zurückzukommen, die Zeiten — die Vergangenheiten — umbaue, habe ich gemogelt. Ich habe einer neuen Wirklichkeit zuliebe gemogelt. Das Problem ist aber viel größer. Denn im Laufe der Zeit verändern sich manche Bedingungen, so dass ich meine Mogeleien immer neu überlegen muss. Früher musste ich die ungarischen Wörter für Platz, Straße, Allee, Brücke übersetzen, heute kann ich die ungarischen Wörter einsetzen, weil sie nicht mehr so exotisch wirken wie einst. Übersetzer aus dem Französischen, aus dem Englischen haben diese Wörter selbstverständlich nie übersetzen müssen. Die ?Kingsroad” ist niemals ein ?Kings Weg” gewesen, die ?Towerbridge” keine ?Towerbrücke”. Das ist ein banales Beispiel, zeigt aber, dass man solche Fragen immer neu ermessen muss.
Schau ins Blau: Welchen Stellenwert nimmt der Übersetzer / die Übersetzerin Ihrer Meinung nach somit in der Triade Autor-Text-Leser ein und welche Verantwortung trägt er / sie?
Zsuzsanna Gahse: Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll. Anhand der vielen Shakespeare-Übersetzungen sieht man, wie wichtig die Übersetzer und wie wichtig unterschiedliche Übersetzungen sind. Dem Übersetzer kommt eine wunderbare, verantwortungsvolle, sprachspielerische Aufgabe zu. Diese Aufgabe ist groß, schön, schätzenswert und wie gesagt verantwortungsvoll. Aber die Erzählweise, die jeweiligen Inhalte, die sprachlichen Grundideen legt der Autor des Originals vor. Er ist und bleibt die Hauptperson.
Schau ins Blau: Wie bestimmen Sie das Verhältnis von phallogozentrisch geprägter Sprache und — wie Sie schreiben — der vornehmlich weiblichen Übersetzertätigkeit? Spielt sich somit in Ihren Augen auf der Textebene ein ?Kampf der Geschlechter” ab, ist Übersetzen somit auch ein existentielles Ringen um Sprache?
Zsuzsanna Gahse: Das ist in meinem Fall eine witzige Frage. Denn das Phallogozentrische kommt im Ungarischen nicht wirklich zum Tragen, schon, weil es keine grammatikalischen Geschlechter gibt. Es gibt kein
er, sie, es. Oft muss ich in den zu übersetzenden Texten lang überlegen, ob es sich bei der genannten Person um eine Frau oder einen Mann handelt. Oder um ein Mädchen. Und erst auf Deutsch dreht sich mir der Magen um, wenn ich schreiben sollte: Das Mädchen,
es weint. Schreibe ich auch nicht. Weder in Übersetzungen, noch in den eigenen Texten. In diesem Sinne gibt es keinen Kampf der Geschlechter, oder es gibt ihn nur unsichtbar. Allerdings wird in Ungarn viel geflucht, Flüche gehören zu der einfacheren Alltagssprache und tauchen daher auch in literarischen Texten auf. Kaum zu glauben, welche ausgefallenen Fluchmöglichkeiten es gibt, was da der Herrgott mit der Mutter Maria treibt oder mit sonst einer Mutter. Würde ich diese Flüche wörtlich übersetzen, wäre es auf Deutsch ungewöhnlich und hätte einen anderen Stellenwert als im Original, wo die derben Wendungen sich nicht so derb ausnehmen und nicht eins zu eins das bedeuten, was sie sagen. In solchen Fällen muss ich um die Balance der Übersetzung ringen. Und ringen muss ich auch sonst, ich muss feilen und feilen, bis ich mit einer Übersetzung zufrieden bin.
Schau ins Blau: Sie haben während der Übersetzerwerkstatt dafür plädiert, dass das eigene Schreiben immer auch eine Art des Übersetzens bedeutet, indem Sie Ihre subjektiven Gedanken und Gefühle in die konventionalisierte Sprache zu transferieren versuchen. Wie würden Sie somit das Verhältnis von ‘reiner’ Übersetzungstätigkeit fremder Texte und dem Verfassen eigener Texte charakterisieren?
Zsuzsanna Gahse: Das ist ein weites Feld. Natürlich hat die Sprache Konventionen und auch Starrheiten. Zugleich entwickelt und verändert sie sich ständig weiter, und bei der Veränderung kann man mitmachen. Man kann versuchen, die eigene Idee so zu formulieren, dass die Formulierung den Leser oder den Hörer bewegt. Dass etwas Neues verständlich wird. Auf solche Weise kann man Wörter ver-rücken, weiterrücken, verändern. Ortega y Gasset sagt: “Die persönliche Ausdrucksweise besteht beispielsweise darin, daß der Autor den herkömmlichen Sinn eines Wortes leicht abwandelt, daß er das Wort zwingt, einen Kreis von Gegenständen zu bezeichnen, der nicht genau mit dem übereinstimmt, den es in seiner üblichen Verwendung bezeichnet.” — Überhaupt sagt Ortega viel Wichtiges zum Thema Übersetzen, und vor drei Jahren habe ich einen Band der
HOREN herausgegeben, in dem alle Themenkapitel mit einem Ortega-Satz beginnen, so wichtig finde ich ihn. Also das Übersetzen tut dem Schriftsteller gut und der Schriftsteller dem Übersetzen, weil es da immer um die sehr genaue Beobachtung von Ausdrucksweisen geht. Und wer Wörter und Sätze genau nimmt und dabei immer versucht, das Gedachte vielleicht auch noch auf eine andere Art auszudrücken, der merkt unweigerlich, dass man erst eine Idee im Kopf hat, die Idee steckt zunächst noch nicht in Wörtern, die müssen gesucht werden. Folglich wird in diesem Stadium die Idee in Wörter übersetzt. Oder um auf Ihre Frage einfacher zu antworten: Es geht nicht um das Hinübersetzen des Subjektiven ins Objektive — oder nur ganz weit im Hintergrund — sondern es geht um etwas beinahe wortlos Gedachtes in den klaren Wortbereich.
Schau ins Blau. Sie arbeiten intensiv mit dem Schweizer Künstler Christoph Rütimann zusammen. In welchem Verhältnis stehen für Sie die Ausdrucksformen der Sprache und der bildenden Kunst, die ohne Worte Differenzen auf eine ganz andere Art zu überwinden vermag? Wo sind die Grenzen der sprachlichen Ausdrucksmöglichkeit erreicht, die die bildende Kunst zu überwinden vermag und auf welche Weise befruchten sich diese “Sprachformen’ wechselseitig.
Zsuzsanna Gahse: Das Sichtbar machen ist ein Grundanliegen für Christoph Rütimann und auch für mich. Sichtbar machen, etwas deutlich in den Raum stellen, schon durch das Sehen verstehen: Das sind Gemeinsamkeiten in unseren Ansichten. Und einerseits arbeitet er mitunter auch mit Wortbildern, andererseits arbeite ich mit Schriftbildern, auch das ist eine Parallele. Außerdem, auch unabhängig von unseren gemeinsamen Arbeiten, hat Sprache — also Literatur — verschiedene Aspekte. Literatur — also Sprache — enthält per se schon Bilder, und sie enthält auch Musik und auch Szenisches. Zu hoffen bleibt, dass Literatur — also Sprache — auch Nachbarschaften zur Philosophie und zu anderen Wissenschaften pflegt, und da geht es dann wirklich interkulturell zu.
Schau ins Blau: Liebe Frau Gahse, wir danken Ihnen ganz herzlich für Ihre Zeit und das Gespräch!
Literaturverzeichnis: Zsuzsanna Gahse:
Entzweit. Eine Übersetzung. Berlin 1993. Zsuzsanna Gahse (Hg.): “Im übersetzten Sinn”. In:
Die Horen (50/2), Band 218. Bremerhaven 2005.