“Europa hat das Stadium der Utopie längst verlassen”

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Interview mit Jonas Lüscher

 

von Lisa Boner

Im Juli 2018 fan­den zum ers­ten Mal die Augs­bur­ger Gesprä­che zu Lite­ra­tur und Enga­ge­ment im Rah­men des Augs­bur­ger Frie­dens­fes­tes statt. Zehn AutorIn­nen debat­tier­ten unter der Lei­tung von Prof. Ste­pha­nie Wal­dow (Uni­ver­si­tät Augs­burg), Sebas­ti­an Sei­del (Lei­ter des Sen­sem­ble Thea­ters Augs­burg) und Tho­mas von Stei­n­ae­cker (Autor) zusam­men mit Stu­die­ren­den der Uni­ver­si­tät Augs­burg. Die zen­tra­len The­men Enga­ge­ment und Uto­pie wur­den wäh­rend der gemein­sa­men zwei­ein­halb Tage aus ver­schie­de­nen Blick­win­keln betrach­tet und lei­den­schaft­lich dis­ku­tiert.
Jetzt – ein hal­bes Jahr spä­ter – spricht Schau ins Blau erneut mit einem der Teil­neh­men­den, dem Autor Jonas Lüscher. Der gebür­ti­ge Schwei­zer Schrift­stel­ler wur­de durch sei­ne viel­fach aus­ge­zeich­ne­ten Tex­te Früh­ling der Bar­ba­ren (Novel­le) und Kraft (Roman) bekannt und orga­ni­sier­te dar­über hin­aus öffent­lich­keits­wirk­sa­me Demons­tra­tio­nen unter dem Mot­to ‚In ganz Euro­pa. Für ein soli­da­ri­sches Euro­pa.‘ am 13. Okto­ber 2018. Neben den The­men Uto­pie, Enga­ge­ment und Essay soll das Inter­view auch die Bedeu­tung der Augs­bur­ger Gesprä­che, die Rol­le der Lite­ra­tur sowie die Auf­ga­ben des Schrei­ben­den thematisieren.


Schau ins Blau: Lie­ber Herr Lüscher, das Mot­to der dies­jäh­ri­gen Augs­bur­ger Gesprä­che war das The­ma Uto­pie. Der Nicht-Ort respek­ti­ve das Nir­gend­wo kann als Nega­ti­on der Gegen­wart gedacht wer­den und bereits der Name die­ser Text­gat­tung illus­triert, dass eine bes­se­re Ver­si­on der Rea­li­tät nicht exis­tent und schwer zu errei­chen ist. [1] Noch im 18. Jahr­hun­dert wur­den Uto­pien „von den Zeit­ge­nos­sen [sogar] als Fik­tio­nen ohne Rea­li­sie­rungs­an­sprü­che betrach­tet.“ [2] Im Gegen­satz hier­zu begreift Ernst Bloch die Uto­pie zwar als eine Anknüp­fung an das Wirk­li­che und sei­ne Ver­bes­se­rung (Nega­ti­on der Wirk­lich­keit), aber für den Phi­lo­so­phen ist die Uto­pie eine Mög­lich­keit, die „schon in der Wirk­lich­keit ihren genau zu bestim­men­den Ort hat.“ [3] Das heißt, für Ernst Bloch sind Uto­pien mehr als all­ge­mei­ne, zukünf­ti­ge Mög­lich­kei­ten. [4] In sei­ner Kon­zep­ti­on rückt das Uto­pi­sche näher an die Gegen­wart her­an und wird so eine Ori­en­tie­rung für gegen­wär­ti­ges Den­ken und Han­deln. [5]
Ver­gleicht man bei­de Ansät­ze – der schwer respek­ti­ve nicht zu errei­chen­de Ort ver­sus Uto­pie als exis­ten­te, gegen­wär­ti­ge Mög­lich­keit – so stellt sich die Fra­ge, wel­ches der bei­den Uto­pie-Kon­zep­te für die Gegen­wart frucht­ba­rer ist. Soll­te die Uto­pie gemäß vie­ler DDR-AutorIn­nen wie­der zum Nicht-Ort wer­den und in Ver­ges­sen­heit gera­ten? Oder bedarf es gera­de jetzt einer uto­pi­schen Ziel­be­stim­mung im Sin­ne Blochs?

Jonas Lüscher: Uto­pien haben tat­säch­lich gegen­wär­tig einen schlech­ten Leu­mund. Das liegt natür­lich am kra­chen­den Schei­tern, bzw. am unsäg­li­chen Leid, dass die bei­den Großu­to­pien des letz­ten Jahr­hun­derts – der faschis­ti­sche Traum eines tau­send­jäh­ri­gen Rei­ches und der kom­mu­nis­ti­sche Traum eines neu­en Men­schen – über die Welt gebracht haben. Und wenn Sie die DDR-AutorIn­nen erwäh­nen, so erin­nert mich das an eine Tagung auf dem Mon­te Veri­tà zum The­ma Uto­pie, an der ich vor ein paar Jah­ren teil­ge­nom­men habe. Den Kol­le­gIn­nen mit Ost­bio­gra­phien brauch­te man mit Uto­pien nicht kom­men. Her­ta Mül­ler war der Mei­nung, der Begriff habe sich ins­ge­samt erle­digt. Sie sprach, wenn ich mich rich­tig ent­sin­ne, von einer Krank­heit. Péter Nádas reagier­te ganz ähn­lich und Durs Grün­bein gab zumin­dest zu, dass alle – und er schloss sich mit ein – an denen die Uto­pie des neu­en Men­schen zwangs­ver­wirk­licht wor­den sei, ein neu­ro­ti­sches Ver­hält­nis zur Uto­pie hät­ten. Das neu­ro­ti­sche Ver­hält­nis ist aber eben immer ein pro­ble­ma­ti­sches. Und wohin es führt, kön­nen wir gut an unse­rer Bun­des­kanz­le­rin sehen, die seit vier­zehn Jah­ren ganz ohne Vor­stel­lung einer wün­schens­wer­ten Zukunft, mit einer offen­sicht­lich beträcht­li­chen Furcht vor der Gestal­tungs­kraft der Poli­tik, das Land ver­wal­tet. Zukunft wird dabei aber kei­ne geschaf­fen. Und da sehen Sie, bin ich eben bei Bloch, der ja der Mei­nung war, Zukunft gesche­he nicht von selbst.

Schau ins Blau: Neh­men wir an, wir ver­tre­ten die Mei­nung Uto­pien sei­en auch in unse­rer Zeit zweck­dien­lich und nötig. Neh­men wir an, der wäh­rend der Augs­bur­ger Gesprä­che for­mu­lier­te Satz ›Uto­pien bezie­hungs­wei­se Träu­me von ges­tern sind heu­te Rea­li­tät‹ trä­fe zu. In wel­cher Situa­ti­on befin­det sich dann Ihrer Mei­nung nach Europa?

Jonas Lüscher: Tat­säch­lich in einer der Uto­pie­lo­sig­keit. Es gibt gegen­wär­tig kei­ne Erzäh­lung dar­über, dass die Lebens­um­stän­de für die Men­schen bes­ser wer­den. Wer aber kei­ne Hoff­nung auf eine bes­se­re Zukunft hat, gibt sich leicht den Träu­men einer schein­bar glor­rei­chen Ver­gan­gen­heit hin. Das ist der Grund, wes­halb, nicht nur in Euro­pa, die Rechts­po­pu­lis­ten sol­chen Zulauf zu ver­zeich­nen haben. Natür­lich ist die­se Erzäh­lung einer bes­se­ren Ver­gan­gen­heit in fast jeder Hin­sicht eine Lüge, aber zumin­dest eines stimmt eben doch – frü­her gab es noch die Hoff­nung auf eine bes­se­re Zukunft. Wenn es uns nicht gelingt, wie­der eine glaub­wür­di­ge Erzäh­lung über die Mög­lich­keit einer bes­se­ren Zukunft zu fin­den, dann haben die Ewig­gest­ri­gen die bes­se­ren Kar­ten. Es ist aber zur­zeit aus­ge­spro­chen schwer, eine sol­che Geschich­te zu erzäh­len. Das liegt nicht zuletzt am Kli­ma­wan­del, der den Hori­zont mög­li­cher Zukünf­te doch sehr verengt.

Schau ins Blau: In dem Zei­tungs­ar­ti­kel Wir ver­ges­sen, was Euro­pa erreicht hat [6] bekla­gen Sie, dass Poli­ti­ker ger­ne von Euro­pa als Idee, als eine Art Gedan­ken­spiel spre­chen – ohne zu berück­sich­ti­gen, dass Euro­pa eine bestehen­de, tag­täg­lich geleb­te Rea­li­tät ist. Dem­nach könn­te Euro­pa als Traum von ges­tern bezeich­net wer­den, der jetzt eine his­to­ri­sche, öko­no­mi­sche, poli­ti­sche und kul­tu­rel­le Tat­sa­che wäre. [7] Aller­dings for­mu­lie­ren Sie in einem Inter­view der taz gegen­über auch die Sor­ge, dass Euro­pa viel­leicht „immer noch zu abs­trakt [ist], um dafür auf die Stra­ße zu gehen.“ [8] Befin­det sich Euro­pa folg­lich irgend­wo zwi­schen Uto­pie und Alltag?

Jonas Lüscher:  Nein, ich glau­be, Euro­pa hat das Sta­di­um der Uto­pie längst ver­las­sen und ist eben tat­säch­lich All­tag gewor­den. Das bedeu­tet aber nicht, dass Euro­pa fer­tig wäre. Es hat, als Enti­tät der Geschich­te, einen pro­zes­sua­len Cha­rak­ter. Als Pro­zess steht es, aus his­to­ri­scher Per­spek­ti­ve, noch ziem­lich am Anfang. Das Pro­zess­haf­te hat auch immer etwas Fra­gi­les und ver­langt nach Enga­ge­ment und Ener­gie. Und es gibt kei­ne Garan­tie, dass Pro­zes­se nicht auch mal rück­wärts ver­lau­fen. Das bedeu­tet, dass die sozia­len Errun­gen­schaf­ten – und in sol­chen kon­kre­ti­sie­ren sich in der Regel poli­ti­sche Uto­pien – nicht auch wie­der ver­lo­ren gehen kön­nen, wenn wir nicht genug Sor­ge dazu tragen.

Schau ins Blau: Zuletzt soll uns die Rela­ti­on von Uto­pie und Lite­ra­tur beschäf­ti­gen. In ihren Frank­fur­ter Vor­le­sun­gen beschreibt Inge­borg Bach­mann Lite­ra­tur bei­spiels­wei­se als Uto­pie: „So ist die Lite­ra­tur, obwohl und sogar weil sie immer ein Sam­mel­su­ri­um von Ver­gan­ge­nem und Vor­ge­fun­de­nem ist, immer das Erhoff­te, das Erwünsch­te, das wir aus­stat­ten aus dem Vor­rat nach unse­rem Ver­lan­gen – so ist sie ein nach vorn geöff­ne­tes Reich von unbe­kann­ten Gren­zen.“ [9] Lite­ra­tur impli­ziert für Bach­mann dem­nach Vor­ge­fun­de­nes (Rea­li­tät) und spinnt die­ses im Sin­ne des Hof­fens und Wün­schens wei­ter. Für Ernst Bloch könn­ten lite­ra­ri­sche, uto­pi­sche Tex­te somit als Ziel gegen­wär­ti­gen Den­kens und Han­delns fun­gie­ren. Ist (folgt man die­sem Gedan­ken­gang) Lite­ra­tur zuge­spitzt for­mu­liert dann immer Uto­pie bzw. in wel­cher Rela­ti­on ste­hen für Sie Lite­ra­tur und Utopie?

Jonas Lüscher: Da ich mit Richard Ror­ty bereit bin, Men­schen als mit­tel­punkt­lo­se Geflech­te aus Über­zeu­gun­gen und Wün­schen zu beschrei­ben und Lite­ra­tur meis­tens vom Men­schen han­delt, geht es tat­säch­lich, wie Bach­mann meint, in der Lite­ra­tur meis­tens in irgend­ei­ner Form um Wün­sche. Das ist dann aber so auch eher eine tri­via­le Fest­stel­lung und es lohnt sich die­ses Wün­schen genau­er anzu­schau­en, denn es tritt in unter­schied­li­chen For­men in Erschei­nung. Gera­de in der Lite­ra­tur geht es ja oft um das, was Bloch etwas ver­ächt­lich als „klei­nen Tag­traum“ oder sogar als „Tag­traum des klei­nen Man­nes“ bezeich­net hat. Also um ganz idio­syn­kra­ti­sche Träu­me von Selbst­ver­wirk­li­chung und Selbst­er­schaf­fung. Um pri­va­te Wün­sche, die manch­mal tat­säch­lich etwas lächer­lich und bie­der daher­kom­men und manch­mal aber auch einen mar­kan­ten künst­le­ri­schen Aus­druck fin­den. Ich fin­de es wenig hilf­reich, wenn wir in die­sen Fäl­len bereits von Uto­pien spre­chen, denn es fehlt dann doch die gesell­schaft­li­che Dimen­si­on. Mit die­ser tut sich die Lite­ra­tur wie­der­um schwer, weil sie nach einer Anschluss­fä­hig­keit ver­langt, die sich schlecht mit Mehr­deu­tig­keit und Ambi­va­len­zen ver­trägt. Oder anders gesagt: Die poli­ti­sche Uto­pie ver­langt nach einer Klar­heit und Ein­deu­tig­keit, die der Lite­ra­tur eher abträg­lich ist. Des­halb sind Roma­ne, die sich dezi­diert an der For­mu­lie­rung einer Uto­pie ver­su­chen, aus lite­ra­ri­scher Per­spek­ti­ve meis­tens ent­täu­schend. Lite­ra­tur kann aber bestehen­de Zustän­de als defi­zi­tär beschrei­ben, sie kann davon berich­ten, wie und wo Grau­sam­keit und Demü­ti­gung geschieht und sie kann im Leser den Wunsch nach Ver­än­de­rung aus­lö­sen. Poli­ti­sche Lite­ra­tur ist in die­sem Sinn viel­leicht eher Brenn­stoff für kon­kre­te Utopien.

Schau ins Blau: Geht man einen Schritt wei­ter und betrach­tet die The­se Peter J. Bren­ners, uto­pi­sches Den­ken beträ­fe „per se die Dimen­si­on poli­ti­schen Han­delns“ [10], ist dann Lite­ra­tur respek­ti­ve uto­pi­sche Lite­ra­tur immer engagiert?

Jonas Lüscher: Wer lite­ra­risch von einer ganz kon­kre­ten Uto­pie erzählt, tut das ver­mut­lich schon in der Absicht, er möge damit ande­re zum Han­deln ani­mie­ren. Wobei es ja gegen­wär­tig kaum uto­pi­sche Lite­ra­tur gibt, dafür jede Men­ge dys­to­pi­sche. Die will aber im Grun­de ähn­li­ches und kommt meist als War­nung daher – wenn ihr jetzt nicht ins Han­deln kommt, wird dies oder jenes furcht­ba­re gesche­hen! Aber ob man die­ses Mah­nen schon als Enga­ge­ment bezeich­nen soll?

Schau ins Blau: Die zuvor pro­vo­ka­tiv gestell­te The­se ‚Lite­ra­tur sei not­wen­dig enga­giert‘ wür­de viel­leicht der Mei­nung Sar­tres ent­spre­chen, wonach enga­gier­te Lite­ra­tur alles abbil­de und für alles offen sein müs­se. Allein durch die Wahl der Wör­ter, die „als trans­pa­ren­te Zei­chen zur Benen­nung der sozia­len Rea­li­tät die­nen,“ [11] bezie­he der/die Schrei­ben­de, Sart­re zufol­ge, die zwin­gen­de, enga­gier­te Stel­lung. Im Gegen­satz zur Sar­tre­schen ‚Offen­heit‘ als hin­rei­chen­des Merk­mal des Enga­ge­ments bemerkt der deut­sche Phi­lo­soph Paul Lud­wig Lands­berg, dass „die Hal­tung des Enga­ge­ments eine Ent­schei­dung in his­to­ri­schen Situa­tio­nen verlang[e] und jedes Enga­ge­ment ambi­va­lent sei.“ [12] Lands­berg fol­gend wäre Lite­ra­tur, die den Schmutz des Tages sowie die Viel­falt der Welt abbil­det und Fra­gen auf­wirft, kurz, die unein­deu­tig und ambi­va­lent ist, damit nicht als enga­giert zu bezeich­nen. [13] Lite­ra­tur wäre im Sin­ne des deut­schen Phi­lo­so­phen nur dann enga­giert, wenn sie kon­kret und ein­deu­tig Stel­lung zu his­to­ri­schen Situa­tio­nen bezieht. Unter Berück­sich­ti­gung die­ser bei­den unter­schied­li­chen Per­spek­ti­ven auf enga­gier­te Lite­ra­tur – in wel­ches Ver­hält­nis wür­den Sie die bei­den Berei­che Lite­ra­tur und Enga­ge­ment setzen?

Jonas Lüscher: Es scheint mir, als beschrei­be Sart­re nichts ande­res als die Grund­be­din­gun­gen um über­haupt Lite­ra­tur zu pro­du­zie­ren. Natür­lich muss der Schrift­stel­ler offen sein, gegen außen und gegen innen. Dass das aber mit Enga­ge­ment noch wenig zu tun hat, war auch Sart­re klar. Er war ja der­je­ni­ge, der auf die Stra­ße ging und Reden hielt, der poli­ti­sche Essays schrieb und Stel­lung bezog. Es scheint mir aber auch einen grund­sätz­li­chen Unter­schied zwi­schen enga­gier­ter Lite­ra­tur und dem enga­gier­ten Schrift­stel­ler zu geben. Man kann natür­lich lite­ra­ri­sche Tex­te zu gesell­schafts­po­li­ti­schen The­men schrei­ben – so wie ich das ja zum Bei­spiel tue – und die­sen kann man dann, wenn man möch­te, das Label enga­gier­te Lite­ra­tur anhef­ten. Aber der Schritt zum wirk­lich enga­gier­ten, also akti­vis­tisch han­deln­den Autor, ist dann noch mal ein ziem­lich gro­ßer. Und die­ser Schritt kol­li­diert auch mit der lite­ra­ri­schen Arbeit. Zum einen schlicht zeit­lich. Der Akti­vis­mus bin­det Kräf­te und Zeit, die einem vom Schrei­ben abge­hen. Zum ande­ren kol­li­diert aber auch die Ein­deu­tig­keit, mit der man sich im poli­ti­schen Raum äußern muss, mit der Viel­deu­tig­keit und Offen­heit, die die Lite­ra­tur ver­langt. Man tut also gut dar­an, das Schrei­ben von „enga­gier­ter“ Lite­ra­tur und das poli­ti­sche Enga­ge­ment so weit wie mög­lich zu trennen.

Schau ins Blau: Wenn Lite­ra­tur auf­grund ihrer Ambi­va­lenz, Iro­nie, Zwie­späl­tig- und Viel­fäl­tig­keit oft­mals nicht als enga­giert im Sin­ne Lands­bergs bezeich­net wer­den kann, inwie­fern bie­tet dann der Essay einen Ausweg?

Jonas Lüscher: Der Essay ist viel­leicht eine Kom­pro­miss­lö­sung. Und das mei­ne ich gar nicht nega­tiv. Er ver­langt nicht nach der bru­ta­len Ver­ständ­lich­keit und Ein­deu­tig­keit eines Flug­blat­tes, ich kann mich beim Schrei­ben eines Essays durch­aus auch lite­ra­ri­scher Mit­tel bedie­nen und eine sti­lis­ti­sche Ele­ganz pfle­gen, gleich­zei­tig ver­su­che ich aber im Essay zu argu­men­tie­ren, einen Punkt zu machen; etwas, dass mich im lite­ra­ri­schen Schrei­ben gar nicht interessiert.

Schau ins Blau: Lite­ra­tur als enga­giert respek­ti­ve nicht-enga­giert zu klas­si­fi­zie­ren erscheint pro­ble­ma­tisch – die Pro­ble­me des ‚Labelns‘ wur­den auch wäh­rend der Augs­bur­ger Gesprä­che immer wie­der the­ma­ti­siert. Wäre viel­leicht eine Fokus­ver­schie­bung för­der­lich? Das heißt, soll­ten wir viel­leicht weni­ger dis­ku­tie­ren was Lite­ra­tur ist (enga­giert; nicht enga­giert; etc.) und viel­mehr berück­sich­tig­ten wel­ches Enga­ge­ment aus Lite­ra­tur resul­tiert?
Ich den­ke hier zum einen an die Rol­le des/der Schrei­ben­den und ande­rer­seits an das Lese­pu­bli­kum. Sie selbst beto­nen immer wie­der, dass Sie dank ihres Erfolgs als Autor in Form von Essays, Lesun­gen und Vor­trä­gen zu bestimm­ten The­men poli­tisch Stel­lung bezie­hen kön­nen. [14] Glau­ben Sie, dass dem­ge­gen­über auch das Lesen eine Form des Enga­ge­ments ent­hält? Wenn es die Auf­ga­be der Lite­ra­tur ist, aller­lei Fra­gen zu stel­len ohne Lösun­gen zu prä­sen­tie­ren und eine bun­te Viel­falt von Welt abzu­bil­den, ist es dann nicht der/ die Lesen­de, der ange­regt durch den lite­ra­ri­schen Text Ant­wor­ten sucht und sich bewusst posi­tio­niert? Wür­den Sie die­se Auf­fas­sung tei­len und den Refle­xi­ons­pro­zess des Publi­kums als im wei­tes­ten Sin­ne enga­giert begreifen?

Jonas Lüscher: Das wäre zumin­dest mei­ne Hoff­nung und es ent­spricht auch mei­nem bio­gra­phi­schen Erle­ben. Es war zwar kein Roman, aber doch eine Nar­ra­ti­on, näm­lich ein Film, der mich als Kind poli­ti­siert hat. Ich habe mit drei­zehn im Kino Cry Free­dom gese­hen, Richard Atten­bo­roughs Film über Ste­ve Bikos Kampf gegen das süd­afri­ka­ni­sche Apart­heids­re­gime. Ich kam erschüt­tert, aber eben auch ganz agi­tiert aus dem Kino. Von da an habe ich Zei­tung gele­sen und alle Bücher zum The­ma Apart­heid denen ich hab­haft wer­den konn­te. Ich habe dem Direk­tor der Migros einen Brief geschrie­ben, dass er doch bit­te süd­afri­ka­ni­sche Pro­duk­te aus dem Sor­ti­ment neh­men sol­le und ich fing an auf Demons­tra­tio­nen zu gehen.

Schau ins Blau: Lie­ber Jonas Lüscher, im Namen von Schau ins Blau darf ich mich an die­ser Stel­le ganz herz­lich für Ihre Zeit und das Inter­view bedan­ken. Vie­len Dank für Ihre aus­führ­li­chen Ant­wor­ten und Denk­an­stö­ße. Zuletzt bleibt mir nur noch zu fra­gen: Wie kön­nen wir ein Zei­chen für die Euro­pa­wahl im kom­men­den Mai set­zen, um statt der Dys­to­pie unse­re Uto­pie weiterzuleben?

Jonas Lüscher: Gehen Sie an die Urne und ver­hin­dern Sie mit Ihrer Stim­me, dass die Fein­de Euro­pas im Par­la­ment Ein­zug hal­ten. Das ist das Mini­mum. Und wenn Sie mehr tun wol­len, dann sor­gen Sie dafür, dass mög­lichst vie­le Men­schen zur Wahl gehen.

Inter­view: Lisa Boner


[1] Vgl. Bren­ner, Peter J. (1982): Aspek­te und Pro­ble­me der neue­ren Uto­pie­dis­kus­si­on in der Phi­lo­so­phie. In: Voß­kamp, Wil­helm (Hrg.): Uto­pie­for­schung: Inter­dis­zi­pli­nä­re Stu­di­en zur neu­zeit­li­chen Uto­pie. Ers­ter Band. Stutt­gart: Metz­ler. S. 11–63.
Vgl. Brock­haus Enzy­klo­pä­die Online (2018): Uto­pie. Mün­chen: NE GmbH | Brock­haus. Zuletzt geprüft am 12.11.2018. <https://www.brockhaus.de/ecs/permalink/B452E875E32A595F654BB5A80E10170F.pdf>.

[2] Seibt, Feaus.de/ecs/permalink/B452E875E32A595F654BB5A80E10170F.pdfrdinand (1982): Uto­pie als Funk­ti­on abend­län­di­schen Den­kens. In: Voß­kamp, Wil­helm (Hrg.): Uto­pie­for­schung: Inter­dis­zi­pli­nä­re Stu­di­en zur neu­zeit­li­chen Uto­pie. Ers­ter Band. Stutt­gart: Metz­ler. S. 254–279. S. 261.

[3] Bren­ner (1982): S. 13.

[4] Vgl. Ebd. S. 13–14.

[5] Vgl. Ebd. S. 12.

[6] Lüscher, Jonas; Zichy, Micha­el: Wir ver­ges­sen, was Euro­pa erreicht hat. In: bz Basel vom 13. Okto­ber 2018. Online. Zuletzt geprüft am 29.12.2018. <https://www.bzbasel.ch/kommentare-bz/wir-vergessen-was-europa-erreicht-hat-133576555>.

[7] Vgl. Ebd.

[8] Wey­ros­ta, Jonas: Demo-Initia­tor über ein fried­li­ches Euro­pa: „Es ist viel­leicht zu selbst­ver­ständ­lich“. In: taz.de vom 16. Okto­ber 2018. Online. Zuletzt geprüft am 29.12.2018. <http://www.taz.de/!5540688/>.

[9] Bach­mann, Inge­borg (1978): Lite­ra­tur als Uto­pie. In: Wei­den­baum, Inge von; Müns­ter, Cle­mens; Koschel, Chris­ti­ne (Hrg.): Inge­borg Bach­mann Wer­ke: Essays, Reden, Ver­misch­te Schrif­ten, Inge­borg Bach­mann in Ton- und Bild­auf­zeich­nun­gen. Mün­chen, Zürich: R. Piper und Co. Ver­lag. S. 255–271. S. 258.

[10] Bren­ner (1982): S. 34. Her­vor­he­bun­gen durch Brenner.

[11] Ung­laub, Erich (2002): Avant­gar­de und Enga­ge­mant. Zur Mili­tanz in der Begriffs­bil­dung der lite­ra­ri­schen Moder­ne. In: Neu­haus, Ste­fan; Selb­mann, Rolf; Unger, Thors­ten (Hrg.): Enga­gier­te Lite­ra­tur zwi­schen den Welt­krie­gen. Würz­burg: Königs­hau­sen und Neu­mann. S. 21–41. S. 33.

[12] Ebd. S. 29.

[13] Vgl. Ort­mann, Joa­na: Die kul­tur­Welt | BR Pod­cast. Baye­ri­scher Rund­funk: Online. Zuletzt geprüft am 29.12.2018. <https://www.br.de/mediathek/podcast/kulturwelt/die-kulturwelt-vom-23-juli/1044142>.
Vgl. Mül­ler, Moni­ca: Jonas Lüscher mobi­li­siert gegen den Natio­na­lis­mus. In: Migros-Maga­zin vom 05. Okto­ber 2018. Online. Zuletzt geprüft am 29.12.2018. <https://www.migrosmagazin.ch/8612122>.

[14] Vgl. Ort­mann, Joa­na: Die kul­tur­Welt | BR Pod­cast. Baye­ri­scher Rund­funk: Online. Zuletzt geprüft am 29.12.2018. <https://www.br.de/mediathek/podcast/kulturwelt/die-kulturwelt-vom-23-juli/1044142>.

Jonas Lüscher ist 1976 in der Schweiz gebo­ren und lebt und arbei­tet seit 2001 in Mün­chen. Neben sei­ner Aus­bil­dung zum Leh­rer, dem Stu­di­um der Phi­lo­so­phie und sei­ner Tätig­keit als frei­er Lek­tor arbei­te­te er unter ande­rem in Zürich und Stan­ford an sei­ner Dis­ser­ta­ti­on zur Bedeu­tung von Nar­ra­tio­nen für die Beschrei­bung sozia­ler Kom­ple­xi­tät vor dem Hin­ter­grund von Richard Ror­tys Neo-Prag­ma­tis­mus.
Sein ers­ter Roman Früh­ling der Bar­ba­ren wur­de unter ande­ren mit dem Franz-Hes­sel-Preis, dem Ber­ner Lite­ra­tur­preis und dem Baye­ri­schen Kunst­för­der­preis aus­ge­zeich­net. Für sei­nen 2018 erschie­nen Roman Kraft erhielt er den Schwei­zer Buchpreis.