von Felix Krauß, Veronika Raila und Philipp Maier
Felix (21) studiert Realschullehramt für die Fächer Mathematik und Deutsch und plant in 2023 sich vor allem mit Theaterdramen zu beschäftigen.
Der führsorgliche Mr. Cave
Ich habe versucht meine Tochter zu reparieren — ein Familiendrama ohne klassisches Happy End.
Beim ersten Versuch, diesen Roman zu lesen, habe ich schon vor der Hälfte abgebrochen, da es mir sehr schwer fiel, mich in den Protagonisten hineinzuversetzen. Die Rede ist von dem Buch Der fürsorgliche Mr.Cave von Matt Haig (in der deutschen Übersetzung von Sabine Hübner), erschienen im Februar 2022 beim Verlag Droemer Knaur.
Matt Haig schildert hier das Schicksal eines Vaters, in Form eines an seine Tochter gerichteten Abschiedsbriefs. Der fürsorgliche Terence Cave versucht nach dem Tod seines Sohnes Reuben, seine 14-jährige Tochter Byrony vor allen möglichen Gefahren zu beschützen, was in der modernen Welt natürlich reichlich schwerfällt ohne zum Helikopter-Vater zu werden.
Wie sich an Mr. Cave zeigt, der als Restaurator und Antiquitätenhändler arbeitet, kann es zuweilen sehr schwierig sein, Berufliches und Privates zu vermischen. Die Entwicklung, die seine Tochter infolge des Todes ihres Zwillingsbruders durchlebt, betrachtet er als Beschädigung eines Kunstgegenstandes, welche wieder auszubessern beziehungsweise rückgängig zu machen ist. Diese Vorstellung hält bis zum tragischen Unglück seiner Tochter an.
Faszinierend dabei ist, wie gut es dem Autor gelingt die Hauptfigur immer bis zum Rand der alles verändernden Selbsterkenntnis kommen zu lassen, nur um ihn dann scheitern zu lassen.
Veronika Raila (30) studiert Neuere deutsche Literatur und katholische Theologie und hofft, dass ihr Drache sich dieses Jahr ruhig verhält und sie einfach nur leben, lieben und lachen kann.
Die Nibelungen. Ein deutscher Stummfilm
Frau Hoppe und Die Nibelungen: nicht nur ein deutscher Stummfilm, sondern beredt, ein europäisches Epos.
Die Nibelungen spielen in Worms am Rhein — nein nicht nur die alte Erzählung, wir befinden uns mitten in einem Theaterstück, teils auf der Bühne, teils hinter der Bühne und auch im Zuschauerraum. Dieser Kunstgriff lädt die Leser zu unterschiedlichen Betrachtungen ein; der Perspektivwechsel ist perfekt. Perfekt geht sie auch mit den Zeitsprüngen um. Die Nibelungen entspringen der Völkerwanderungszeit, aufgeschrieben im Mittelalter, der Stummfilm von Fritz Lang wurde in den zwanziger Jahren gedreht und das Theaterstück in der Gegenwart. Hoppe springt hin und her, dekonstruiert den Stoff, fügt neue Ansichten hinzu, nein sie betrachtet scheinbar nebensächliches neu. So erschloss sich der Stoff für mich als ein Tableau, auf dem gesamteuropäische Fragen verhandelt werden. Das Ende ist bekannt, alle verlieren ihr Leben, nur ein Sieger geht hervor, Siegfried, er hat seinen Drachen getötet.
Und meinem Drachen begegne ich immer wieder, bin gespannt, wann ich ihn besiege.
Philipp Maier (26) studiert vergnügt vergleichende Literaturwissenschaft und nimmt sich für 2023 vor, mit dem Rauchen aufzuhören.
Aldous Harding – Warm Chris
„The weather opened up like a birthday card“ (Fever) singt Aldous Harding in ihrem 2022 erschienen Album Warm Chris. Und ja, da macht sich Schönes, Wahres und Warmes auf.
Harding durchläuft mit ihrem Gesang eine solche Vielzahl an Modalitäten, so dass nicht klar ist, wer da eigentlich spricht. Figuren der Wehmut, Trauer, Geborgenheit, Dankbarkeit, des Wahns und der Liebe finden allesamt zu ihrer eigenen Tonalität. Diese Polyphonie führt zu dem Gefühl, dass in dieser Vielfalt der Blickpunkte ein Wissen von der Reichhaltigkeit der beobachtbaren Welt liegt. In Warm Chris werden die rätselhaften Belange des Lebens in einer solchen Schönheit inszeniert, dass vielleicht gerade dies der Ausdruck einer tieferen Wahrheit ist: „They don’t mean a thing to me, all these lamps are free“ (Lawn). Und der Song Passion Babe macht klar: „Passion must play or passion won’t stay“. Auch wenn Warm Chris nicht das zugänglichste Album von Aldous Harding ist – zum Einstieg empfiehlt sich das Album Party – es ist ein Meisterinnenwerk: „Here comes life with his leathery whip“ (Leathery Whip).
Laut meiner Musikapp ist der Song Lawn mein meistgehörter Track im Jahr 2022. Vielleicht hat dessen Appell „just be the way you are / just be out and free“ in seiner Klarheit sanft und erbaulich dieses Jahr für mich geformt und ich bin Aldous Harding sehr dankbar dafür.