Ein Interview mit Stefan Kaegi von “Rimini Protokoll” über Gegenstand, Freiheit und Engagement des Theaters
von Patricia Thoma
“Rimini Protokoll” nennt sich das Berliner Label, das Stefan Kaegi zusammen mit Helgard Haug und Daniel Wetzel im Jahr 2000 gegründet hat. Ziel des Regietrios ist es, die Realität aufzubrechen, um sie auf verschiedenste Weise neu zu präsentieren und auf die Bühne zu bringen. Kaegi inszeniert diese Facetten der Wirklichkeit in dokumentarischen Theaterstücken, Hörspielen und Stadtrauminszenierungen auf internationalem Raum und erhält dafür gemeinsam mit seinen Kollegen des “Rimini Protokolls” zahlreiche Auszeichnungen.
Im Juli 2019 nahm Stefan Kaegi an den “Augsburger Gesprächen zu Literatur und Engagement” im Rahmen des Augsburger Friedensfestes teil, das in diesem Jahr unter dem Thema “Freiheit” stand. Dieses Gespräch soll nun mit “Schau ins Blau” über Gegenstand, Freiheit und Engagement des Theaters fortgeführt werden.
Schau ins Blau: Herr Kaegi, Sie und Ihre Kollegen des Rimini Protokolls brechen mit Ihren Projekten mit den Konventionen des Theaters. Ihre Bühne ist überall – ob im Museum, im Wohnzimmer, auf der Straße, im Lkw oder doch im Schauspielhaus. Sie lassen ‚Experten des Alltags‘ innerhalb des Theaterrahmens über ihre eigenen Geschichten sprechen und keine Schauspieler, die sich zu einem Fremdtext verhalten. Die Protagonisten treten nicht untereinander in dramaturgisch angelegte Dialoge, sondern adressieren das Publikum. Dieses tritt aus dessen Beobachterrolle heraus und ist partiell sehr aktiver Bestandteil der Inszenierung. Sie bedienen sich anderer Kunstformen wie Installationen, Performances oder interaktiver Medienkunst und lassen diese mit dem Theater somit zu einem Genre verschmelzen. Kurzum: Sie dekonstruieren gängige Theatermittel. Da stellt sich die Frage: Wenn nicht über diese Mittel, worüber definiert sich Theater? Was ist Theater für Sie?
Stefan Kaegi: Ich würde nicht sagen, dass ich Theater dekonstruiere. Im Gegenteil: ich finde Theater in vielen Nischen unseres Alltags und versuche Methoden zu finden, diese Ausschnitte aus der Realität in den Kontext des Theaters zu übertragen. Dabei arbeiten wir oft sehr klassisch narrativ und zielen oft auf die Identifikation des Publikums mit unseren Protagonist*innen — also durchaus im Sinne von Aristoteles.
Schau ins Blau: In Anbetracht der Dekonstruktion konventionellen Theaters haben Sie und Ihre Kollegen des Rimini Protokolls 2012 in einem ABCD[1] über das zeitgenössische Theater mehr oder minder ernst gemeinte Zukunftsprognosen für das Theater veröffentlicht. Unter anderem Folgende: „Es wird Aufführungen geben, die werden nur in einer Begegnung bestehen.“ „In Autocrashtests werden Dummies durch Zuschauer ersetzt. Risikotheater. Wer will schon einen Aufprall verpassen?“ „Aber es wird auch vegetarisches Theater geben, in dem nur Pflanzen auf der Bühne stehen. Man schaut dem Grün beim Wachsen zu.“ und viele mehr. Haben Sie inzwischen neue Erkenntnisse oder Prognosen, wohin sich das zukünftige Theater generell, aber auch Ihr Theater im Speziellen entwickeln wird?
Stefan Kaegi: Ich hoffe, das Theater wird weiterhin das tun, was man von ihm am wenigsten erwartet. Insofern sind unsere Prognosen Schüsse in den leeren Raum. Aber ich denke, das Theater wird eine wesentliche Rolle spielen im Inszenieren von Beziehungen zwischen Menschen. Das etablieren von Codes in Begegnungen, die es Menschen erlauben, sich füreinander zu öffnen. Je mehr wir uns unsere Gesprächspartner*innen digital vermitteln lassen, desto mehr zählt das Teilen des gemeinsamen Raumes. Publikum, das passiv im Dunkeln dämmert und nach oben auf die Bühne schaut, um andere zu bewundern, wird es immer weniger geben, ohne dass es verschwindet.
Schau ins Blau: In den diesjährigen Augsburger Gesprächen zu Literatur und Engagement hat uns das Thema Freiheit beschäftigt, unter anderem die Freiheit der Kunst. Sie arbeiten als freier Theaterschaffender. Ihre Inszenierungen sind, wie bereits erwähnt, frei von Konventionen gängigen Theaters. Wie frei fühlen Sie sich in Ihrer Kunst? Und ist Theater für Sie ein besonders freies Genre?
Stefan Kaegi: Wir arbeiten ja oft dokumentarisch. Und da bin ich nur insofern frei, als dass ich die Experten, die ich eingeladen habe, auf unserer Bühne zu stehen, als Ko-Autoren respektieren muss. Sie sprechen ja über sich — und tun nicht so als wären sie ein fiktiver Anderer. Da entsteht eine gewisse Unfreiheit, die aber inspirierend ist, weil sich dieses Theater eben nicht im luftleeren Raum befindet, sondern sich an der Realität reibt.
Schau ins Blau: Bleiben wir einen Moment bei der Freiheit des Theaters bzw. eventueller Unfreiheit dessen: Als Zuschauer weiß man grundsätzlich nie, was einen im Theater erwartet und gleichzeitig gibt es kein Theatererlebnis ohne vorherige Erwartungshaltung – sowohl von Seiten des Publikums als auch von Seiten der Öffentlichkeit und Theaterlandschaft. Steht man als Theatermacher in der Verantwortung, diese Erwartungshaltungen mitzugestalten, besonders da Sie auch international inszenieren? Ist Theater Bedarfsweckung oder –deckung?
Stefan Kaegi: Wir erfinden ja viele Formate und Spielformen der Interaktion. Da sind wir sehr frei, die Regeln des Zusammenseins immer noch mal anders zu definieren. Andererseits müssen diese Spielregeln verständlich sein, und so entwickeln wir viel in Tryouts mit Zuschauern, deren freie oder unfreie Reaktionen wir genau beobachten, um daraus zu schließen, wie der Kommunikationsprozess funktioniert.
Schau ins Blau: Zuletzt soll uns das Theater in Bezug auf dessen Engagement beschäftigen. Hannah Arendt sagt, „der Mensch ist a‑politisch. Politik entsteht in dem Zwischen-den-Menschen“[2], erfordert also die Begegnung von Menschen miteinander. Das Besondere am Theater gegenüber anderen Medien ist, dass es dieses Zusammentreffen generiert. Zuschauer wie Akteure teilen bis zur letzten Sekunde der Darbietung Raum und Zeit. Rezeption und Produktion verlaufen gleichzeitig und unmittelbar. Liegt darin die Chance des Theaters, sich in gesellschaftlichem und politischem Kontext zu engagieren? Welches Potenzial sehen Sie im Theater, auf Konflikte, in welcher Form und zu welchem Zeitpunkt auch immer, Einfluss zu nehmen?
Stefan Kaegi: Mein Anliegen ist nicht, die Zuschauer*innen in die eine oder andere Richtung hin zu beeinflussen. Ich denke nicht, dass im Publikum Unmündige sitzen, die aus ihrer Naivität herausgeführt werden müssen, wie das die Aufklärung sah. Aber ich kann eine Lust vermitteln, sich mit der Komplexität von Fragen wie Klimapolitik, Waffenhandel oder künstlicher Intelligenz auseinanderzusetzen.
Schau ins Blau: Ihre Stücke gelten als Repräsentanten neuen dokumentarischen Theaters,[3] das historische Phänomene qua künstlerischer Markierung ins öffentliche Problembewusstsein rückt und für Partizipierende und Zuschauer erlebbar macht. Zudem steht Ihr Theater stark in Verbindung zu epischem Theater,[4] das einen recht praktischen Zweck verfolgt – die Gesellschaft zu desillusionieren und appellativ auf Möglichkeiten der Veränderung aufmerksam zu machen. Diesen Theaterformen liegt eine große moralische Komponente zugrunde. Gleichzeitig gibt es Stimmen wie Milo Rau, der bekanntermaßen sagt, „es gibt keinen Ort, der sich schlechter für Moral eignet als das Theater“[5]. Muss Gegenwartstheater stets moralisch sein bzw. existiert überhaupt Theater, das nicht auf irgendeine Art und Weise moralische Wirkung erzielt?
Stefan Kaegi: Und gleich nochmal: Vielschichtigkeit schlägt im Theater die moralische Keule. Es geht darum, Sinne und Synapsen anzuregen — nicht, zur Schule zu gehen.
Schau ins Blau: Schließlich, lieber Herr Kaegi, bedanke ich mich an dieser Stelle ganz herzlich für das Interview und frage Sie zu guter Letzt nach Ihrer persönlichen Expertenmeinung – ausnahmsweise in Ihrer Funktion als Zuschauer. Welche Theatermacher*innen bergen für Sie aktuell das Potenzial sowohl formal als auch inhaltlich subversiv auf die Gesellschaft und die Theaterlandschaft einzuwirken und verdienen ihrer Meinung nach Gehör und Aufmerksamkeit? Was ist das für Sie beste und spannendste Theater, das Sie in letzter Zeit gesehen haben?
Stefan Kaegi: Ich habe in den letzten Wochen viel live-streaming aus dem englischen Parlament geschaut, als dort um den Brexit gestritten wurde. Das war sehr aufreibendes, tragisches, manchmal sogar berührendes Theater im Ringen mit den Zeichen der Zeit.
[1] Rimini Protokoll: ABDC. Saarbrücker Poetikdozentur für Dramatik. Berlin: Theater der Zeit, 2012. S. 94 – 99.
[2] Arendt, Hannah: Was ist Politik? Fragmente aus dem Nachlaß. München: Piper, 1993. S. 11.
[3] Vgl. Tobler, Andreas: „Kontingente Evidenzen. Über Möglichkeiten dokumentarischen Theaters“ in: Nikitin, Boris et al. (Hrsg.): Dokument, Fälschung, Wirklichkeit. Materialband zum zeitgenössischen Dokumentarischen Theater. Berlin: Theater der Zeit, 2014. S. 147 – 161. Hier: S. 151f.
[4] Raddatz, Frank‑M.: Brecht frißt Brecht. Leipzig: Henschel, 2007. S. 214ff.
[5] Höbel, Wolfgang: Schauprozess. Spiegel Online, 25.02.2013. https://www.spiegel.de/spiegel/print/d‑91203452.html.
Stefan Kaegi
Der in der Schweiz aufgewachsene Theatermacher studiert zunächst in Basel Philosophie, in Zürich Kunst und schließlich an der Justus-Liebig-Universität Gießen Drama, Theater, Medien. Im Jahr 2000 gründet Kaegi mit zwei seiner Kommilitonen – Helgard Haug und Daniel Wetzel – das Label Rimini Protokoll. Unter diesem Namen inszeniert Kaegi auf renommierten Bühnen sowohl des deutschsprachigen, als auch des internationalen Raums. Zusammen mit Rimini Protokoll wird Stefan Kaegi zahlreich ausgezeichnet – unter anderem mit dem deutschen Theaterpreis „Der Faust“, dem europäischen Preis „New Realities in Theatre“, dem „Silbernen Löwen“ der Theater-Biennale von Venedig, dem „Excellence Award“ des japanischen Media Arts Festival, dem “Routes Award for Cultural Diversity” der Europäischen Kulturstiftung und dem „Grand Prix du Théâtre“ des Schweizer Bundesamts für Kultur. Kaegi lebt in Berlin, wo Rimini Protokolls Produktionsbüro seit 2003 ortsansässig ist.