von Tabea Krauß
Jacques Roubaud reichert seine traurig schöne Erzählung mit jeder Menge Sprachspiel an und macht es dem Übersetzer schwer.
“Der verwilderte Park”, “Le parc sauvage” — bereits der Titel dieser kleinen Erzählung vermag Assoziationsexplosionen in Leserköpfen auszulösen. Der verwilderte Park — das klingt nach dem romantischen Kampf von Kultur und Natur, nach überwucherten Statuen, morschen Bänken. Das klingt auch nach Sommerkindertagen, Abenteuerlust und fantastischen Spielen fern der Erwachsenenwelt.
Der Titel verspricht nicht zu viel.
Bis wir allerdings entführt werden in den Spätsommernachmittagstraum, bis wir mit den beiden Kindern Dora und Jacques hinabsteigen in das alte Bassin, das schon seit Jahrzehnten kein Wasser mehr führt, und hinter den Feigenbäumen nach Geheimgängen suchen dürfen, vergehen einige Kapitel. Bevor wir in den verwilderten Park eintreten und damit eintauchen in eine typisch französische Sinneswahrnehmungspoesie, wie wir sie von Proust kennen, wird unsere Geduld und Aufnahmefähigkeit erst einmal erheblich strapaziert. Handlungspassagen mit Sätzen, die bildfolgenlos bleiben, ziehen vorbei.
Wir befinden uns im Jahre 1942, die kleine Dora soll vor den Nationalsozialisten in Sicherheit gebracht werden und kommt zunächst bei einer verwandten Familie in Südfrankreich unter. Allerdings bleiben die Personen zunächst schwer fassbar. Vom Leser ist absolute Aufmerksamkeit gefordert. Er muss sich sein Bild der Figuren genauso zusammenbasteln, wie die Architekturkulissen, vor denen sie sich bewegen. Manche Abschnitte lesen sich wie komplizierte Bildbeschreibungen. Räumliches Vorstellungsvermögen, sowie die Fähigkeit rechts und links zu unterscheiden, sind unbedingt von Nöten. Wer mag, kann sich kleine Pläne zeichnen.
An einigen Stellen scheint auch der Humor etwas zu gewollt: wenn zum Beispiel seitenlang von einer zahmen Ente berichtet wird, die im Sessel sitzend Radio London hört und mit den Kindern ihre Spielchen treibt. Personale Erzählung aus Entensicht strapaziert eher die Nerven als die Lachmuskeln des Lesers.
Was ebenfalls zunächst irritierend wirkt, ist die Art und Weise der Übersetzung. Ob der Grammatikstruktur und manch seltsamer Wendung wird allzu deutlich, dass es sich um eine Übertragung aus dem Französischen handelt. Angesichts des experimentellen Umgangs mit Sprache des Oulipoten Jacques Roubaud, dessen sich auch der Übersetzer bewusst gewesen sein muss, bleibt allerdings offen, ob diese scheinbare Holprigkeit nicht auch beabsichtigt ist. Jacques Roubaud zu übersetzen ist in jedem Fall eine Herausforderung, mangelt es doch nicht an oulipotischen Sprachspielereien. So folgen am Ende jeden Kapitels in Kursivdruck einige Wörter: Wortfolgen, durch Satzzeichen getrennt oder nicht. Schlüsselworte des Kapitels, die das Wahrgenommene Doras nochmals durch den Kopf des Lesers schicken. Lyrische Verdichtungen, traumartige Sprachgebilde, die aus Doras Unterbewusstsein zu stammen scheinen: “rot der Mond, da, die Luke, rot; da, die Luke, Mond, rot”.
Die kursiv gedruckten Anhängsel sind nicht die einzigen Experimente, die sich Jacques Roubaud erlaubt. Durch typographische Veränderungen manipuliert er auf faszinierende Weise den Lesefluss. Mitten im Text tauchen plötzlich Unterstreichungen auf: Der Verwilderte Park und Das Alte Bassin. Diese Verbände aus großgeschriebenem Artikel, Adjektiv und Nomen werden zu bedeutungsschweren Namen, die man unwillkürlich anders liest. Namen, aufgeladen mit Gefühlen, Gerüchen und Geräuschen.
Die Kapitel jedenfalls, die von Dem Verwilderten Park erzählen, sind wunderschön. Der Leser spürt die warmen Steine unter den nackten Füßen, schmeckt die Süße der Feigen, hört das Rascheln der Blätter und sieht die herumhuschenden Eidechsen vor sich: “Feigen, Eidechsen, Nattern, Hitze, Licht, Feigen, Nattern, Licht, Eidechsen, Hitze. Feigen”. Wer den südfranzösischen Sommer kennt und liebt, wird sich an diesen Stellen einer gewissen Sehnsucht nicht erwehren können.
Die Kinder, berauscht von der Wahrnehmung des Schönen und der Schönheit der Wahrnehmung entdecken in der Spätsommerhitze auch ihre gegenseitige Zuneigung. Mitten im Weinberg ziehen sich Jacques und Dora voreinander aus, fasziniert von der eigenen Nacktheit und der Nacktheit des anderen. ” ‘Du hast keinen’, ‘Nein, das siehst du doch du Idiot’ […] Sie zog ihren Schlüpfer wieder an. Er wirkte vage enttäuscht.” Angenehm unaufgeregt wird hier von der Entdeckung der Sexualität erzählt.
Dass es neben der schönen Melancholie vergangener Kindertage auch um eine Story geht, wird dem Leser am Ende noch einmal schmerzlich bewusst. Schmerzlich nun nicht mehr wie am Anfang, ob der Vagheit der Sätze und der Unergiebigkeit der Lektüre, sondern ob des Schattens, den eine an die Erzählung angehängte Rückblende über das nun 50 Jahre zurückliegende Geschehen wirft. Der Kontext des zweiten Weltkrieges, der bereits vorher präsent war — schließlich hörte man Radio London und die Erwachsenen debattierten über das politische Geschehen — bricht nun mit einer Brutalität herein, die den Leser, gerade uns deutsche Leser, hart treffen mag.
Ein Buch, das komprimiert auf 121 Seiten rauschhafte Bilder heraufzurufen und echten Schmerz auszulösen vermag — ein Buch, das uns beglückt und schockt zugleich — ist auch in der Übersetzung lesenswert.
Jacques Roubaud: Der verwilderte Park
Aus dem Französischen von Tobias Scheffel
Verlag Klaus Wagenbach, Februar 2010
121 Seiten