Ist Lyrik (heute noch) Kult?

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von Johan­na Mayr

Die Les­bar­keit von Gedich­ten heu­te am Bei­spiel von Moni­ka Rinck. Tex­te der Lyri­ke­rin unter der Lupe: Wie funk­tio­nie­ren ihre Gedich­te, wie ihre Rezep­ti­on? Außer­dem sind Quit­ten in die­sem Kon­text von Relevanz.

Wann haben Sie zuletzt ein Gedicht gele­sen? Kön­nen Sie eines aus­wen­dig auf­sa­gen? Die Fra­ge nach dem Lieb­lings­ro­man ist für vie­le leich­ter zu beant­wor­ten, als die nach einem Lieb­lings­ge­dicht. Die Gren­zen der Gat­tung Lyrik sind schwer zu defi­nie­ren, die Tex­te meist her­me­tisch und dann ist da noch die ewi­ge Suche nach dem Sinn. Lyrik ist anstren­gend, und des­we­gen nichts für jeden. Hat die tra­di­tio­nel­le Lyrik noch vie­le Anhän­ger, geht die Gegen­warts­ly­rik eher unge­hört unter. Wer kennt schon zeit­ge­nös­si­sche Dich­ter? Eine davon ist zum Bei­spiel Moni­ka Rinck. Auf ihre Gedich­te und den beson­de­ren Stil soll hier näher ein­ge­gan­gen werden.

Bevor man die­se Fra­ge klä­ren kann, soll­te man zuerst den Begriff „Kult“ näher beleuch­ten. Das Wör­ter­buch erklärt zu Kult, es sei eine ent­we­der „a) über­trie­be­ne Ver­eh­rung für eine bestimm­te Per­son, oder b) über­trie­be­ne Sorg­falt für einen Gegen­stand“ (Kraif, Ursu­la, 2007. S. 578.). Die bestimm­te Ver­eh­rung für eine Per­son (ali­as der Dich­ter) muss nicht unbe­dingt ein­her­ge­hen mit der über­trie­be­nen Sorg­falt für einen Gegen­stand, in die­sem Fall das Pro­dukt, das Gedicht.

Aller­dings stellt sich hier die Fra­ge, von wem die Sorg­falt aus­geht – vom Pro­du­zen­ten oder vom Rezi­pi­en­ten: Vom Dich­ter, der mit beson­de­rer Auf­merk­sam­keit Wör­ter schleift, Zusam­men­hän­ge andeu­tet, ver­schlüs­selt, zitiert und mon­tiert, häu­fig schein­bar ohne Rück­sicht dar­auf, ob der Leser dahin­ter einen Sinn ent­de­cken kann. Die­ser brü­tet dann oft mit über dem Kopf über den Ver­sen oder wen­det sich gar über­for­dert ab.

Oder geht es viel­mehr um die Sorg­falt, die der Leser einem Gedicht ent­ge­gen bringt. Ein Gedicht liest man nicht ein­fach so, die meis­ten for­dern Zeit, Geduld und Vor­wis­sen. Der Leser muss sich inten­siv mit dem Text aus­ein­an­der­set­zen, um dahin­ter zu kom­men, wie er gewebt ist. Sonst ent­steht oft der Ein­druck, es wäre eine Anein­an­der­rei­hung zufäl­li­ger Asso­zia­tio­nen, die gar kei­ne Bedeu­tung haben sol­len, per­sön­li­cher Gedan­ken oder die Ver­ar­bei­tung einer bio­gra­phi­schen Krise.

Für die inten­si­ve Aus­ein­an­der­set­zung gibt es ver­schie­de­ne Metho­den, die man schon früh in der Schu­le lernt und die sich anwen­den las­sen wie ein Kochrezept.

Man neh­me: Stro­phen­an­zahl, eine genaue Anga­be der Stro­phen­form, eine Pri­se Meta­phern, ein Löf­fel­chen Tro­pen und Stil­mit­tel, ein paar Gramm (literar-)historische Kon­tex­tua­li­sie­rung und beschrei­be so die äuße­re Form. Man wen­de sich dann dem Innen­le­ben, also der so genann­ten Aus­sa­ge zu, rüh­re alles zusam­men, las­se es kurz garen und fer­tig ist die Interpretation.

Das setzt neben dem Inter­es­se auch ein gewis­ses Bil­dungs­ni­veau vor­aus. Gedich­te sol­len meis­tens nicht leicht zu ver­ste­hen sein. Durch die Raf­fung der Wor­te, den Rhyth­mus, die Reim­form und wei­te­ren Regeln setzt sich die­ses bestimm­te Text­ge­flecht zusam­men. Inhalt­lich spielt Inter­tex­tua­li­tät eine gro­ße Rol­le. Daher braucht es ein hohes Maß an Bil­dung, um eine halb­wegs schlüs­si­ge Inter­pre­ta­ti­on geben zu kön­nen. Die­se Form der Lite­ra­tur ist also eine eli­tä­re. Des­we­gen stellt Jür­gen Becker auch fest, dass „Lyrik nach wie vor nur ein Mini­mum an Öffent­lich­keit findet“.

Zafer Seno­cak sagt dazu pas­send: „Soll­te ein Gedicht offen sein? Unbe­dingt. Für jeder­mann zugäng­lich. Aber ja. Doch wer ist denn die­ser Jedermann?”

Gedich­te sind also nicht für die Mas­sen kom­pa­ti­bel, son­dern fin­den nur Anklang in einem eli­tä­ren Kreis der Gesell­schaft. Das trifft natür­lich nicht immer zu, denn die­se dras­ti­sche Aus­sa­ge zieht sofort die Fra­ge nach sich, wel­che Tex­te über­haupt unter die Kate­go­rie „Gedicht“ fal­len. Dar­über zer­bre­chen sich Lite­ra­tur­wis­sen­schaft­ler bis heu­te den Kopf und haben auch schon die ein oder ande­re, jedoch meist unzu­rei­chen­de, Erklä­rung gefun­den:
Da wäre zum einen das Kri­te­ri­um der Län­ge, das Eva Mül­ler-Zet­tel­mann vor­sich­tig „Ten­denz zur Kür­ze“ nennt. Sie ver­gleicht die „durch­schnitt­li­che Wort­zahl bzw. Rezep­ti­ons­dau­er eines Dra­mas oder eines Romans“ mit einem Gedicht und erkennt dar­an die offen­sicht­li­che „Knapp­heit und Gedrängt­heit des lyri­schen Text­ma­te­ri­als“ (Mül­ler-Zet­tel­mann, Eva, 2000. S. 73.).

Doch nicht nur Rüdi­ger Zym­ner erkennt die­ses Merk­mal in „Lyrik. Umriss und Begriff“ nicht an, denn es ist unklar, was ‚Kür­ze’ kon­kret bedeu­tet. Er unter­sucht die zehn­bän­di­ge Antho­lo­gie „Deut­sche Lyrik von den Anfän­gen bis zur Gegen­wart“ auf die Ver­s­an­zahl aller Tex­te und stellt fest, dass nur in sel­te­nen Fäl­len der Umfang von zwei­und­vier­zig Zei­len über­schrit­ten wird und schlägt des­we­gen vor, Das Merk­mal „Ten­denz zur Kür­ze“ zu ver­wer­fen, denn es ist es zu unscharf und des­we­gen auf zu vie­le Gat­tun­gen anwend­bar (Zym­ner, Rüdi­ger, 2009. S. 73.). Er macht einen ande­ren Vor­schlag: er meint, „Lyrik sei […] der Lite­ra­tur­grup­pe der ‚Klei­nen For­men’ zuzu­ord­nen und gewis­ser­ma­ßen kate­go­ri­al von mitt­le­ren For­men oder gar ‚Groß­for­men’ abzu­gren­zen“ (Vgl. Zym­ner, 2009. S. 73–79.).

Eine wei­te­re Defi­ni­ti­on könn­te lau­ten, Gedich­te als „Abwei­chung von der All­tags­re­de“ (Fels­ner u.a. 2008. S. 12.) zu dekla­rie­ren, aus dem Grund, weil sie sich einer eige­nen Spra­che bedie­nen und rhyth­misch wie klang­lich anders gele­sen wer­den als Pro­sa. Dem kann ins­be­son­de­re in Bezug auf zeit­ge­nös­si­sche Gegen­warts­ly­rik nicht gänz­lich zuge­stimmt wer­den. Neh­men wir etwas aus Moni­ka Rincks Gedicht­band „Hel­le Verwirrung“:

funk­loch
man soll­te mei­nen, es wäre
erhol­sam. und in der tat war es das
auch. ein stum­mes wesen starr­te zum
him­mel. dort war, neben dem übli­chen,
wenig zu sehen.

Ana­ly­tisch bese­hen besteht „funk­loch“ aus zwei Zei­len, die mit einem Enjam­be­ment ver­bun­den sind. Drei Sät­ze, kein lyri­sches Ich, kaum Hand­lung – da kommt man mit obi­gem Koch­re­zept nicht weit.

Eine wei­te­re gemein­hin ver­wen­de­te Kurz­de­fi­ni­ti­on für das Gedicht ist das Merk­mal „Vers“. Dem DUDEN gemäß ist das „1. durch Metrum, Rhyth­mus, Zäsu­ren geglie­der­te, eine bestimm­te Anzahl von Sil­ben, oft einen Reim auf­wei­sen­de Zei­le einer Dich­tung in gebun­de­ner Rede wie ein Gedicht, Dra­ma, Epos. 2. Stro­phe eines Gedich­tes, Liedes“.

Ein Reim ist am obi­gen Bei­spiel aller­dings nicht aus­zu­ma­chen, ein Rhyth­mus eben­so­we­nig. Eine Zäsur wäre mög­li­cher­wei­se zu set­zen zwi­schen „…war es das auch.“ und „ein stum­mes wesen…“. Da bleibt nur noch das 2. Kri­te­ri­um: „Stro­phe eines Gedichts“.

Ein­deu­ti­ge Merk­ma­le der Gegen­warts­ly­rik zu fin­den gestal­tet sich dem­zu­fol­ge schwie­rig. Viel­leicht fin­det man Anhalts­punk­te dazu bereits in der Lyrik des 20. Jahr­hun­derts. Sie zeich­net sich durch Hete­ro­ge­ni­tät aus, die kei­ne „ver­bind­li­chen Nor­men oder Kon­ven­tio­nen“ auf­stell­te, und daher als „prin­zi­pi­en­lo­se Post­mo­der­ne“ ihren Ruf weg hat­te. Nach Lam­ping ist die „neue Lyrik“ der Post­mo­der­ne nicht mehr scharf umris­sen. Kri­te­ri­en für die moder­ne Lyrik auf­zu­stel­len, ist nahe­zu unmöglich.

Es sind nur weni­ge wie­der­keh­ren­de Kenn­zei­chen aus­zu­ma­chen, wie die Wie­der­ent­de­ckung des Sub­jekts, die Poe­sie des All­tags oder der Hin­wen­dung zur popu­lä­ren Kul­tur (Vgl. Lam­ping, 2008. S. 132.).

Moni­ka Rincks Gedich­te las­sen sich die­sen The­men nicht so leicht unter­ord­nen. In ihrer Lyrik deu­tet alles aus­schließ­lich auf die viel beschwo­re­ne Hete­ro­ge­ni­tät hin.

Rinck hat ein geis­tes­wis­sen­schaft­li­ches Stu­di­um absol­viert, sich aber gegen eine wis­sen­schaft­li­che Lauf­bahn ent­schie­den, und ver­öf­fent­licht nun Gedicht­bän­de, hat auch schon einen Essay im Roman­um­fang ver­fasst („Ah, das Love­ding“, 2006).

Vor die­sem Hin­ter­grund schreibt sie the­ma­tisch abwechs­lungs­reich und viel­fäl­tig. In dem Essay beschäf­tigt sie sich mit ver­schie­de­nen Lie­bes- und Lebens­phi­lo­so­phien. In inne­rer dia­lo­gi­scher und zugleich lyri­scher Form wirft eine gewis­se Vero­ni­ka als eben­bür­ti­ge Gesprächs­part­ne­rin zum Erzäh­ler, oder bes­ser gesagt, Erzäh­le­rin, Kom­men­ta­re und Gedan­ken ein. So wer­den die domi­nan­ten phi­lo­so­phi­schen Ideen unter­bro­chen und auf­ge­lo­ckert. Asso­zia­tiv kann dabei auf das The­ma „im Schwei­gen abge­hal­te­ne The­ra­pie­stun­den“ die Erklä­rung fol­gen, war­um es Bal­lon­fahrt und nicht –flug heißt. (Vgl. Rinck, 2008. S. 30.) Die­ser anspruchs­vol­le und intel­lek­tu­ell ver­schlüs­sel­te Essay eröff­net neue Blick­win­kel auf schein­ba­re All­täg­lich­kei­ten.
Rinck neigt zur per­ma­nen­ten Klein­schrei­bung, häu­fig auch zur Ein­stro­phig­keit, ohne Reim, manch­mal mit Rhyth­mus, und spielt mit fremd­spra­chi­gen Wor­ten oder Para­phra­sen. Sie dreht und wen­det sie, setzt sie in einen neu­en Kon­text, bis ihre Bedeu­tung auf dem Kopf steht (z.B. aus „Irr­gum Burr­gum“: „jemand nimmt sie indes von hin­ten. mais non, es nimmt sich jemand Ihrer an, von vor­ne. alles von vor­ne.“ (Vgl. Rinck, 2008. S. 10.)
Ihre Tex­te sind alle­samt auf ihre Wei­se lyrisch, auch der Essay „Ah, das Love­ding“. Der Band „Rincks Ding- und Tier­ge­dich­te“ kom­bi­niert ein selbst gezeich­ne­tes Bild mit dazu pas­sen­den Ver­sen. Dabei ste­hen Text und Bild in Rela­ti­on zuein­an­der, wir­ken aber auch eigen­stän­dig für sich. Die Zeich­nun­gen sind aus Tusche, zwei­di­men­sio­nal und sim­pel-absurd, doch manch­mal aus­führ­li­cher als der Text. So zeigt zum Bei­spiel die Zeich­nung zu „fas­sungs­los“ die Umris­se einer (weib­li­chen?) Per­son, dane­ben steht: „Ich glau­be ‚fas­sungs­los’ trifft es am bes­ten.“ Das „Text­ge­dicht“ besteht nur aus der Über­schrift „fas­sungs­los“ (Rinck, 2009. S. 10.).

Beliebtes Kernobstgewächs

Tat­säch­lich scheint sie eine Schwä­che für die unge­wöhn­li­che Quit­te zu haben, wie schon Max Goldt in „Quit­ten für die Men­schen zwi­schen Emden und Zit­tau“ oder Jan Wag­ner mit „Quit­ten­pas­te­te“ in den Gedicht­band „Acht­zehn Pas­te­ten“ (2007).

Die har­te Frucht zieht eine Spur durch bei­na­he sämt­li­che Text­samm­lun­gen, und in „Hel­le Ver­wir­rung“ wird ihnen ein gan­zes Kapi­tel gewid­met, es heißt „Der Quit­te wegen“. Dort huschen hart­nä­cki­ge Quit­ten, elek­tro­ni­sche, in Hun­de implan­tier­te, und „quit­tes­te Quit­ten“ durch die Ver­se. In der Tat ist die­se Frucht sehr viel­fäl­tig. Zu den Rosen­ge­wäch­sen gehö­rend ver­wech­seln sie Unge­üb­te leicht mit einem Apfel oder einer Bir­ne. Sie hängt fast das gan­ze Jahr am Baum, bis sie nach den ers­ten fros­ti­gen Näch­ten geern­tet wer­den kann. Doch auch dann ist sie noch nicht ess­bar: Sie soll­te erst noch ein paar Tage im Kel­ler rei­fen. Quit­ten ent­wi­ckeln ihre Far­be von Grün zu Gelb und ihre Kon­sis­tenz von hart zu weich. Ihr Geschmack ist varia­bel: Man kann sowohl Brot davon backen als auch Gelée davon ein­ma­chen. Diver­se Heil­kräf­te wer­den der Quit­te eben­falls nachgesagt.

Die­se Viel­fäl­tig­keit der Frucht trifft auch auf die Autorin zu. Die­se Viel­fäl­tig­keit kann man auch als ein Hin­ter-Tür­chen-Offen­hal­ten sehen. Sie will sich nicht fest­le­gen in ihren Bedeu­tun­gen, und genau dabei liegt der Reiz in ihren Gedich­ten. Mag der eine viel­leicht frus­triert das Hand­tusch wer­fen, weil sich dem Leser kei­ne ein­deu­ti­ge Inter­pre­ta­ti­on eröff­net. Der ande­re freut sich aber über genau die­se kaf­ka­es­ke Dar­stel­lung, an der man her­um­pro­bie­ren kann, weil sich eine mehr­deu­ti­ge Les­art ergibt. Das reflek­tiert Moni­ka Rinck nicht nur inhalt­lich, son­dern auch auf for­ma­le Weise.

Inter­es­sant ist auch der sprach­li­che Aspekt. So beginnt das Wort Quit­te mit einem im Deut­schen sel­te­nen Laut, wie zum Bei­spiel auch die Qual­le. In dem Gedicht „las­sen sie sich wei­ter schwä­chen (Qual­len- / Quit­ten­ver­si­on)“ ver­ar­bei­tet Moni­ka Rinck Gegen­sät­ze und Gemein­sam­kei­ten von har­ter Quit­te und wei­cher Qual­le: „doch sind / nicht (grü­ne quit­ten) [tote qual­len] noch viel här­ter? (gel­be quit­ten) / [lebend­qual­len] schwä­cheln.“ Gegen­sät­ze wer­den ein­an­der gegen­über- und so in Fra­ge gestellt: „wol­len wir / es wei­ter schwä­chen. oder aber stär­ken! hoheit, mit ver­laub, / was haben sie denn jüngst gele­sen, da sie ver­kün­den, / es sei bei­des eins?“ (Rinck, 2009. S. 12.)

Das Wort „Quit­te“ eröff­net aber noch wei­te­re Dimen­sio­nen des Sprach­spiels. In den Gedicht „Komet Quit­te“ geht Rinck noch weit­aus her­me­ti­scher an das The­ma her­an. Es beginnt mit „QUIT: to quit him oder her“: ‚to quit’ heißt im Eng­li­schen so viel wie ‚kün­di­gen, aus­stei­gen, auf­ge­ben’. Auch im Fran­zö­si­schen gibt es ein Wort mit die­sem Wort­stamm: ‚quit­ter’, also ‚ver­las­sen’. Das scheint den Aspekt einer Bezie­hung zu beschrei­ben. Doch genau ist das nicht fest­zu­ma­chen, die Wor­te ent­zie­hen sich im und auch ohne Zusam­men­hang eines ein­deu­ti­gen Sinns.

Auch inter­es­sant ist der Text „Komet Quit­te“, der eigent­lich des akus­ti­schen Vor­trags bedarf, denn die Ver­se: „… alles prä­exis­tier­te / für immer! quit­te: selbst wenn das nicht­ge­leb­te wenig besteht, / bedeu­tet das nicht, das nur das ger­ne geleb­te ver­geht.“ machen nicht deut­lich, was „quit­te“ hier bedeu­ten soll: Ist der Impe­ra­tiv des fran­zö­si­schen „quit­ter“ gemeint: ‚hör auf!’, oder eher eine Anre­de für eine Per­son, wie schon in der ers­ten Stro­phe: „quit­te, bit­te, so war­te!“. Allein aus einem Wort(stamm) so vie­le Bedeu­tungs­mög­lich­kei­ten zu zie­hen ist ein Cha­rak­te­ris­ti­kum der Autorin.

All dies macht Rincks Gedich­te sowohl inter­es­sant als auch kom­pli­ziert: sie legt vie­le Foli­en über­ein­an­der, so dass eine kohä­ren­te Inter­pre­ta­ti­on schwie­rig oder unmög­lich wird. Rincks Kom­men­tar dazu: „Das Gedicht: Man beklagt oft sei­ne Schwie­rig­keit. Das mag sein. Aber es ist nicht schwie­ri­ger als der Rest unse­rer Gegen­wart …“ (Kas­par, 2010. S. 2.)

Das all­ge­mei­ne Vor­ur­teil, Gedich­te sei­en „sen­ti­men­tal und sub­jek­tiv, und aus die­sen Grün­den schwer zu verstehen“(Felsner, u.a., 2008. S. 13.), hat auch einer der erfolg­reichs­ten Gegen­warts­ly­ri­ker Jan Wag­ner als Vor­ur­teil bezeich­net (Käm­mer­lings, 2011). Wie auch Moni­ka Rinck ver­sucht er, das zu unter­wan­dern.
War­um über­haupt schreibt man Gedich­te? Der Dich­ter Rai­ner Mal­kow­ski sagt dazu in sei­nem gleich­na­mi­gen Essay: „Oft hal­te ich das Schrei­ben von Gedich­ten für eine nutz­lo­se Beschäf­ti­gung und manch­mal sogar für eine Art Ver­rückt­heit. Aber es geschieht auch, dass ich stolz dar­auf bin, das Nutz­lo­se zu tun und etwas her­zu­stel­len, das kei­nen gesell­schaft­lich ver­füg­ten Zwe­cken dient.“ (Mal­kow­ski, 1994. S. 89–90.) Es ist dem­zu­fol­ge para­dig­ma­tisch für die Aus­drucks­wei­se und Inten­tio­nen von Kunst. Man­ches ist unge­wöhn­lich, befremd­lich, manch­mal ist es sogar abschre­ckend, und gera­de des­we­gen faszinierend.

Das ist gera­de das Schö­ne an Gedich­ten: wer sie liest, liest sie aus rei­nem Ver­gnü­gen. Sie sind abwechs­lungs­reich in Form und Inhalt, über­schrei­ten Gren­zen, lösen Stim­mun­gen aus, wol­len auf­rüt­teln oder zum Schmun­zeln brin­gen, und gera­de des­halb sind sie genau­so not­wen­dig und daseins­be­rech­tigt wie jede ande­re Kunst­form auch – auch wenn der Gegen­warts­ly­rik noch nicht so recht die ihr ange­mes­se­ne Auf­merk­sam­keit ent­ge­gen­ge­bracht wird.

Cor­ne­lia Jentzsch schreibt dazu: „Gewiss leben wir auch ohne Poe­sie noch für eine gewis­se Zeit wei­ter, doch dann geht uns die gesell­schaft­li­che Luft zum Atmen aus, das gesell­schaft­li­che Trink­was­ser, die gesell­schaft­li­che Nah­rung wird feh­len, und wir wer­den als Men­schen zugrun­de gehen.“ (Jentzsch, 2010. S. 107.)
Vie­le von Moni­ka Rincks Gedich­ten belus­ti­gen nicht, sie erzäh­len kei­ne Geschich­te, sie leh­ren kei­ne Moral. Trotz­dem oder gera­de des­halb eröff­nen sie viel­stim­mi­ge Hori­zon­te, ver­fah­ren inter­tex­tu­ell und for­dern eine inten­si­ve Aus­ein­an­der­set­zung mit ihnen und der Tra­di­ti­on. Je öfter man sie liest, des­to mehr Zugän­ge eröff­nen sie. Dem Leser offe­rie­ren sie immer neue Sinn­di­men­sio­nen, sofern er das über­haupt will. Viel­leicht ist er auch schon so fas­zi­niert vom gekonn­ten Umgang mit der Spra­che, von Wort­spie­len, Bil­dern und Asso­zia­tio­nen, dass der Leser gar kei­ne Her­me­neu­tik mehr braucht.

Das darf glück­li­cher­wei­se jeder selbst entscheiden.

Literaturverzeichnis

Pri­mär­li­te­ra­tur:

Rinck, Moni­ka. Hel­le Ver­wir­rung / Rincks Ding- und Tier­le­ben. Idstein 2009.

Rinck, Moni­ka. Ah, das Love-Ding! Ein Essay. Idstein 2008.

Sekun­där­li­te­ra­tur:

Becker, Jür­gen. Das Ent­ste­hen von Kor­re­spon­den­zen. IN: Das Gedicht. Zeit­schrift für Lyrik, Essay und Kri­tik 4 (1996), S. 77.

Beil, Ulrich J.. Lässt sich über Lyrik strei­ten, IN: Das Gedicht. Zeit­schrift für Lyrik, Essay und Kri­tik 4 (1996), S. 69 – 72.

Fels­ner, Kris­tin, Hel­big, Hol­ger, Manz, The­re­se. Arbeits­buch Lyrik. Ber­lin 2008.

Jentzsch, Cor­ne­lia: Ich bin nicht Schrö­din­gers Nich­te, weil Witt­gen­steins Kat­ze mich kennt – oder: vom Frei­raum der Gleich­zei­tig­keit. Noti­zen zu Bar­ba­ra Köh­lers Poe­sie. IN: die horen. Zeit­schrift für Lite­ra­tur, Kunst und Kri­tik 55 (2010), S. 99–107.

Käm­mer­lings, Richard. “Es ist gar nicht schlimm, wenn jemand ver­stört ist”. Der Dich­ter Jan Wag­ner über die Lust an der Form, schmut­zi­ge Rei­me und Bei­fall von der fal­schen Sei­te (31.07.2011), URL: http://www.welt.de/print/wams/kultur/article13517566/Es-ist-gar-nicht-schlimm-wenn-jemand-verstoert-ist.html, (Stand: 7.8.2011).

Kas­par, Frank. Poe­sie ist eine Erkennt­nis­kraft. Ein Tisch­feu­er­werk mit Valz­hy­na Mort, Moni­ka Rinck und Elke Erb (09.11.2010), URL: http://www.swr.de/swr2/programm/sendungen/literatur/-/id=6974086/property=download/nid=659892/1v96wy8/swr2-literatur-20101109.pdf, (Stand: 3.8.2011).

Kraif, Ursu­la (Hrsg.). DUDEN. Das Fremd­wör­ter­buch. Bd. 5., 9. Auf­la­ge., Mann­heim, Leip­zig, Wien, Zürich 2007. S. 578, 616.

Lam­ping, Die­ter. Moder­ne Lyrik. Göt­tin­gen 2008.

Mal­kow­ski, Rai­ner. War­um über­haupt schreibt man Gedich­te? IN: Das Gedicht. Zeit­schrift für Lyrik, Essay und Kri­tik. 2 (1994). S. 89–90.

Mül­ler-Zet­tel­mann, Eva. Lyrik und Meta­ly­rik. Theo­rie einer Gat­tung und ihrer Selbst­be­spie­ge­lung anhand von Bei­spie­len aus der eng­lisch- und deutsch­spra­chi­gen Dicht­kunst. Hei­del­berg 2000.

Zym­ner, Rüdi­ger. Lyrik. Umriss und Begriff. Pader­born 2009.

Portrait Johanna Meyr

Johan­na Meyr

gebo­ren 1988 in Mün­chen, lebt in Erlan­gen.
Stu­di­um der Thea­ter- und Medi­en­wis­sen­schaf­ten und Germanistik.