© Urban (Universal Music)
Gentleman – Blaue Stunde
von Jona Kron
Gentleman gibt es jetzt auch auf Deutsch. Nach sechs Studio- und zwei Livealben, zahlreichen Kollaborationen und dem ersten MTV Unplugged eines Reggae-Künstlers (2014), hört man den Kölsche Jung zum ersten Mal eigene Lieder in seiner Muttersprache singen. Gentleman kann dabei auf beachtliche internationale Erfolge zurückblicken, wie seine Durchbruchsingle Intoxication (2004), sowie auf nationaler Ebene mit dem Platinalbum Confidence (2004) oder zuletzt 2016 gemeinsam mit Gzuz und den Beginnern auf deren Dreifachgoldsingle Ahnma. Doch gelingt es Gentleman, dass dieser Funke vom Patois auf das Deutsche, respektive auf alte und neue Fans überspringt?
Kein leichtes Werk, für das sich Gentleman musikalische Unterstützung aus Jamaika in Form des altetablierten Produzenten Don Corleon geholt hat. Aber auch die als deutsches Produzententeam noch recht neuen und dennoch erfolgreichen Jugglerz tragen zum Klangbild des Albums bei. Diese Dualität in der Produktion lässt sich zunächst auch auf die Auswahl der Co-Schreiber ausweiten. Hier trifft die verspielte Wortakrobatik eines Florian Renner (alias Damian Davis) auf die Mainstreamerfahrung von Mark Cwiertnia (alias Mark Forster) und Mario Wesser (Songwriter unter anderem für Deichkinds Leider Geil (Leider Geil) und Marterias Lila Wolken).
Allerdings wird spätestens mit dem Eröffnungssong des thematisch stimmig benannten Albums klar, dass sich Blaue Stunde nicht nur mit scheinbaren Gegensätzen auseinandersetzt, sondern vor allem mit dem Auffinden einer Mitte, welche als Leitmotiv dienen soll. So stellt sich Gentleman zunächst während Ahoi zuversichtlich selbst in die ‚Mitte seiner Karriere‘; „dies ist die Vorschau auf meinen Rückblick … es gibt keinen andern Weg, wieder Land zu sehen“, und stellt gleichzeitig klar, dass dieser Aufbruch in neue Gewässer ein notweniger Schritt ist. Auch kommt ein wiederum thematisch passendes Stilmittel des Albums zum Vorschein: der intertextuelle und selbstreferenzielle Verweis auf Gentlemans Liederkatalog. So verwendet er in Ahoi den Titel Runaway (2002), um Abstand zu nehmen von der inneren Unruhe des jüngeren Gentleman, beteuert aber, dass er einen gewissen jugendlichen Optimismus und damit seine „Hoffnung nie verloren“ hat.
Mit Zwischen den Stühlen gelingt Gentleman der erste große Akzent des Albums. Es ist eines der Lieder, die das Leitmotiv des Albums besonders elegant zum Ausdruck bringen. Gentleman ist „zu Haus in gemischten Gefühlen“, portraitiert persönliche, wie kulturelle Zerrissenheit, aber auch die Zufriedenheit, die in ihr gefunden werden kann: „bin hier und weit weg, dazwischen find’ ich mein Glück.“
Während Garten ein spielerisches nach außen Kehren der eigenen Gedankenwelten darstellt und somit den selbstreflexiven Charakter des Albums betont, folgt ein zweites Highlight mit Time Out. Wenn in Ahoi der Wandel des Künstlers anhand seines Liederkatalogs deutlich gemacht wird, dann zeigt Time Out mit erschütternder Härte, dass über die letzten 20 Jahre in diesem Katalog häufig thematisierte Missstände nur noch weiter ausgeartet sind: „Immer, immer wieder dieselben bösen Geister und wir fallen immer wieder auf sie rein. Schrieb so viele Lieder, wo ich dachte wir wär‘n weiter, doch wir brauchen wohl noch ein bisschen Zeit.“ Somit lässt sich das Lied, trotz dem angenehmen Reggae-Riddim, dem Singsang und dem Appell des Chorus: „Drück mal kurz auf ‚Stopp‘!“, nicht in die Rolle eines Lieds zum Abschalten zwängen.
Vielmehr ruft Time Out dazu auf, innezuhalten und sich der Hektik der modernen Welt zum Trotz auf die Lösung langfristiger sozialer Probleme zu fokussieren. Das dazugehörige Musikvideo bemächtigt sich außerdem dem etablierten Stilmittel der Selbstreferenz, um mit visuellen Verweisen auf die Titel Serenity (2007), Dem Gone (2002) und Changes (2010) deren thematische Relevanz zu unterstreichen – im Fall von Dem Gone sogar wortwörtlich.
Für frischen Wind sorgen dagegen die Featuregäste. Neben einem im deutschen Rap- und Popkosmos allgegenwärtig scheinenden Sido, schließen Luciano und Summer Cem die Lücke zum Zeitgeist des aktuellen Rap. Devam, die Kollaboration mit Luciano und dem türkischen Rapstar Ezhel, setzt sich allerdings vom Rest der Herde ab. Nicht nur überzeugt Ezhels Chorus melodisch auf ganzer Linie, Gentleman entgeht außerdem spielerisch der Falle, sich stilistisch an dem hierzulande äußerst erfolgreichen Luciano zu messen: „… immer nur gemacht was ich wollte. Fall total aus der Rolle und tanz aus der Reihe so ganz von alleine.“ Stattdessen fällt er zurück auf das Leitmotiv und wird zur eigensinnigen Mitte, zwischen dem Aktuellen in Luciano und dem Vergangenen in Ezhel. Letzterer wirkt unweigerlich wie ein Throwback zu 2005, als Gentleman mit Mustafah Sandal den Hit Isyankar auf einer Wetten, dass-Bühne in der Türkei zum Besten gab.
Während Schöner Tag mit Sido ein nettes Spiel zwischen dem Sarkasmus des Features und dem ungebrochenen Optimismus von Gentleman eröffnet, liegt dessen wahres Potenzial nicht auf Tonträgern, sondern – ähnlich verhält es sich mit Wo auch immer, Feierwahn und Mehr als mich – auf Festivalbühnen, welche uns noch eine Weile vorenthalten bleiben dürften.
Bruder wiederum, macht einen größeren Schwachpunkt des Albums deutlich. Nicht nur gelingt es Gentleman hier weniger gut, sich nicht dem Featuregast Summer Cem unterzuordnen, das Lied selbst wirkt wie der kleine, unbeholfenere Bruder des Folgesongs So nah. Geht jener doch um einiges feinsinniger und emotionsgewaltiger mit dem Thema der verlorenen Freundschaft um. Neben Bruder tummeln sich auf dem Album noch weitere solche kleinen Geschwister. Da wäre Garten, der die Höhen von Dunkelblaues Boot in puncto Selbstreflexion nicht erreicht und die Zwillinge Wo auch immer und Staubsauger. Letztere geben sich zwar hörbar Mühe, doch scheitern beide dort wo Time Out glänzt. So unterliegt einer dem Biss im Appell des großen Bruders, während der andere der Trope des Entspannungssongs nicht entkommt.
Dass es trotz thematischer Überschneidung auch anders geht, zeigt die Trilogie über Gentlemans Familie. In Bei dir sein tritt die Verspieltheit des Künstlers besonders klar hervor und zwar in Kombination mit der Bekundung von uneingeschränkter Liebe und Aufmerksamkeit für seine kleinste Tochter. Demgegenüber steht das rohe, aber nicht weniger ehrliche Eingeständnis von Wieder gehen, das besagt, dass der liebevolle Vater nicht immer der perfekte Partner sein kann und er manchmal sogar die eigene Freiheit über die Bedürfnisse seiner Frau und Familie stellt.
Beide Seiten des Familienmanns finden ihre bittersüße Synthese in Ich komm zurück; dem Versprechen eines Vaters an seinen inzwischen erwachsenen Sohn, der seinen damals jungen Vater lange an die Musik und das Reisen verloren hatte.
Als letztes Lied schließt Gentleman in Ich komm zurück auch den in Ahoi aufgemachten Kreis der Selbstreferenz. Schließlich gesteht er, während der Geburt seines Sohnes noch im „Kopf voll auf Trodin On“ zu sein, seinem ersten Studioalbum aus dem Jahr 1999. Somit kann das Versprechen der Rückkehr getreu dem Leitmotiv auch als Versicherung an Fans der ersten Stunde verstanden werden: Gentleman macht jetzt Musik auf Deutsch, aber nicht immer, nicht nur. Und warum nicht einfach beides Patois und Deutsch?
Zusammenfassend lässt sich also festhalten, dass der Funke durchaus übergesprungen ist. Das Album ist stimmig, inhaltlich durchdacht konzipiert und überzeugt durch hervorragende Produktionsqualität. An manchen Stellen wirkt es zwar so als hätte sich Gentleman in der deutschen Sprache noch nicht ganz gefunden, aber ein solides Fundament stimmt optimistisch auf die zweisprachige Weiterentwicklung seiner Musik. Das Album bringt neue Farbe in Gentlemans Liederkatalog und bereichert ihn um einige seiner stärksten Songs ungeachtet der Sprache. Blaue Stunde muss sich hinter keinem seiner früheren Alben verstecken und hinterlässt neue Hörer darüber hinaus mit Referenzen zu seiner alten Musik.