Die blaue Nacht in Nürnberg dient nicht allein der Unterhaltung, sondern fungiert stets auch als Plattform für zeitgenössische Kunst. Wie die Jahre zuvor, fand auch diesmal im Vorfeld ein Kunstwettbewerb statt, der Schaffenden aus dem In- und Ausland die Möglichkeit gab, ihre Projekte vorzustellen. Aus hundert Beiträgen wurden zwölf Performance‑, Lichtkunst‑, Musik- und Theaterprojekte ausgewählt, denen die Realisierung im besonderen Rahmen dieses Großevents ermöglicht wurde. An ?kunstfremden” Orten wie den Innenhöfen von Gewerkschaftshäusern und Arbeitsämtern, an Straßenecken und anderen ungewöhnlichen Plätzen stellten die jungen Künstler ihre Konzeptionen vor, die sich alle um das Thema ?Insel” drehten, das Motto, unter dem die blaue Nacht dieses Jahr stand. Das Künstlerduo Marc Westermann und Jörg Rost, hatte sich für ihre Performance ?Inseln versenken”, das erste Mal zusammengetan. Ihnen wurde ein besonders geschichtsträchtiger Ort für die Umsetzung zugewiesen — der alte Rathaussaal. Die beiden Künstler aus Schwerte setzten sich auf zwei Stapel Papier und zerknüllten diese, Blatt für Blatt, im Verlauf mehrerer Stunden. Die mit fluoreszierender Farbe bedruckten Blätter bildeten die Inseln der Agierenden, welche sich somit, langsam aber sicher, durch ihr Tun den ?Boden unter den Füßen wegzogen”. Das zerknüllte Papier bildete auf dem Fußboden neue Inseln, die durch das Publikum und einen Straßenkehrer in verschiedene Richtungen gestoßen wurden. Als Kommentar zur Rat- und Orientierungslosigkeit der Gesellschaft gedacht, wurde hierbei durch reines, reflexionsfreies Tun der Mensch in seinem gegenwärtigen Handlungsspielraum charakterisiert. Durch die bewusst offene Gestaltung erlaubte die Performance dem Publikum, selbst aktiv zu werden und einen Beitrag zu leisten, dessen Form und Verlauf nicht vorherbestimmt werden konnte. Nicht als Maler, Bildhauer oder Performancekünstler wollen Marc Westermann und Jörg Rost gesehen werden, sondern als Menschen, die sich mit den Zeichen der Zeit beschäftigen. Sie richten ihre Aufmerksamkeit auf die Gesellschaft und versuchen die Problemstellungen nachzuvollziehen, die für unsere Zeit symptomatisch sind. Ihr Anliegen ist es, die Zusammenhanglosigkeit der Lebensbereiche, welche die hoch entwickelte abendländische Kultur auszeichnet, zu erschließen, weil das komplexe Gefüge der Gegenwart durch die Wissensdisziplinen wie die Philosophie, die nicht eigenständig kreativ ist, nur noch unzureichend zu fassen ist. Einzig die Kunst, so meint Westermann, vermag die einzelnen Lebensdimensionen, erweiternd und gleichzeitig reflektierend, zu erschließen. Ohne einen programmatischen Willen fungiert sie so als ?Gesellschaftspolizei” oder ?Ideenpaparazzi, indem sie aktuellen Entwicklungen nachspürt. Um zur Wirkung zu gelangen, muss sie den Betrachter jedoch berühren, ihn bewegen können. Nur wenn der Besucher auf die Kunst reagiert, lässt sich sein derzeitiger gesellschaftlicher Standpunkt erfahren. Der Künstler ist somit, wenn er ein Kunstwerk nach dieser Definition schaffen will, verpflichtet, sich mit den Sehgewohnheiten und der Auffassungsgabe seines Publikums zu beschäftigen. Wie der Mensch auf eine ungewohnte Umgebung reagiert, wie er sich den Raum, den er in einem anderen Kontext als dem gewohnten vorfindet, aneignet oder nicht, sind somit die Fragestellungen, welche Rost und Westermann beschäftigen. Erfolgreich brachen sie an diesem Abend im Rahmen ihrer Performance mit den üblichen Konventionen, die das Verhältnis von Künstler und Publikum normalerweise bestimmen.
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Quellen
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Erlebnisbericht
19.00 Der Rathaussaal liegt im Dämmerlicht und die blaue Nacht beherrscht Nürnberg. Bis auf zwei Papierstapel, die in der Mitte des schiefergrauen Bodens stehen, ist der Saal leer. Mit lockeren Schritten betreten die beiden schwarz gekleideten Performancekünstler Marc Westermann und Jörg Rost den Raum und nehmen auf den Stapeln Platz. Einen Teil des Papiers legen sie zu ihren Füßen und fangen an, das Papier, Blatt für Blatt, in einem steten Rhythmus zu zerknüllen. Die entstehenden Papierbälle verteilen sie gleichmäßig im Raum. Durch die Abendsonne, die dem Papier einen schrägen Schatten verleiht, wird dem willkürlichen Arrangement der Anschein eines Musters gegeben. Die ambivalente Geste des Knüllens, die zum einen das Scheitern ausdrückt, das Verwerfen einer Idee, lässt andererseits aus jedem Blatt Papier ein neues Objekt entstehen. Die Zuschauer setzen sich auf die Bänke, die rings den Saal umziehen und lauschen dem fast meditativ anmutenden Geräusch des Raschelns, das die Stille durchdringt. Gegen Ende jeder Stunde verlassen die Künstler den Raum. An ihre Stelle tritt ein orange gekleideter Straßenkehrer, der die Haufen neu formiert. 21.00 Langsam verändert sich das Licht. Während es draußen dunkler wird, geht das Licht im Saal mehr und mehr vom Papier selbst aus, auf das, wie jetzt erkennbar wird, eine Windrose mit fluoreszierenden Farben gedruckt ist, die im Schein des Schwarzlichts zu leuchten beginnt. Durch ihre dunkle Gewandung verschwinden die Künstler und werden zu düsteren Schatten. Nur ihre Hände leuchten gelbgrün, weil die Druckfarbe an ihnen haften bleibt. So zeichnen sich ihre dunklen Silhouetten gegen den mittlerweile fast gänzlich bedeckten Boden ab, der in seiner Unberührtheit an eine Schneedecke erinnert. Es hat einen geradezu unheimlichen Effekt, wenn die leuchtenden Hände mit gleichbleibendem Rhythmus das Papier in einem monotonen Takt zerknüllen. Immer öfter klauen die Zuschauer die einzelnen Papierknäuel und falten sie auf, um die Windrose zu betrachten. Auch Kinder sind im Saal, die irgendwann anfangen, sich mit den Bällen zu bewerfen und mit ausgebreiteten Armen durch die leuchtenden Haufen zu laufen. Die Ruhe löst sich auf und in der aufkeimenden Ausgelassenheit versuchen die Besucher, einen der Künstler unter dem Papierberg zu begraben. Die Zuschauer sind zu einem Publikum geworden und die Performance zu einem Happening. Eine Gruppe Jugendlicher baut kleine Schneemänner aus Papier. Als der Straßenkehrer um Mitternacht erscheint, wird er geradezu sabotiert. Er wird beworfen, ein gut gekleideter Herr ringt mit ihm um seinen Besen und Kinder versuchen, ihn unter dem Papier zu begraben. 23.30 Kurz vor Mitternacht erreicht der Trubel sein größtes Ausmaß. Die Leute schlendern durch das mittlerweile zertrampelte Material, wie man es an Herbsttagen auf laubbedeckten Wiesen tut. Es herrscht eine fröhliche Festivalatmosphäre. Selbst erwachsene Menschen stürzen sich kopfüber in die Papierberge. Der Rathaussaal ist zu einem regelfreien Raum geworden, in dem keine Normen für das Verhalten bestehen und die Reaktionen instinktiv ausfallen. Die Künstler sind in der tobenden Menge nicht mehr auszumachen. Irgendwo zwischen dem ausgelassenen Publikum sitzen sie, von einem Halbkreis von Menschen umgeben, die ihnen Fragen stellen oder sich mit ihnen unterhalten. Dann ertönt von Jörg Rost ein Ruf, der das Nahen des letzten Blattes ankündigt. Er steht mittlerweile in einer hüfthohen Papierwehe. Auch Marc Westermann hat nur noch wenige Blatt Papier übrig. Übermütig zählt das Publikum laut mit. Als er das Letzte erreicht ist, stehen die beiden Künstler zusammen, halten es vor sich wie eine Trophäe, während sie von der Menge fotografiert werden. Dann gehen sie langsam aus dem Raum, in der sich das Publikum noch vergnügt. 01.30 Das Licht geht an. Schmutzig, zerknüllt und zerrissen liegt das Papier auf dem Boden. Auf einen Schlag ist die Unwirklichkeit, die vom Schwarzlicht ausging, verflogen. Die Menschen scheinen den Kopf zu schütteln und den merkwürdigen Moment abzustreifen, bevor sie sich sammeln um den Raum zu verlassen, der in den letzten Stunden zu einer Insel des Irrationalen geworden ist.
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Interview mit Marc Westermann und Jörg Rost
Schau ins Blau: Sie haben in den letzten Stunden ein paar Tausend Blätter Papier zerknüllt — Wie fühlen Sie sich?
Marc Westermann: Müde!
Schau ins Blau: Man plant so eine Performance ja im Voraus, sitzt zusammen und überlegt sich Ziel und Intention. Sind Ihre Erwartungen erfüllt worden?
Marc Westermann: Zur Hälfte sind sie wahr geworden — bis etwa 21.20 Uhr…
Jörg Rost: …bis dahin war es relativ meditativ, wir haben geknüllt, die Berge sind gewachsen, bis dann die ?kleine Revolution” im Rathaussaal stattfand.
Schau ins Blau: Ja, Herr Rost, Sie sind regelrecht von den Zuschauern begraben worden, wie haben Sie sich dabei gefühlt?
Jörg Rost: Mit ein wenig Abstand betrachtet finde ich es natürlich schön, dass die Leute auch mitmachen, durch unser Werk laufen und sich mit dem Papier bewerfen. Vielleicht habe ich sie auch ein wenig provoziert, aber in dem Augenblick fühlt man sich tatsächlich bedrängt. Ich bin das ja auch nicht gewohnt, aber ich glaube, dass man in dem Moment auch damit klarkommen muss, wie der Mensch auf die Performance oder auf mich reagiert. Und diese Leute wollten einfach wieder Kinder werden, das hat man auch gemerkt.
Schau ins Blau: Sie haben den Raum in Schwarzlicht getaucht. Inwiefern hat das zur Veränderung der Atmosphäre beigetragen?
Jörg Rost: Ich arbeite als Lichtdesigner und Lichtkünstler fast ausschließlich mit Licht. Und die Idee war, mal etwas völlig Anderes zu machen als das, was man sonst so an Fassaden sieht. Außerdem ermöglicht das Schwarzlicht den Wechsel der Atmosphäre im Verlauf des Abends.
Marc Westermann: Das Schwarzlicht hat für mich auch etwas von Zauberei. Es entsteht ein Bild in einer eigenen Realität und wenn man das normale Saallicht wieder anschaltet, dann ist es weg. Prozessuale Kunstwerke sind ja nie wiederholbar. Es ist deren Sinn und Zweck, sich jeglicher Reproduktion zu versperren. Beim nächsten Mal wird alles ganz anders sein. Viele Leute haben mich gefragt, ob sie ein unzerknülltes Blatt haben könnten, als Souvenir. Sie wollten den Eindruck richtig festhalten und mit nach Hause nehmen, also eigentlich ein ?Werk” mit zeitlichem Bestand besitzen, anstatt einen Prozess wahrzunehmen. Unser Vorgehen konterkariert dieses Verlangen, sich ein Totem mit nach Hause zu nehmen, denn nur dann, wenn man wirklich ?da”, also vor Ort ist, ist die Kunst auch da. Aufgrund des Effekts der fluoreszierenden Farbe hält man zuhause lediglich ein weißes Blatt Papier in den Händen. Auch die Blitzlichtfotos sind wahrscheinlich nichts geworden.
Schau ins Blau: Sie haben eine ?Windrose” auf die Blätter gedruckt.
Marc Westermann: Die Windrose war umgeändert. Indem wir sie zwölf statt sechzehnteilig entwarfen, spielten wir — qua Assoziation Zifferblatt - auf die vergehende Zeit an, als Gefüge, in dessen Rahmen sich der Schaffensprozess gestaltet. So steht unsere Windrose symbolisch für das ganze Potenzial des menschlichen Schaffens in Zeit und Raum als Basis jeglicher Handlungsmöglichkeit.
Schau ins Blau: Neben mir saß eine Dame, die ein glattes Blatt Papier in die Hand bekam und meinte: ?Das muss man jetzt zerknüllen, ja? Ich bin doch so unkreativ.”
Marc Westermann: Genau diese Haltung haben wir hoffentlich im Laufe des Abends gebrochen. Heutzutage ist der Künstler zu einer Art Prophet der Moderne geworden, der über ein exklusives Wissen verfügen soll. Ich erlebe immer öfter Leute, die aus der Ausstellung kommen und sagen: ?wahrscheinlich gut, aber…” und dann folgt ein Schulterzucken. Diesen Bonus gibt der verunsicherte Betrachter der Kunst immer, wenn sie auf einem Sockel steht. Noch vor wenigen Jahrzehnten galt der Künstler als halbkriminelles Sandkorn im Getriebe der Gesellschaft, heute ist er in ihrer Mitte angekommen. Dieser Prozess hat das Verhalten des Betrachters auf den Kopf gestellt. Von extrem konservativer Reizbarkeit damals hin zu einer Haltung, die tolerant, liberal oder offen wirkt, allerdings häufig aus unkritischer Ehrfurcht gegenüber der Kunst geboren ist. Früher hieß es noch: ?Das soll Kunst sein?”, dann wurde der Konsens ?Kunst liegt im Auge des Betrachters” gefunden und ist bis heute populär. Doch das stark zunehmende: ?Ich verstehe es zwar nicht, aber es wird schon Kunst sein.” ist mir neu. Wir haben vorher darüber gesprochen, ob wir die Performance vom Zuschauer abtrennen wollen oder nicht, ob wir uns also im Rahmen einer Bühnensituation auf den ?Kunstsockel” stellen wollen. Wir wollten es nicht und so ist auch hinterher diese ganz eigene Festivalatmosphäre entstanden.
Schau ins Blau: Euer Straßenkehrer ist regelrecht angegriffen worden. Er, als Vertreter einer Ordnung schaffenden Kraft, konnte seiner Arbeit zunächst noch unbehelligt nachgehen, während später am Abend das Papier nur so auf ihn flog.
Marc Westermann (wirkt erfreut): Für mich war das heute eine Lehrstunde in Psychologie. Die Leute wurden zunehmend infantil und haben instinktiv darauf reagiert, dass ihnen das Spielzeug wieder genommen wurde. Das Vorhaben, die Masse mit Autorität zu bändigen, schlug fehl. Ich habe es dann mit Einbindung versucht. Ich habe jene, die mich angriffen, auf meinen Platz gesetzt und es war interessant zu beobachten, dass sie sofort und widerstandslos meine Arbeit übernommen haben. Auch auf die Gesellschaft bezogen war das insofern ein aufschlussreiches Bild. Wie lässt sich die Masse bändigen? Und wie geht man am besten mit der aggressiven Energie um?
Jörg Rost: Für mich war es ein Spaß. Es war in gewisser Weise auch ein Ventil, vor allem, als ich die Masse laut zur Ordnung rief. Ich denke, es ist auch so verstanden worden.
Schau ins Blau: Viele haben ja bewusst den Kontakt gesucht.
Jörg Rost: Ja, die Zuschauer wollten wissen, was es zu bedeuten hat, was wir da tun. Wir machen oft Straßenprojekte, bei denen wir uns bemühen, viele Leute einzubinden. Sehr schnell entsteht dabei ein Verantwortungsgefühl bei den Mitwirkenden. Das heute war eher etwas Extrovertiertes. Doch die Frage der Reaktion ist für uns sehr wichtig. Beim Kindertheater klettern gelegentlich Kinder auf die Bühne. Soll man die als Veranstalter dann vom Ordnungspersonal wieder entfernen lassen oder soll derjenige, der auf der Bühne steht, mit der Situation umgehen? Ich bin eher für die zweite Variante. Ich denke, es sollte auch eine der Aufgaben des Künstlers sein, mit den Reaktionen umzugehen. Egal in welcher Form sie auftreten.
Schau ins Blau: Die Reaktionen waren heute sehr schwer einzuschätzen.
Jörg Rost: Da waren hundertprozentig Leute dabei, die haben sich zum letzten Mal im Kindergarten so gehen gelassen haben. Wir sind froh, dass sich dabei niemand verletzt hat, denn einige haben sich regelrecht in den Papierhaufen gestürzt.
Schau ins Blau: Sozusagen eine Rückführung in eine kindliche Erlebniswelt.
Jörg Rost: Ja, und das ist auch gut so. Wenn man sich umsieht, merkt man, wie ernst die Menschen geworden sind. Ich würde mir wünschen, dass sich mehr Menschen auf eine kindlichere Ebene einlassen könnten. Es muss nicht immer alles strikt durchgeplant werden. In den heutigen Events ist überhaupt kein Spielraum mehr. Man überlässt nichts mehr dem Zufall, doch das ist ein Fehler. Man muss den Dingen Raum geben, sich zu entwickeln. Nur so entsteht Neues.
Marc Westermann: Das war eben keine Galerievorführung. Normalerweise ist man vorsichtig, wenn man einen Kunstraum betritt. Erst Mal hinsetzen und im Programm blättern und sich eher kontemplativ mit dem Bedeutungsgehalt beschäftigen. Vorsicht ist die kulturell vermittelte Grundhaltung im musealen Raum. So war es bei uns am Anfang ja auch. Jeder neue Besucher, der durch den Eingang trat, konnte sich vergewissern, dass die Anderen sich gemäß der Benimmregel verhielten. Später allerdings, nachdem das Chaos ausgebrochen war, sahen die neu hinzukommenden Zuschauer schreiende, ins Papierbad springende Menschen und kopierten dieses Verhalten. Wahrscheinlich, weil sie davon ausgingen, dass eine Art Schaumbad-Happening geplant war. Doch der springende Punkt ist, dass die Menschen die Grundhaltung der Vorsicht selbst aufgebrochen haben. Es gab keine Anweisung von Seiten der künstlerischen Autorität: ?Jetzt bitte Ausflippen!” Das Chaos hat sich selbst weiterkopiert und multipliziert.
Jörg Rost: Das ist auch völlig legitim. Der Stadtraum ist der Raum der Bevölkerung. Das war nicht ein Kunstverein, in dem die geladenen Gäste mit einem Champagnerglas herumwandern. Das war die Zurückeroberung eines der Bevölkerung zustehenden Raumes.
Schau ins Blau: Sie wirkten überraschend ansprechbar. Man erwartet unbewusst eine steifere Haltung von einem Künstler.
Marc Westermann: Auf die Frage eines Besuchers habe ich wohl zu leise geantwortet, woraufhin dieser meinte: ?Ach, ich weiß, du darfst nicht sprechen.”. Doch! Das darf ich! Man geht als Betrachter von Performancekunst oft von einem unberührbaren Gegenüber aus. Entgegen den klassischen Gattungen wie etwa der Malerei oder der Skulptur, die ihren Kunstrahmen oder ‑sockel schon haben, muss der Performancekünstler sich ihn erst schaffen. Das ist notwendig, denn der Alltag wird als Alltag wahrgenommen. Das alltägliche Kartoffelschälen und das Kartoffelschälen im Rahmen einer Performance sind zwei identische Handlungen, mit jedoch grundverschiedenen Zielen. Man braucht also in der Tat ein Moment, das den Leuten vermittelt: ?Achtung: Kunst!”, damit sie sich dem Phänomen in einer auf Ästhetik bezogenen Haltung nähern, denn nur so können sie das Potenzial des Geschehens abschöpfen. Und das machen sehr viele Performancekünstler durch eine Haltung, die mir ehrlich gesagt auf den Magen schlägt. Meistens ist diese Haltung gezwungen künstlich, indem der Künstler nicht spricht oder starr in eine Richtung schaut.
Schau ins Blau: Wie würden Sie also den heutigen Abend verorten?
Marc Westermann: Diese Kunst hat gezeigt, was die Bevölkerung bewegt. Zu Jörg kam ein Mann, der sich über die Papierverschwendung beklagte. Er hatte recht, wir haben mit Papier einen kostbaren Rohstoff verschwendet. Dadurch entsteht in meinen Augen auch die Forderung an den Künstler, etwas zu machen, das die Leute zu Reaktionen bewegt, das sie dazu bewegt, sich Gedanken zu machen, die sie sich sonst nicht machen würden. Woraus also auch wieder Forderungen entstehen, die sich an die Gesellschaft stellen lassen. Tatsächlich wird zuviel Papier mit Nichtigkeiten bedruckt und verschwendet. Der Unterschied der von uns verschwendeten Blätter zu etwa derselben Anzahl Blätter, die als Plakat zum Beispiel die nächste Erotikmesse ankündigen ist: die von uns verschwendeten Blätter bieten die selbstreferentielle Möglichkeit, über die Verschwendung unserer Ressourcen nachzudenken. Die Erotikmessenplakate hingegen verweisen auf ein Geschäft, das unsere Gesellschaft sicherlich nicht weiterbringt. Die Provokation lag für einige darin, dass unser Papier zu keinem offensichtlichen Nutzen verwendet wurde. Plakatpapier ist dazu da, einen Event oder ähnliches anzukündigen, hat also praktischen Nutzen, auch wenn der angekündigte Event so nichtsnutzig wie sonst was ist. Unser Papier war dazu da, kaputtgemacht zu werden — für einen nicht nur nützlichen, sondern auch hoffentlich schönen Event.
Schau ins Blau: Ich danke für das Gespräch.
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Die Biographien
Marc Westermann:
Studium der Illustrationen und Drucktechniken an der Ruhrakademie und der FH Münster und der Malerei am Edinburgh College of Art, Studium der alten Meister auf den Gebieten der Zeichnung und Handhabe der Werkstoffe in Bologna. Ausstellungstätigkeit im In- und Ausland auf den Gebieten Malerei, Zeichnung und Installation. Seit 2004 Tätigkeit als Dozent an der Reichenhaller Akademie. Marc Westermann lebt und arbeitet in Essen.
www.derkunstrasen.de
Jörg Rost:
Gelernter Bäcker, Seemann und Schiffskoch. Heute künstlerischer und technischer Leiter namhafter Großveranstaltungen, wie z.B. der “Nacht der Industriekultur” im Ruhrgebiet. Internationale Präsentationen mit den Straßentheatergruppen “Titanick” und “Theater Anu”. Seit 2001 freie Kunst mit Licht. 2005 Preis des internationalen Straßentheaterfestivals in Holzminden für “Lichtspuren”, einer im Stadtpark entwickelten Parkbeleuchtung. Jörg Rost lebt und arbeitet in Schwerte.