von Ulrike Jochum
„Ich heiße Fleischman. Bin einhundertneunundsiebzig Zentimeter groß und dreiundsiebzig Kilo schwer.” Eine sonderbare, höchst eigentümliche Gestalt stellt sich mit diesen Worten in Jaroslav Rudiš tschechischem Roman „Grandhotel” vor.
Fleischman beobachtet am liebsten die Wolken und misst dreimal am Tag das Wetter, das er akribisch in einem Diagramm festhält, welches nicht nur „die Wetterlage, sondern auch alle persönlichen Stürme, Zwänge, Schwankungen und Ängste” dokumentiert. Er weiß nämlich, dass „alles, aber auch alles, mit dem Wetter zusammenhängt.”
Seine Mitschüler bezeichneten ihn darum seinerzeit als „Wolkenpest”, in Anspielung auf sein Äußeres wahlweise jedoch auch als „Eierkopf, Rotznase oder Wollhose.” Für die schöne Ilja ist er „der hundertprozentige Kinderkill” und Winnetou Jégr, der Besitzer des Grandhotels, nennt ihn einen „Einhandflötisten” — ein Bild, in dem sich Fleischman wiedererkennt: „Einhandflötist ist ein Seelenzustand. Der Zustand meiner Seele.”
Immer deutlicher wird so, dass der Hauptfigur mehr abhanden gekommen ist, als nur der eigene Vorname, an den Fleischman sich nicht mehr erinnern kann. Darum auch ist er ein regelmäßiger Gast der „Frau Doktor”, die am liebsten die Geschichte vom Unfalltod seiner Eltern hört. Weil diese mit ihrem Auto direkt vor dem Ortsschild von Liberec verunglückten, fühlt sich Fleischman in seiner Heimatstadt geradezu gefangen. Die größten Hoffnungen, aber auch ungeheure Ängste sind an die Übertretung der Stadtgrenze gebunden: „Es wurde mir klar, dass ich, wenn ich das Schild passieren würde, nie mehr zurückkäme. Mich verlaufen würde. Sterben.”
Nach dem Tod der Angehörigen wird Fleischman von seinem entfernten Cousin Jégr aufgenommen, einem fußballbegeisterten Frauenheld, der ihn zu seinem „wandelnden Bierflaschenöffner” macht und im Grandhotel als Mädchen für alles einsetzt. Fleischman lebt in dem futuristischen Bau, der nach dem Berg Ješt?d benannt ist, auf dessen Anhöhe er sich befindet. So realitätsfern wie Fleischman selbst ist auch dieses Hotel gezeichnet, „das manchmal wochen‑, monate- oder sogar jahrelang in den Wolken hängen bleibt”, „in dem alles rund ist und wo man sich genauso leicht verläuft wie im Nebel, in einer Großstadt oder in sich selbst.”
Genau dies scheint jener bemitleidenswerten Figur passiert zu sein, die sich ausschließlich von Brause und Butterkeksen ernährt und Briefe an die Wettermoderatorin schickt, wenn diese im Fernsehen mal wieder eine Warmfront mit einer Kaltfront verwechselt hatte. Als Leser folgt man den tragikomischen, offenherzigen und sprachlich auf naiv-kindliche Weise gestalteten Schilderungen des Ich-Erzählers, der gleich zu Beginn mitteilt, nun keine Geheimnisse mehr haben zu wollen, und fragt sich, nach einer Weile leicht unruhig geworden: Wozu diese unaufhörliche psychologische Zustandsbeschreibung? Fleischman baut dem mit den Worten vor: „Vielleicht glaubt ihr, dass ich um Mitleid heischen, euch meine Traumata auftischen will. Dass ich den ganzen Dreck, den ich im Kopf trage, ausmisten will, wie das die Frau Doktor nennt, wenn ich ihr blöd komme und sie ausrastet.”
Im Laufe der Erzählung kommt man aber gerade dadurch der sensiblen Gestalt Fleischmans näher, die eine ungeheure Entwicklung durchmacht, und gewinnt schließlich auch sein andauerndes Gerede vom Wetter — von Winden, Fronten und Wolken, vom Cumulonimbus, Nimbostratus, Cirrostratus, Altocumulus und Stratocumulus — lieb. Zuletzt stellt sich ja doch heraus, dass mal wieder alles anders ist, als man zunächst vermutet hatte, dass Fleischman weniger naiv und die Anderen im Gegenzug weniger „normal” sind, als gedacht. Im Ganzen hat der junge Tscheche Rudiš darum ein feines, wertvolles Buch vorgelegt, das von Eva Profousová zudem hervorragend ins Deutsche übersetzt wurde.