Julia

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© Alex­an­der Kri­vits­kiy über pexels.com

„Die Augen, die Augen sind das Wich­tigs­te bei der gan­zen Geschich­te, die Augen wer­fen das Licht in die See­le,“ sag­te mein Maler und kam mir fast uner­träg­lich nahe. Im gan­zen Raum roch es nach die­ser Far­be, erfri­schend, auf­dring­lich, trä­nen­pro­du­zie­rend. Er hat­te ein Ver­grö­ße­rungs­glas auf sei­ne Bril­le gesetzt. Von Geburt an hat­te ich blaue Augen, nein nicht hell­blau, oder grau­blau, es war eher ein Veil­chen­blau, mit iri­sie­ren­den Ein­spren­ke­lun­gen. Hier ein klei­ner Strich, oder sagen wir Sprit­zer ins Rosa­far­be­ne, dort einer ins Lila, und schließ­lich, damit das Gan­ze nicht zu süß wirkt, eini­ge ins Fla­schen­grü­ne, Rus­sisch­grü­ne und sogar ein ein­zi­ger ins Mai­en­grün. Er sah immer wie­der mei­ne Pupil­len an, trug Far­be mit einem Ein­haar­pin­sel auf die Glas­lin­se, um dann wie­der mei­ne Iris anzu­se­hen. Das Gan­ze dau­er­te. Aber schließ­lich habe ich mich dazu ent­schlos­sen. Da muss­te ich durch. Nach einer gefühl­ten Ewig­keit atme­te er tief und trat einen Schritt zurück, betrach­te­te mich, mei­ne Augen und ver­glich mit der Lin­se. „Ja, ich den­ke, ich habe nicht nur die Iris gemalt, son­dern die See­le mit abge­bil­det. Wie gefällt es Ihnen?“  Er hielt mir sein Werk vor die Nase. Ich sah in mei­ne Pupil­len, sie lock­ten mich ein­zu­tau­chen, hin­ab­zu­sin­ken, das Geheim­nis zu ergrün­den. Der dunk­le, schwarz­glän­zen­de Fleck zog mich an, gab mir ein Ver­spre­chen. Lie­be­voll betrach­te­te ich die­se Stel­le, kon­zen­trier­te mich auf den Mit­tel­punkt. Ich sah das Feu­er, es brann­te, zuerst klein, wur­de grö­ßer, brann­te dann lich­ter­loh. Ver­stört sah ich weg und sah ob der Blen­dung nur noch weiß. Ich schloss die Augen, ver­such­te mich zu beru­hi­gen, träum­te mich weg. Es war gelun­gen. „Ich wer­de die Male­rei heu­te noch in der Manu­fak­tur abge­ben.“ „Gut, mor­gen kommt der Perückenmacher.“

 

Am nächs­ten Tag, so um die Mit­tags­zeit, war mein Zim­mer voll Roh­haar­ma­te­ri­al. Die Far­ben reich­ten von dun­kel­asch­blond über hell­braun und reh­braun bis Maha­go­ni und es waren auch eini­ge kup­fer­far­be­ne Sträh­nen dabei. Der Perü­cken­ma­cher woll­te mein Haar so iden­tisch als nur mög­lich nach­bil­den, also saß er am Kopf­en­de mei­nes Bet­tes und kämm­te mein Haar, so dass es sich wie ein Was­ser­fall über die Bett­kan­te ergoss. Er fer­tig­te nun eine Zeich­nung an, auf der der exak­te Ursprung der ein­zel­nen far­bi­gen Sträh­nen ver­zeich­net war. Am Nach­mit­tag woll­te er in sei­nem Ate­lier dann die Perü­cke knüp­fen. Ich soll­te die­se nicht nur betrach­ten, son­dern auch beur­tei­len. Ich frag­te nach etwas hel­le­ren Sträh­nen, blond war schon immer mein Favo­rit gewe­sen. Der Meis­ter der Haa­re gab zu beden­ken, dass die Men­schen dann mer­ken wür­den, dass eine Kopie von mir unter­wegs sei. Also gut, dach­te ich bei mir, so schlecht sehen mei­ne Haa­re gar nicht aus. Sie soll­ten aber bis zur Tail­le gehen, so soll­te es schon sein. Das ent­sprach mei­nem Selbst­ver­ständ­nis als Frau.

 

Am nächs­ten Tag kam der Ver­mes­ser. Ich muss­te mich mei­ner Klei­dung ent­le­di­gen, konn­te aber im Bett lie­gen blei­ben. Aus einem Kof­fer hol­te er den Kör­per­scan­ner, der aus­sah wie ein Rönt­gen­ge­rät auf klei­nen Rol­len.  Zuerst digi­ta­li­sier­te er mei­ne Vor­der­sei­te vom Kopf bis zu den Füßen, dann mei­ne Rück­sei­te. Mei­ne Assis­ten­tin half mir beim Wen­den. Die rech­te und lin­ke Sei­te war schon etwas schwie­ri­ger ein­zu­neh­men. Man brach­te mich zunächst in Posi­ti­on, und ver­such­te eine für mich sta­bi­le Lage zu fin­den. Links war es für mich ein­fa­cher, rechts muss­ten ein paar Anläu­fe unter­nom­men wer­den. Nach eini­ger Zeit war der Ver­mes­ser doch recht zufrie­den. Nor­ma­ler­wei­se müss­ten eigent­lich noch Auf­nah­men in Bewe­gung gemacht wer­den, aber das ent­fiel. „Das muss dann inter­po­liert wer­den“, sag­te der Mann. Zufrie­den ver­schwand er.

 

Am nächs­ten Tag kam die Mas­ken­bild­ne­rin. Sie mach­te Auf­nah­men vom Gesicht, den Wan­gen, von Augen­brau­en und Wim­pern, vom Hals, der Brust, vom Bauch, Rücken und von den Bei­nen. Dann leg­te sie mir unter­schied­li­che Mus­ter vor. Da gab es ganz ein­fa­che, nur aus einer Lage Kunst­stoff, die sich aber nicht so gut anfühl­ten, fast etwas kalt und gum­mi­ar­tig. Bei der nächs­ten Qua­li­täts­stu­fe war dann ein Glas­fa­ser­ge­we­be ein­ge­ar­bei­tet. Das mach­te sich gut in der Optik, die Hap­tik ließ aber noch zu wün­schen übrig. Nach wei­te­ren Mus­tern, die sich auf­grund von unter­schied­li­chen Schich­ten im Aus­se­hen und im Griff unter­schie­den, zeig­te sie mir das Pre­mi­um­mo­dell. Sie war ganz außer sich vor Freu­de, und mein­te, das sei das Haut­ähn­lichs­te, was es über­haupt für Geld zu kau­fen gebe. Es besteht aus einem Kern, ein Glas­fa­ser­ge­we­be, das einer Micro­fa­ser nach­ge­bil­det war, also zugleich längs- und que­r­e­las­tisch ist. Die­ser Kern ist dann mit einem nylon­ähn­li­chen Kunst­stoff umman­telt. Dar­auf gibt man meh­re­re Lagen sei­di­ges Tex­til, die sich nur durch die Anzahl der Fäden, längs und quer, pro Qua­drat­zen­ti­me­ter unter­schei­den. Die­se Schich­ten wur­den mit flüs­si­gem Wachs besprüht, dadurch kommt die bril­lan­te Optik zustan­de. Abschlie­ßend wur­de alles noch mit einem hoch­ver­netz­ten Kunst­stoff bestäubt. Die Ober­flä­che sah einer Pfir­sich­haut ähn­lich. Ein­fach geni­al, die­ses Gewe­be passt sich zudem jeder Bewe­gung an, wirft auch bei noch so extre­men Ver­ren­kun­gen garan­tiert kei­ne Fal­ten. Ent­wi­ckelt wur­de die­ses Mate­ri­al eigent­lich für Tän­zer und Sport­ler. Aber das hat natür­lich sei­nen Preis. Naja, Tän­zer und Tur­ner, das war ich ja eigent­lich über­haupt nicht, aber es sah unheim­lich gut aus, und es fühl­te sich noch bes­ser an. Damit konn­te die Täu­schung gelin­gen, genau, das soll­te es sein. Die Fra­ge nach der Kör­per­be­haa­rung war gleich gelöst. Die momen­ta­ne Mode sah so etwas nicht vor, also beließ ich es auch dabei. Man ver­sprach mir bald zu lie­fern, dann konn­te die Fein­jus­tie­rung vor­ge­nom­men werden.

 

Am nächs­ten Tag klin­gel­te früh am Mor­gen der Bote und stell­te das Werk ab. Mei­ne Assis­ten­tin hat­te ihre lie­be Mühe mit der Klei­dung. Ich schlug einen nor­ma­len Stu­den­ten­look vor, also Jeans, T‑Shirt und Pul­li. Sie aber hät­te der Pup­pe am liebs­ten eine gro­ße auf­wän­di­ge Ball­ro­be ange­zo­gen. Ich setz­te mich durch, wähl­te mei­ne hell­blaue zer­ris­se­ne Jeans, ein wei­ßes T‑Shirt und mei­nen über alles gelieb­ten mari­ne­blau­en Pul­li dazu. Die Ein­klei­dung erfolg­te, nun saß sie neben mir auf dem Bett, noch etwas unge­lenk, eher wie eine Schau­fens­ter­pup­pe. Danach emp­fing ich den Ton­künst­ler. Er hat­te schon ver­schie­de­ne Stim­men vor­be­rei­tet, ich woll­te eine ruhi­ge, war­me und wei­che, die auch die Dia­lekt­me­lo­die des Augs­bur­gi­schen wie­der­gab. Wir hör­ten uns ver­schie­de­ne Bei­spie­le an, die drit­te Stim­me ent­sprach am ehes­ten mei­nen Vor­stel­lun­gen, sie wur­de dann auf­ge­spielt. Ich woll­te, dass sie Hof­manns­thal vor­liest, und das war ein Erleb­nis. Die Stim­me hat­te ein sehr wei­ches Tim­bre, den­noch pro­non­cier­te sie sau­ber und deut­lich. Jetzt fiel mir auf, wie­viel der Iden­ti­tät einer Per­son von der Stim­me getra­gen wird. Die­se Stim­me war die mei­ne, sie gehör­te zu mir, sie pass­te sehr gut zu mei­ner Persönlichkeit.

 

Am nächs­ten Mor­gen kam der Bewe­gungs­leh­rer. „Wel­chen Gang wür­den Sie bevor­zu­gen? Im Ange­bot habe ich den jugend­li­chen, den schlak­si­gen, den anmu­ti­gen, den der Bal­lett­tän­zer.“ Er hob fra­gend die Augen­brau­en. Ich konn­te mir den Unter­schied zwi­schen dem anmu­ti­gen und dem der Bal­lett­tän­zer nicht vor­stel­len, des­halb zeig­te er mir einen kur­zen Clip. Also, der des Tän­zers war schon schön, aber für den All­tag etwas zu span­nungs­ge­la­den, eher anmu­tig, aber bit­te auch, in der Fein­jus­tie­rung mit einer doch merk­lich ele­gan­ten Note. Er kratz­te sich am Kopf, und sag­te, dass er nur Stan­dart­be­we­gungs­pro­gram­me hät­te, also ent­schied ich mich für den anmu­ti­gen. Jetzt war die gan­ze Soft­ware auf­ge­spielt, er über­prüf­te, ob es bei der Benut­zung von zwei oder meh­re­ren Funk­tio­nen gleich­zei­tig nicht zu einen Total­aus­fall kommt. Und tat­säch­lich, mein neu­er Kör­per konn­te nicht gleich­zei­tig lachen, auf einem Bein ste­hen und sich ver­beu­gen, da muss­te noch nach­ge­ar­bei­tet wer­den. Das dau­er­te aber nicht lan­ge. Danach zeig­te er mir auf mei­nem Lap­top wie ich ihr einen Auf­trag ertei­le. Nach ein paar Ver­su­chen hat­te ich es her­aus. Ich ließ sie auf­ste­hen, ‚Guten Tag‘ sagen, eine Pirou­et­te dre­hen und sich wie­der hin­setz­ten. Das klapp­te, bis auf die Pirou­et­te, ich hat­te ver­ges­sen, zu sagen, wie oft sie sich dre­hen soll­te. Die „Escape­tas­te“ unter­brach das Gan­ze. Müde schlief ich ein.

 

Mit den ers­ten Son­nen­strah­len am Mor­gen betrach­te­te ich sie. Da war ich also, ich gefiel mir, fast begann ich mich gern­zu­ha­ben. Eine eben­mä­ßi­ge Gestalt, wun­der­schö­ne lan­ge Haa­re, blaue Augen, eine Haut wie ein Pfir­sich und einen anmu­ti­gen Gang. Den gan­zen Tag ruh­te ich und träum­te von einem wun­der­schö­nen Leben, von Spa­zier­gän­gen am unweg­sa­men Fluss­ufer, von Thea­ter­be­su­chen, von Par­tys, und Muse­ums­be­su­chen und, und … .

 

Sie soll­te an den Lech fah­ren und spa­zie­ren gehen. Ein biss­chen auf­ge­regt war ich schon, denn alles, was sie jetzt sah, sprach oder fühl­te, wur­de auf mei­nen Lap­top über­tra­gen. Ich sah, wie sie die Trep­pe zum Erd­ge­schoss hin­un­ter­lief, sie benö­tig­te ja kei­nen Auf­zug mehr, sah, wie sie ins Auto ein­stieg, den Zünd­schlüs­sel dreh­te, spür­te, wie sie Gas gab und zum Hof hin­aus­fuhr. Kurz danach steu­er­te sie einen Park­platz an, stell­te das Auto ab, und lief zum Lech hin­un­ter. Ich sah die wun­der­schö­ne Land­schaft, hör­te die Vögel sin­gen, roch das fri­sche Grün. Ich tauch­te ein in die­sen Raum, sog die Bil­der auf wie ein Schwamm, wie ein Ver­durs­ten­der das Was­ser, spür­te, wie mich das Leben erreich­te, spür­te bis in die kleins­ten Zel­len eine Leben­dig­keit. Über­wäl­tig schloss ich die Augen.

 

Als ich sie wie­der öff­ne­te, krab­bel­te mir etwas die Füße hoch, das fühl­te sich fremd, etwas kit­ze­lig und aber auch unan­ge­nehm an. Ich hat­te nur den Him­mel über mir, fri­sches Gras um mich her­um. Die Son­ne wärm­te mich. Mir war ein­fach wohl. Ja, das muss­te wohl das Leben sein, das Ver­schmel­zen mit den Ele­men­ten, das sich Hin­ge­ben an die Natur, das Auf­lö­sen in Raum und Zeit.

 

Die Vögel zwit­scher­ten noch immer, aber die Bett­de­cke, mit der ich zuge­deckt war, hol­te mich ab. Ich gab den Befehl zum Auf­ste­hen und wie­der heim­fah­ren. Was dann auch geschah. Der Zünd­schlüs­sel wur­de umge­dreht, die Tür des Autos zuge­schla­gen, die Trep­pen hoch, zu mir ins Zim­mer her­ein. Sie setz­te sich auf einen eigens für sie bereit­ge­stell­ten Stuhl am Tisch, und begab sich in Ruhe­po­si­ti­on.  Eigent­lich könn­te ich ihr einen Namen geben, nein nicht „Vero­ni­ka 2“ oder so etwas tech­ni­sches, viel­leicht einen lite­ra­ri­schen Namen. Da fiel mir zuerst „Olim­pia“ ein, ja das wäre ein guter Name, der hat Stil. Der Sand­mann hat­te mir schon immer gefal­len, ich las ihn ger­ne aber nicht all­zu oft, da die Geschich­te sich mei­ner bemäch­ti­gen konn­te. Sie konn­te mich okku­pie­ren und in eine zei­ten­lo­se Zwi­schen­welt drän­gen. Die Befrei­ung aus der sel­bi­gen war sehr mühe­voll. Des­halb ent­schied ich mich für „Julia“, auch lite­ra­risch, aber nicht so bemächtigend.

 

Blei­ern erwach­te ich aus mei­nem Schlaf, ich muss­te mich sehr dar­auf kon­zen­trie­ren, wel­cher Tag denn heu­te wäre. Wel­cher Tag ges­tern war und was ich da gemacht hat­te. Ja genau, Julia saß in auf­rech­ter und etwas ange­spann­ter Hal­tung auf dem Stuhl am Tisch. Ihre Augen blick­ten ins Nichts. Lei­se rief ich „Julia“, sie dreh­te leicht den Kopf zu mir her. Aber das konn­te doch gar nicht sein, sicher­lich nur eine Ein­bil­dung, eine tech­ni­sche Unge­nau­ig­keit. Ich über­leg­te mir, wo ich sie heu­te hin­schi­cken konn­te, wir waren ja noch in der Test­pha­se. Viel­leicht Ein­kau­fen, das wäre doch rich­tig inter­es­sant. Dazu muss­te sie umge­klei­det wer­den. Mei­ne Assis­ten­tin schlug eine ele­gan­te dun­kel­blaue Hose, einen wei­ßen Baum­woll­pul­li mit Retro­st­rei­fen und wei­ße Snea­k­ers vor, dazu eine wei­ße Segel­tuch­ta­sche. Pri­ma. Ich gab den Befehl zum Los­fah­ren. Sie ver­ab­schie­de­te sich von mir, wink­te mir zu, ging die Trep­pen hin­un­ter, der Gang war federnd, setz­te sich ins Auto, und fuhr in die Stadt. Gott sei Dank war die Pro­gram­mie­rung bereits so weit fort­ge­schrit­ten, dass sie sich selbst­stän­dig mit Hil­fe ihrer Algo­rith­men einen Park­platz such­te. Ich schrieb den Namen des Geschäf­tes in den Lap­top und schon wand­te sie ihre Schrit­te dorthin.

Erd­ge­schoss – Desi­gner­klei­dung, naja, das ist mir zu teu­er, 1. Stock Damen­oberb­lei­dung, genau, ich lenk­te ihre Schrit­te zu den Klei­dern. Ich woll­te schon längst ein wei­ßes Kleid aus Chif­fon, mehr­la­gig, roman­tisch, aber bloß kei­ne Rüschen, viel­leicht halb­lang, wei­ter Rock. Julia ging durch die Ron­del­le mit unzäh­li­gen Klei­dern, schließ­lich wur­de sie von einer Ver­käu­fe­rin angesprochen.

„Darf ich Ihnen behilf­lich sein?“

„Ja, ger­ne, ich bin auf der Suche nach, …“ und nun äußer­te ich mei­nen Wunsch.

„Ja, das zei­ge ich Ihnen ger­ne, obwohl in die­sem Som­mer die Aus­wahl etwas ein­ge­schränkt ist, da die Roman­tik bei vie­len ver­lo­ren gegan­gen scheint. Hier sehen Sie, die­se drei habe ich zur Auswahl.“

Sie befühl­te das ers­te. Mei­ne Sen­so­ren mel­de­ten einen doch sehr schwe­ren Stoff, Julia zog die Augen­brau­en hoch. Nun ja, das ist schwe­re Natur­sei­de in einem spe­zi­el­len Web­ver­fah­ren gear­bei­tet. Aber hier das zwei­te. Ja das gefiel mir schon besser.

„Das pro­bie­re ich an.“

Und das drit­te, das war der Traum schlecht­hin, aus gebro­chen wei­ßem Chif­fon, mehr­la­gig, der Rock, wie das Ober­teil in klei­ne Fält­chen gelegt, an den Armen Bän­der aus Satin, die an eine grie­chi­sche Göt­tin erin­nern. Julia schlüpf­te als ers­tes in die­ses. Es fühl­te sich phan­tas­tisch an, das Gewe­be umschmei­chel­te die Bei­ne, kühl­te den Rücken und pass­te ganz aus­ge­zeich­net, sie stell­te sich vor den Spie­gel. Ein­fach klas­sisch, etwas roman­tisch, ein Traum. Ich ent­schied mich für die­ses Kleid, die Ver­käu­fe­rin pack­te es in Sei­den­pa­pier ein, Julia ging zur Kas­se und bezahl­te mit mei­ner Kar­te. „Schu­he?“ „Nein, dan­ke.“ Ich hat­te Bal­le­ri­nas in Puder­ro­sa, die müss­ten wirk­lich gut dazu aussehen.

Zuhau­se ange­kom­men pack­te Julia das Kleid aus und ließ es mich befüh­len. Ein­fach sagen­haft, was die moder­ne Sen­so­rik heu­te kann. Es fühl­te sich auf mei­ner Haut genau­so an, wie elek­tro­nisch gemel­det. Ich sag­te zu ihr, dass das heu­te wirk­lich gut gelau­fen wäre und sie sich jetzt zurück­zie­hen dür­fe. Sie setz­te sich auf den Stuhl neben dem Tisch, in auf­rech­ter, aber ange­spann­ter Haltung.

 

Nach dem Abend­essen zog sie die Bal­le­ri­nas an, schlüpf­te in das Kleid, bürs­te­te sich die zer­zaus­ten Haa­re, nahm die Hand­ta­sche vom Nacht­tisch und sag­te: „Wenn du nichts dage­gen hast, ich wür­de ger­ne heu­te ausgehen.“

„Ja, aber dann musst Du mir mei­nen Lap­top geben.“

Das tat sie, ging zum Auto, dreh­te den Zünd­schlüs­sel um und fuhr in die Stadt. Hel­le Lich­ter über­all, und so vie­le Men­schen. Sie fla­nier­te die Max­stras­se hin­auf bis zum Ulrich, ich wäre ger­ne hin­ein­ge­gan­gen, aber sie dreh­te sich vor dem Por­tal um, ging zurück, setz­te sich in ein Stra­ßen­ca­fé und bestell­te sich einen Hugo, den trank ich wirk­lich ger­ne. Ihre Bli­cke schweif­ten umher, auch sie wur­de gese­hen. Nicht nur gese­hen, ange­schaut, gemus­tert von oben bis unten. Die­se Erfah­rung war neu für mich, mich sieht sehr sel­ten jemand an, man könn­te eher sagen, ich wer­de durchs Weg­schau­en wahr­ge­nom­men. Sie leg­te einen Schein in die Unter­tas­se und stand auf und ging wei­ter in Rich­tung Dom.

Leicht­fü­ßig lief sie die Trep­pen zum Per­lach hin­auf, um dann dort oben den Aus­blick zu genie­ßen. Ach, es war herr­lich, die Stadt aus sol­cher Höhe zu betrach­ten, die Son­ne war schon unter­ge­gan­gen, der Lichterschein der Later­nen erleuch­te­te den Him­mel, von den Ster­nen war nichts zu sehen.

Ich war so ermü­det, dass ich schon schlief, als sie nach Hau­se kam, sich aus­zog und auf den Stuhl neben dem Tisch setz­te. Sie dreh­te den Kopf leicht zu mir her­über, und, was war das? Das konn­te eigent­lich nur eine Täu­schung sein, ein Trug­bild, eine Fata Mor­ga­na. Ich sah in ihre Augen, die­se began­nen zu leuch­ten, die Pupil­len loder­ten, glüh­ten, der Feu­er­schein erhell­te den Raum. Aber das konn­te doch gar nicht sein, ver­wirrt dreh­te ich mei­nen Kopf zur Sei­te und zwang ich einzuschlafen.

In der Frü­he saß sie noch so da, aber sie zit­ter­te am gan­zen Kör­per. Ja natür­lich, mich wür­de es auch frie­ren, die gan­ze Nacht nur in der Unter­wä­sche am Tisch sit­zend. Wir müs­sen sie unbe­dingt anklei­den. Am bes­ten mit einem kusche­li­gen Mor­gen­man­tel, und natür­lich Fellschuhen.

Heu­te, ja was soll sie denn heu­te erle­ben? Am bes­ten, sie trä­fe sich mit ein paar weit­läu­fi­ge­ren Bekann­ten, Kom­mi­li­to­nen aus den frü­he­ren Semes­tern. Also rein in die Uni­kla­mot­ten, Lap­top zurecht­ge­legt, Trep­pen run­ter, rein ins Auto, Zün­dung, Fah­ren, an der Uni ankom­men, rein in den Hör­saal. May­er liest gera­de Kaf­ka, das passt, hier ken­ne ich mich ein biss­chen aus. Ich setz­te mich in die letz­te Rei­he, links außen, schlug mei­nen Block auf und ver­such­te stich­wort­ar­tig mit­zu­schrei­ben. Mir fiel der Stift aus der Hand, dem Vor­der­mann in den Rücken. Er dreh­te sich um.

„Mensch Vro­ni, groß­ar­tig dich so zu sehen. Dir geht es gut? Das ist ja pri­ma, tref­fen wir uns danach?“

Sei­ne Stim­me vari­ier­te von zunächst ärger­lich, dann über­rascht und schließ­lich sehr ver­traut. „Ja, gerne.“

Er gab mir den Stift und dreh­te sich wie­der um. Ich wur­de ganz rot im Gesicht. Ja, dass wäre wirk­lich nett, sich mit Tho­mas zu tref­fen. Eigent­lich habe ich ihn schon län­ger unter Beob­ach­tung, aber ob ich wohl schon so weit wäre? Naja, ein paar Sät­ze konn­ten nicht scha­den, ich wür­de dann Arbeit vor­schie­ben, das macht sich immer gut, flei­ßig und inter­es­siert, die­se Aus­re­de wur­de ein­fach akzeptiert.

May­er ende­te mit der Ansa­ge wel­che Leis­tung er für wie vie­le Punk­te erwar­te­te, naja, einen Essay für 3 Punk­te das lie­ße sich wohl machen.

„Hal­lo Vro­ni, lan­ge nicht gese­hen, Du siehst gut aus, wie geht es Dir?“

„Hey Tho­mas, das glei­che woll­te ich auch gera­de sagen, aber dan­ke der Nach­fra­ge, mir geht es rich­tig gut, habe mich erholt. Ich ste­cke gera­de mit­ten in der Magis­ter­ar­beit, und Du?“

„Ja, bei mir ist es ähn­lich, bloß dass ich noch ein paar Schei­ne brau­che, das The­ma zur Mas­ter­ar­beit habe ich bereits. Wor­über willst Du schreiben.“

„Ja ich über­le­ge, ob ich über Han­nah Are­ndt schrei­be, und ihre Rezep­ti­on in der Lite­ra­tur. Und Du?“

„Ja, ich möch­te ger­ne den Exil­be­griff neu defi­nie­ren, und über Oskar Maria Graf und sei­nen Ame­ri­ka­ro­man arbeiten.“ 

„Hast Du Zeit für einen Kaffee?“

„Also, lie­ber wür­de ich mich in die Bib set­zen. Aber viel­leicht hast Du ja heu­te Abend Zeit? Ich möch­te ger­ne in der Max­stra­ße spa­zie­ren gehen, viel­leicht da etwas trin­ken und den Abend genießen.“

„Das ist eine gute Idee, sagen wir so um 20.00 Uhr?“

„Ja, ger­ne, am Brun­nen vor dem Perlach.“

 

Ich fuhr eine Stun­de vor der ver­ab­re­de­ten Zeit nach Augs­burg. Es sind genau 261 Stu­fen zum Aus­blick hoch. Die Son­ne schien mir mil­de ins Gesicht, das bun­te Trei­ben hör­te sich lus­tig an. Es war ein wun­der­schö­ner Tag, und ich glau­be, ich habe mich ver­liebt. Ja, Tho­mas ist mir schon frü­her auf­ge­fal­len, er sah aus wie, nein, nicht wie ein Held, kei­ne Leucht­fi­gur, ein­fach warm­her­zig, mensch­lich, ruhig, kein Live-Style-Jun­kie, kein Par­ty­gän­ger, eher etwas ruhig, beson­nen, man­che wür­den sagen, lang­sam. Ich aber glau­be, er zeich­net sich durch gründ­li­ches Nach­den­ken aus, das hat­te ich in eini­gen frü­he­ren Semi­na­ren bereits bemerkt.

Ja, und jetzt hat er mich end­lich gese­hen, mit mir gespro­chen, ich glau­be, dar­aus könn­te etwas wer­den. Eine Wär­me stieg von den Füßen aus, wan­der­te die Bei­ne hoch, ließ mein Herz höher­schla­gen und mei­nen Teint röter wer­den. Ich war selig, genau, ich war ver­liebt. Ich lehn­te an der Brüs­tung und genoss mein Leben in vol­len Zügen.

 

Tho­mas woll­te auch nicht zu spät kom­men, er beeil­te sich, hat­te sich sogar neu ange­zo­gen, nicht auf­fäl­lig, aber der Geburts­tags­pull­over und die dazu pas­sen­de Hose, zwar von Mama aus­ge­sucht, aber, sah gar nicht mal so schlecht aus. Er wäre fast der Ver­su­chung erle­gen, ein klei­nes Sträuß­chen Ver­giss­mein­nicht zu kau­fen, aber nein, das wäre wohl zu kitschig.

Er stieg am Königs­platz aus, um noch ein biss­chen in Bewe­gung zu kom­men. Viel­leicht hat­te sie Lust auf den Per­lach­turm zu stei­gen? Und viel­leicht wären sie die ein­zi­gen? Aber das wür­de sich ja zei­gen. Er spa­zier­te gera­de über den Rat­haus­platz, als er einen Auf­schrei und einen dump­fen Knall hör­te. Die Men­schen stie­ben aus­ein­an­der, nur um kurz dar­auf wie­der zusam­men­zu­kom­men. Sie bil­de­ten einen Kreis um das Mäd­chen, oder um die jun­ge Frau. Recht hübsch war sie anzu­se­hen, wie sie so da lang. Was die Men­schen beschäf­tig­te, noch län­ge­re Zeit, war, dass nir­gend­wo auch nur das kleins­te Sprit­zer­chen Blut zu sehen war. Die Augen waren weit auf­ge­ris­sen, sie blick­ten ins Nichts.

© Mark Michel

Vero­ni­ka Rai­la, 1992 in Augs­burg gebo­ren muss­te schon immer alles auf­schrei­ben, was sie zu sagen hat­te.  Nach einer ver­kürz­ten Gym­na­si­al­zeit fing sie an der Uni Augs­burg an, Neue­re deut­sche Lite­ra­tur­wis­sen­schaf­ten und katho­li­sche Theo­lo­gie zu stu­die­ren. Bald gab es auch ers­te Ver­öf­fent­li­chun­gen und Prei­se für ihr Schrei­ben (Medi­en­echo & Prei­se). Nach der Bache­lor­ar­beit wid­me­te sie sich voll und ganz ihrem auto­bio­gra­phi­schen Film „Das Sand­mäd­chen“, der Prei­se in der Kurz­ver­si­on und eini­ge in der Lang­ver­si­on (Sand­mäd­chen – Ein Doku­men­tar­film von Mark Michel und Vero­ni­ka Rai­la) erhielt. Danach kehr­te sie an die Uni zurück, um ihre Stu­di­en fort­zu­set­zen. Lite­ra­risch sind ihre Arbei­ten meist im phan­tas­ti­schen Rea­lis­mus anzu­sie­deln. Kaf­ka hat sie immer unglaub­lich inspi­riert, dane­ben Botho Strauß und die Lek­tü­re der mit­tel­al­ter­li­chen Hel­den­ge­schich­ten. Soll­te sie ein­mal nicht schrei­ben oder lesen, frönt sie dem Malen, dem Malen ihrer inne­ren Bilder.