von Mesut Bayraktar
Es gibt keine Wiederkehr, zu keinem Augenblick. Bogumila, weiß gekleidet wie unbeschriebenes Papier, bereitete in der Küche das Mittagessen vor, seit zwanzig Jahren, jeden Tag, wenn sie nicht für den Spätdienst eingeteilt war. Dabei glich der eine Tag dem vorangegangenen nicht nur wie Eier im Regal eines Supermarkts. Vielmehr schien, die Tage wären ein und dieselben, sodass das Wort Alltag seinen Betrug vor aller Augen vertuschen und seine Absichten beim gleichzeitigen Altern aller verfolgen konnte. So wird eine Einbildung, wird sie konsequent eintrainiert, Wirklichkeit.
Nachdem die Bewohner sich inzwischen gesammelt und um die Tische gesetzt hatten, verteilte Bogumila Essen und Getränke. Sie hatte sich daran gewöhnt, dass einige Bewohner nach trocknem Atem und Urin rochen, wenn sie an ihren Rücken vorbeilief, oder dass andere sinnwidrige Kommentare äußerten, wenn sie nach weiteren Wünschen fragte. Das alles fand sie verzeihlich, weidete sich doch an Orten wie diesen das Nichts, das seine Siege zelebrierte und über die Fülle des Seins spottete, die die Pfleger mit dem Weiß ihrer Hemden, Hosen und Schuhen als Einspruch erhoben. Denn weiß ist das Licht, das auf dem Meer der Möglichkeiten perlt und auf ein buntes Treiben der Freiheit wartet. Jeder würde einmal alt werden, und schwach, dachte Bogumila. Sie legte einem Bewohner ein Tuch auf die Brust, eingehackt in seinem Kragen, und einer anderen Bewohnerin klemmte sie eine Strähne hinter die Ohrmuschel. Danach strich sie für Frau Frank eine dünne Butterschicht auf eine Scheibe Vollkornbrot. Sie teilte es anschließend in vier Stücke, da das Gebiss von Frau Frank empfindlich war und nur in kleinen Teilen das Vollkorn zermalmen konnte. Seit einigen Jahren wünschte sie zur Mittags- und Abendmahlzeit dunkles Brot mit Butter, dazu Tee oder, wenn ihr danach war, Traubensaft. Das Frühstück ersetzte sie mit einem verlängerten Schlaf. Sonst sprach sie wenig und seit sie sich nicht mehr frei bewegen konnte, so gut wie gar nicht mehr. Überhaupt konnte sie niemand verstehen, wenn sie sprach. So musste sie auf das gemeinsame Essen mit den anderen Bewohnern verzichten und sich ihre Nahrung von den Pflegern mit einem kleinen Wagen Tag für Tag ins Zimmer rollen lassen.
Als Bogumila behutsam die Tür öffnete, strömte ihr der bittere Geruch von Tod in die Nase. Auf ihren Ruf, dass die Zeit für das Mittagessen gekommen sei, vernahm sie ein wortloses Seufzen. Bogumila schob den Wagen neben das Bett von Frau Frank, goss mit einer Kanne etwas Wasser in die bunten Blumentöpfe und öffnete, die beigen Gardinen beiseiteschiebend, ein Fenster. Erst dann wandte sie sich Frau Frank zu. Sie lag kraftlos auf der Matratze mitten im Streifen des Sonnenlichts, das sich durch das Fenster goss. Sie war klein, wie ab dem Scheitelpunkt ihres Lebens mit jedem Jahr um einen Zentimeter geschrumpft. Auf dem Kissen umkränzte ihr graues Haar das fahle, gelbe Gesicht, in dem ihre hellblauen Augen leuchteten, als schwebten Wolken über ihnen. Neben dem linken Nasenflügel hockte ein Muttermal wie ein Pilz zwischen Baumwurzeln, die sich in die Erde versenken. Auf Bogumila machte sie den Eindruck einer Verstorbenen, der vergessen wurde, die Augen zu schließen.
„Wie geht es ihnen?“, rief Bogumila. Frau Frank stöhnte beim kläglichen Versuch, sich aufzurichten. Bogumila legte eine Hand unter die rechte Achse und griff mit der anderen den linken Unterarm von Frau Frank. Der Unterarm schien bloß aus Fleisch- und Fettgewebe zu bestehen, ohne Knochen, ganz weich. Als ihr Ohr sich dem Mund von Frau Frank näherte, verklarte sich das Gemurmel zu einem Wort: „Warm… warm…“, das sie wiederholte. Dann erst verstand Bogumila das Unbehagen von Frau Frank. Sie legte die alte Frau vorsichtig wieder auf den Rücken und nahm ein dünnes, kurzärmliges Shirt aus dem Kleiderschrank. Als sie ihr das langärmlige auszog, heftete sich ihr Blick auf die Brüste. Ausgetrocknet und zerbeult fielen sie über den Bauch und auf ihren Spitzen hatte sie eine Rosafärbung, die auf Brustwarzen verwies, von denen Kinder wie Männer gelernt hatten, was Geborgenheit heißt. Doch nun schienen sie eine Last für Frau Frank zu sein, die ankündigten, dass ihre Organe im Verfall waren. Sie war die älteste Bewohnerhin im Altenheim, über neunzig Jahre alt, und es kursierten auf der Station Gerüchte, dass sie in Ausschwitz inhaftiert war. Damals, als die Barbarei wütete, die bis heute Stellung hält. Ob sie wirklich in Ausschwitz war, wusste keiner, auch nicht, wer solche Gerüchte in die Welt setzte. Man wusste nur, dass sie seit einem Jahrzehnt nicht mehr besucht wurde und dass sie Jahrzehnte in einem Kabelwerk gearbeitet hatte, bis die Knie nicht mehr mitmachten. Auch war sie wohl eine Politische gewesen, eine Kommunistin, was jedoch auch niemand mit Gewissheit wusste und was die jüngeren Kollegen auch nicht recht verstanden. Auf der Station erwartete man zumindest seit zwei, drei Jahren jenen Tag, an dem einer von ihnen das Vollkornbrot mit Butter und Tee in ihr Zimmer rollen würde, um anschließend zurückzukommen und den Triumph des Todes zu verkünden. Einige standen diesem Tag gleichgültig gegenüber, andere schauderten davor, weil das Vergessen die Bilder noch nicht bezwang, auf denen Frau Frank im Garten Blumen pflückte oder im Esszimmer zwischen den anderen Bewohnern lächelte. Bogumila, die geduldig die Brotstückchen in den Mund von Frau Frank schob, gehörte zu den Schaudernden.
„Brauchen Sie noch etwas?“, sprach Bogumila.
Frau Frank blickte ihr mild entgegen, ein wenig teilnahmslos, und versank mit dem Kopf wieder in das weiche Kissen. Die Helle ihrer Augen erweckte den Eindruck, als blätterte sie in ihrem Gedächtnis durch ein Bilderbuch ihrer Jugend und ihrer Kämpfe. Mit einem leichten Händedruck, bei dem Bogumila jeden Fingerwirbel spürte, verabschiedete sie sich von Frau Frank. Sie legte den Teller auf den Wagen und schloss hinter sich die Tür.
Nachdem sie das Geschirr von den Tischen im Esszimmer geräumt und die Spülmaschine eingeschaltet hatte, tauschte sie ihre weiße Kleidung um in eine Jeans und ein grünes Shirt. Sie dachte nicht mehr an Frau Frank. Ein junger Kollege war bereits eingetroffen, obwohl sein Dienst erst zwei Stunden später begann. Er hatte sich bereit erklärt, Bogumila früher abzulösen, da sie einen Termin beim Arzt hatte. Auf diesen Termin hatte sie lange warten müsse. Die Geschäftsleitung wusste nichts von der Abrede zwischen den Kollegen. Bogumila hatte zwar vor einem Monat einen entsprechenden Wunsch gemeinsam mit dem Betriebsrat vor der Geschäftsleitung geäußert, die ihn jedoch mit dem Verweis auf die Arbeitszeiten abgewiesen hatte. Dass ihr nicht ein anderer Termin angeboten werden konnte, abgesehen von solchen, die Bogumila auf weitere Monate Ungewissheit verurteilten, akzeptierten sie nicht und an die wirklichen Chefs konnte sie sich nicht wenden. Sie waren Gesichtslose, die die Börsen bewohnten und dort über ihr Schicksal, mitsamt dem ihrer Kollegen und der Bewohner, mit Wertpapieren vom Altenheim entschieden. Desto dankbarer war Bogumila über das Verständnis ihres Kollegen. Sie machte sich mit einer Enge in der Brust auf den Weg zur Arztpraxis.
Nach wenigen Minuten im Wartezimmer rief eine bebrillte Frau mit gewölbtem, rotem Haar über den Ohren Bogumila auf. Sie bat sie in ein Zimmer mit einer Liege, daneben ein Gerät mit Verkabelungen und Instrumenten, die auf Bogumila einen bedrohlichen Eindruck machten. Sie fürchtete sich vor den Botschaften, die diese Instrumente aus ihrem Körper ziehen und ihrem Geist wie ein Faustschlag auf die Schläfe als unleugbare Wahrheit zufügen konnten. Sie gehörten zum Waffenarsenal der Macht.
Bogumila musste sich etwa zwanzig Minuten gedulden, bis der Arzt in das Zimmer eintrat. Er war vermutlich so alt wie sie, Anfang fünfzig. Sein kurzgeschorenes Haar war über den Ohren leicht ergraut und seine Haut von zarter Bräune. Anders als Bogumila, die schwerfällig ihre Beine und ihre Arme bewegte, machte der Arzt flinke, lebhafte Bewegungen. Zweifellos machte er regelmäßig Sport und aß das, was man in gebildeten Klassen gesund nennt. Er setzte sich an den Schreibtisch, tippte kurz auf der Tastatur, guckte nachdenklich auf den Bildschirm und wandte sich dann Bogumila zu, die auf der Liege saß. Er bat sie, aufzustehen und das Shirt hochzuziehen, um ihren Rücken abzutasten. Dann lauschte er mit einem Stethoskop in ihre Lungen. Jedes Mal, wenn der Arzt das Bruststück auf verschiedene Stellen links wie rechts neben den Bandscheiben drückte, schnappte sie schlagartig mit der Nase nach Luft und drückte die Lippen zusammen. Die Kälte des Edelstahls schreckte sie auf, als setzte der Arzt eine Pistolenmündung auf ihren Rücken, um ihr zu befehlen, dass sie vorwärtsschreiten soll wie eine Geisel. Dann blickte er in ihre Ohren, in ihre Mundhöhle und in ihre Rachen. Orte, die ihr Selbst ausmachten, aber zu denen ihr Einblicke verweigert wurden wie dem Passanten in das, was hinter Betriebstoren geschieht. Mit jeder Sekunde wurde ihr der Körper, den der Arzt untersuchte, ein Objekt, etwas Fremdes, Schritt für Schritt enteignet. Sie stand außer sich und beobachte die Handfertigkeiten des Arztes auf einem Körper, der jemand anderem gehören musste. In ihrem Kopf kreiste nur ein einziger Gedanke: Was wird der Arzt nach der Untersuchung sagen?
Dieser Gedanke gehörte ihr, ganz allein. Denn er speiste sich aus ihrer Angst und Angst ist eine Kernschmelze, die man Ich nennt, wenn man Ich sagt und Ich meint. Das wusste sie, während der Arzt mit weiteren Instrumenten in ihren Mund blickte und beide Daumen auf ihren Hals legte.
Es muss irgendwas mit meinem Hals sein, dachte sie indessen, irgendwas mit meinem Mund. Dann verließ der Arzt für wenige Augenblicke das Zimmer und kam mit einer dünnen Mappe zurück. Daraus zog er Röntgenbilder, verteilte sie über den Tisch und drehte den Bildschirm in Bogumilas Richtung. In einem technischen Ton, ganz zweckgebunden, sprach der Arzt über das, was die Instrumente ihm über ihren Körper verraten hatten. Er sprach von Notwendigkeiten, von Chancen, schob sein Latein dazwischen, das Bogumila nicht verstand, von Schatten, helleren und dunkleren, von angeschwollenen Lymphen, von Tee, Suppe und Sport, von einem langen Kampf, der aufzunehmen sei; er sprach viel, zu viel, und je mehr er sprach, desto abwesender wurde Bogumila, die sich in das Labyrinth ihrer Angst eingrub wie ein Maulwurf in seine Unterwelt, weil er ungebrochenem Licht nicht traut. So in sich versunken, in einem Gefühl von Angst und Misstrauen, schoss plötzlich eine Frage aus ihr heraus, die sie weniger dem Arzt als vielmehr dem Kosmos stellte: „Womit habe ich das verdient?“
Für einen Augenblick war die Stille stärker als die Redseligkeit des Arztes, der überrascht Bogumila anstarrte. Dann ergriff er wieder das Wort und antwortete: „Niemand hat das verdient.“
Und doch geschieht es
dachte Bogumila.
Der Arzt legte ihr eine Hand auf das Knie, als wäre er, wie zuvor mit dem Stethoskop, in ihre Eingeweide eingebrochen und hätte vernommen, was sie dachte. Darauf antwortete er: „Jeder Mensch wird sterben.“
Nur ein bedingungsloses „Ja“, ohne ein ergänzendes „aber“, war sie imstande, auszustoßen. Ihr „Ja“ klang wie eine Kapitulation, kurz, leise, ohne Satzzeichen, weder davor noch dahinter. Der Arzt drückte ihr Rezepte und eine Überweisung zu einem Kollegen in die Hand und verabschiedete sich.
Nachdem sie bei einem Apotheker unter Zuzahlung die Medikamente erhielt, stieg sie in einen Bus, der sie nach Hause in die Mietwohnung eines fünfstöckigen Hauses fuhr. Auf der Heimfahrt blickte sie durch die trüben Busfenster und sah Bäume. Sie waren schamlos grün. Während das Sonnenlicht auf den Blättern spielte, schien sie für einen Augenblick mit dem Grün der Bäume versöhnt zu sein, vergaß die Not in ihrem Leben und empfand nicht mehr das Fallgesetz ihres Daseins, bis im nächsten Augenblick die dunklen Schattierungen auf den Röntgenbildern vor ihren Augen erschienen, begleitet von den Worten des Arztes: „Sehen Sie, diese Stelle, dort ist es.“ Dort, am Zungenende, im Hals, dort ist das Geschwür, das sie von Innen zerfrisst, ohne zu wissen, wer oder was es ihr in den Hals gesteckt hat. Einer muss es ihr doch in den Hals gesteckt haben, irgendwer, vielleicht nachts, vielleicht am Tag, auf der Arbeit oder im Schlaf, der sie auf den nächsten Arbeitstag vorbereitete. Vielleicht wohnte Gott an dieser Stelle. Oder vielleicht war das Leben der Täter, der es ihr seit ihrem achtzehnten Lebensjahr, als sie aus Danzig nach Deutschland gekommen war, in den Hals steckte. Erst mit einem Mob in Büroräumen, dann in weißer Kleidung mit sterbenden, verlassenen Körpern im Altenheim. Oder waren es die ständigen Nebeneinkünfte durch private Kinderbetreuung, mit der sie den Achtstundentag ergänzen musste, um mit ihrem Mann auch mal in den Süden reisen zu können, wo das Meer das Salz der Erde über die Weltenenden schüttet. Dann blickte sie wieder auf die Bäume, wie sie schamlos grünten, und bemerkte, dass die Versöhnung, die sich in ihr angekündigt hatte, eine falsche war, eine Hinnahme ohne eigenes Zutun, eine Folter ohne Widerstand, ein kampfloses Ergeben. Wut stieg in ihren Bauch und stemmte sich im Hals wie ein Wall gegen das Geschwür.
Zuhause aß sie mit ihrem Mann Pawel zu Abend, der nach wie vor gebrochenes Deutsch sprach. Er arbeitete auf dem Bau, seit er nach Deutschland gekommen war. Zwar oft den Lohngeber wechselnd, aber stets auf dem Bau. Entsprechend war er breitschultrig, hatte steinerne Unterarme, doch zugleich hatte sich mit den Jahren auch ein Fettgürtel um den Bauch gespannt und auf dem Kopf war sein rostbraunes Haar lichtdurchflutet. Beide kannten sich schon das ganze Leben, waren aus demselben Dorf im Umland der Hafenstadt Danzig, gingen gemeinsam in die Schule und heirateten, als Bogumila achtzehn und Pawel dreiundzwanzig war. Nur er nannte sie nicht beim richtigen Namen, sondern sagte kurz „Mila“, was ihm besser gefiel. Nach dem Mauerfall lockte sie ein großes Versprechen in den Westen, auf dessen Einlösung sie bis heute warten, obwohl sie den Wortlaut des Versprechens schon in den ersten Jahren vergessen hatten. Sie hatten zwei Söhne, ein drittes Kind konnten sie sich nicht leisten. Der Ältere kam schon in Polen auf die Welt und arbeitete inzwischen bei einer Versicherungsgesellschaft in einer anderen Stadt. Er hatte eine Freundin, eine Lehrerin, und alle warteten auf die Hochzeit und das erste Kind. Der Jüngere kam in Deutschland auf die Welt, hatte nach der Schule eine Ausbildung als Tischler gemacht, einige Jahre gearbeitet und einige in der Arbeitslosigkeit verloren.
Bis auf das Übliche hatten Bogumila und Pawel an diesem Abend kein Wort miteinander gewechselt. Nur einmal bemerkte Pawel eine tränenlose Trauer auf den Lidern seiner Frau. Instinktiv fragte er, ob alles in Ordnung sei. Bogumila nickte ebenso instinktiv, obwohl Unruhe augenblicklich in ihr Gehirn schnellte, und beide starrten wieder den Fernseher an. Pawel wirkte, als wäre dies seine Art Joga, womit er im Geist die Wunden leckte, die ihm die schweren Geräte, das Zement und die Befehle des Bauherrn tagsüber zugefügt hatten. In den Abenden vergangener Tage, Wochen, Monate fühlte sich auch Bogumila oft so, auch wenn manchmal der Trost glücklicher Tage und Nächte beide überraschte und für Heiterkeit und Freude sorgte. An diesem Abend war allerdings weder das eine noch das andere der Fall. Ihre Gedanken waren hinter Gitterstäben gefangen, die sich mit den Röntgenbildern um sie gelegt hatten.
Irgendwann, nachdem die Körper der Beiden eingesehen hatten, dass sie vorerst nicht mehr von einer fremden Macht verbraucht werden würden, legten sie sich ins Bett. Sie kamen zur Ruhe. Ein letztes Mal streckte einer der Gedanken von Bogumila einen Arm aus den Gitterstäben, im Versuch, nach Pawel zu greifen, um ihm zu sagen, dass er sie von nun an ganz fest halten müsse, ohne loszulassen, ganz fest halten. Doch als sie sah, dass Pawel, weniger aus Unachtsamkeit als vielmehr aus Erschöpfung, bereits eingedeckt sein Gesicht in das Kissen grub, gab sie den Gedanken auf. Sie wusste, dass er für sie da war, dass er sie liebte. Ebenso wusste sie, dass sie für ihn da war, dass sie ihn liebte. Doch wusste sie auch, dass Liebe Kraft brauchte, wie Muskeln Nahrung brauchen und wie Denken Mangellosigkeit und Wohlstand braucht. Diese Kraft hatte in diesem Moment weder sie noch Pawel. Vielmehr blitzte der Gedanke in ihr auf, während sie die stoppelige, gerötete Wange von Pawel ansah, dass sie schon lange nicht mehr die Wärme seines Körpers auf ihrer Haut und die Härte seines Glieds in ihrem Körper gespürt hatte. Sie wollte mit ihm schlafen, aber nicht heute, sondern vielleicht morgen oder übermorgen oder irgendwann. Jedenfalls kitzelte eine Lust an ihren Leisten, die ihr zeigte, dass sie noch lebte. Sie knipste das Licht auf ihrer Kommode neben dem Bett aus und schloss die Augen.
Kurz spukte der Gedanke durch ihren Kopf, ob diese Lust, mochte sie auch gering sein, durch die Therapie ausgelöscht werde, da sie womöglich ihre Geschmacksnerven verlieren werde, wie der Arzt sagte. Wird sie dann auch ihren Geschmack, ihre Lust am Leben verlieren? Und plötzlich stürzte diese Angst in das Gedächtnisbild von den ausgetrockneten, zerbeulten Brüsten von Frau Frank. Am nächsten Morgen knüpften Bogumilas Gedanken hier an und setzten sich an diesem Strang zu einer Kette fort, nur wusste sie nicht, ob sie darüber vor dem Einschlafen nachgedacht hatte oder ob es sich bereits um Traumbilder handelte, die die Wellen ihres Unbewussten über Nacht in ihr Bewusstsein gespült hatten.
Mit diesem Rätsel, das sie unmöglich lösen konnte, ging sie zur Arbeit. Die Geschäftsleitung schien keinen Verdacht wegen der Abrede zwischen ihr und ihrem jungen Kollegen zu hegen, vorerst. Sie wechselte ihre Jeans und ihr grünes Shirt gegen ein weißes Hemd, eine weiße Hose und weiße Schuhe. Später ging sie zu der Station, wo Frau Frank lag, wie immer zur Mittagszeit, wenn sie Frühdienst hatte. Diesmal zog sie irgendetwas zu ihr, zu Frau Frank, irgendetwas, was nichts mit ihrem Beruf als Pflegerin zu tun hatte. Bogumila verteilte das Mittagessen im Esszimmer an die Bewohner, fragte einige, ob sie noch was wünschten und stellte dann die viergeteilte Scheibe Vollkornbrot, butterbeschmiert, und eine Tasse Tee auf den kleinen Wagen. Erst klopfte sie an, um ihr Eintreten anzukündigen, dann öffnete sie langsam die Tür. Wie gewohnt pustete ihr der Tod seinen Atem ins Gesicht.
„Das Mittagessen ist da“, rief Bogumila und stellte den Wagen neben das Bett, um die beige Gardine beiseitezuschieben und das Fenster zu öffnen. Frau Frank lag wieder mitten im Streifen des Sonnenlichts, das sie eindeckte. Die Helle ihrer blauen Augen war auf die Wolken gerichtet.
„Wie geht es Ihnen?“, sprach Bogumila. Frau Frank antwortete nicht. Bogumila dachte, dass sie zu leise gesprochen hatte, und wiederholte lauter: „Wie geht es Ihnen?“
Frau Frank reagierte nicht.
Erst dann fiel Bogumila auf, dass die alte Frau nicht wie üblich gemurmelt oder geseufzt hatte, als sie das Zimmer betreten hatte. Sie näherte sich ihr, setzte sich neben sie auf das Bett und suchte an Hals und Handgelenk einen Pulsschlag, vergeblich. Dann blickte sie lange in die hellblauen Augen, die Bogumila an den Himmel über der Ostsee erinnerten, deren beider Blau am Horizont zusammenschmolz. Es schien, dass der Blick, der an den offenstehenden Augen von Frau Frank haftete, denselben Himmel sah, den sich Bogumila vorstellte. Nun schloss Bogumila die Augen von Frau Frank und dachte dabei an die Worte des Arztes: „Jeder Mensch wird sterben.“
Als das Zimmer, das Frau Frank bewohnt hatte, in den folgenden Tagen geräumt und jede Spur ihrer Existenz aus dem Zimmer radiert wurde, als niemand außer die Kollegen auf der Station von ihrem Tod etwas vernommen hatten, da niemand kam, um ihr die letzte Ehre zu erweisen, da spürte Bogumila die totale Anwesenheit des Todes, der sich mit totaler Leere zeigt. Das machte Bogumila Angst. Noch immer hatte sie Pawel nichts von dem Geschwür in ihrem Hals gesagt. Auch wussten ihre Söhne noch nichts davon, auch nicht der Jüngere, dem gegenüber sich Bogumila freier öffnen konnte, ohne zu wissen warum. Sie spürte eine Hand um ihren Hals, vielleicht wegen der Dicke der angeschwollenen Lymphknoten, als würde der Tod sie erwürgen wollen. Während sie sich räusperte und hustend nach Luft schnappte, zog ein Bilderstrom von der Mühseligkeit ihres Lebens vor ihren Augen vorbei. Dabei fiel sie auf die Knie und wollte sich vom Würgegriff befreien. War Frau Frank wirklich in Ausschwitz gewesen, schoss es plötzlich durch ihren Kopf.
In diesem Moment entdeckte sie ein Kollege und brachte ihr ein Glas Wasser, das sie rasch austrank. Ihr Hals beruhigte sich und sie richtete sich wieder auf. Die Kollegen fragten, ob sie nicht nach Hause oder zum Arzt gehen wolle. Nein, antwortete sie, da sie ahnte, dass Zuhause die Leere und beim Arzt die Macht auf sie wartete. Eine Kampflust, scheu und ganz zaghaft, zuckte durch ihre Glieder. Etwas hatte sich verändert, auch wenn alles gleichgeblieben war. Es gab für Bogumila keinen Alltag mehr. Es hatte nie einen Alltag gegeben.
Pünktlich zum Beginn des Spätdienstes verließ sie ihren Arbeitsplatz.
Mesut Bayraktar, geb. 1990 in Wuppertal, gründete »nous – konfrontative Literatur« 2013 gemeinsam mit Kamil Tybel. Er hat Rechtswissenschaften und Philosophie in Düsseldorf, Lausanne, Köln und Stuttgart studiert. Er ist Autor der Romane »Briefe aus Istanbul« (Dialog-Edition, 2018), »Wunsch der Verwüstlichen« (Autumnus Verlag, 2021) und »Aydin – Erinnerung an ein verweigertes Leben« (Unrast Verlag, 2021) sowie eines Buchs über G.W.F. Hegel mit dem Titel »Der Pöbel und die Freiheit« (Papyrossa Verlag, 2021). Auch erschien sein Theaterstück »Die Belagerten« als Buch (Dialog-Edition, 2018), das 2020 in türkischer Übersetzung mit dem Titel »Kuşatılmışlar« durch Tayfun Demir veröffentlicht wurde. 2019 hat er vom Theater tri-bühne seinen ersten Stückauftrag zum Thema Gerda Taro und der spanische Bürgerkrieg erhalten. Der Text wurde fertiggestellt, die Uraufführung Anfang 2020 fiel jedoch aufgrund der Corona-Pandemie aus. Im Rahmen des Projekts »Fehlt Ihnen / Dir Schiller« des Deutschen Literaturarchivs Marbach im Sommer 2021 wurde er als Stipendiat durch den Projektpaten Burkhard C. Kosminski (Intendant des Staatstheaters Stuttgart Schauspiel) ausgewählt. Sein Theaterstück »Gastarbeiter-Monologe« wurde als Szenische Einrichtung (Michael Weber) am 25. November 2021 am Deutschen SchauSpielHaus Hamburg uraufgeführt. Aufführungen in Hanau, Berlin, Bochum, Köln u.a. folgen. Er ist Stipendiat der Kunststiftung Baden-Württemberg in der Sparte Literatur 2019.