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„Die Augen, die Augen sind das Wichtigste bei der ganzen Geschichte, die Augen werfen das Licht in die Seele,“ sagte mein Maler und kam mir fast unerträglich nahe. Im ganzen Raum roch es nach dieser Farbe, erfrischend, aufdringlich, tränenproduzierend. Er hatte ein Vergrößerungsglas auf seine Brille gesetzt. Von Geburt an hatte ich blaue Augen, nein nicht hellblau, oder graublau, es war eher ein Veilchenblau, mit irisierenden Einsprenkelungen. Hier ein kleiner Strich, oder sagen wir Spritzer ins Rosafarbene, dort einer ins Lila, und schließlich, damit das Ganze nicht zu süß wirkt, einige ins Flaschengrüne, Russischgrüne und sogar ein einziger ins Maiengrün. Er sah immer wieder meine Pupillen an, trug Farbe mit einem Einhaarpinsel auf die Glaslinse, um dann wieder meine Iris anzusehen. Das Ganze dauerte. Aber schließlich habe ich mich dazu entschlossen. Da musste ich durch. Nach einer gefühlten Ewigkeit atmete er tief und trat einen Schritt zurück, betrachtete mich, meine Augen und verglich mit der Linse. „Ja, ich denke, ich habe nicht nur die Iris gemalt, sondern die Seele mit abgebildet. Wie gefällt es Ihnen?“ Er hielt mir sein Werk vor die Nase. Ich sah in meine Pupillen, sie lockten mich einzutauchen, hinabzusinken, das Geheimnis zu ergründen. Der dunkle, schwarzglänzende Fleck zog mich an, gab mir ein Versprechen. Liebevoll betrachtete ich diese Stelle, konzentrierte mich auf den Mittelpunkt. Ich sah das Feuer, es brannte, zuerst klein, wurde größer, brannte dann lichterloh. Verstört sah ich weg und sah ob der Blendung nur noch weiß. Ich schloss die Augen, versuchte mich zu beruhigen, träumte mich weg. Es war gelungen. „Ich werde die Malerei heute noch in der Manufaktur abgeben.“ „Gut, morgen kommt der Perückenmacher.“
Am nächsten Tag, so um die Mittagszeit, war mein Zimmer voll Rohhaarmaterial. Die Farben reichten von dunkelaschblond über hellbraun und rehbraun bis Mahagoni und es waren auch einige kupferfarbene Strähnen dabei. Der Perückenmacher wollte mein Haar so identisch als nur möglich nachbilden, also saß er am Kopfende meines Bettes und kämmte mein Haar, so dass es sich wie ein Wasserfall über die Bettkante ergoss. Er fertigte nun eine Zeichnung an, auf der der exakte Ursprung der einzelnen farbigen Strähnen verzeichnet war. Am Nachmittag wollte er in seinem Atelier dann die Perücke knüpfen. Ich sollte diese nicht nur betrachten, sondern auch beurteilen. Ich fragte nach etwas helleren Strähnen, blond war schon immer mein Favorit gewesen. Der Meister der Haare gab zu bedenken, dass die Menschen dann merken würden, dass eine Kopie von mir unterwegs sei. Also gut, dachte ich bei mir, so schlecht sehen meine Haare gar nicht aus. Sie sollten aber bis zur Taille gehen, so sollte es schon sein. Das entsprach meinem Selbstverständnis als Frau.
Am nächsten Tag kam der Vermesser. Ich musste mich meiner Kleidung entledigen, konnte aber im Bett liegen bleiben. Aus einem Koffer holte er den Körperscanner, der aussah wie ein Röntgengerät auf kleinen Rollen. Zuerst digitalisierte er meine Vorderseite vom Kopf bis zu den Füßen, dann meine Rückseite. Meine Assistentin half mir beim Wenden. Die rechte und linke Seite war schon etwas schwieriger einzunehmen. Man brachte mich zunächst in Position, und versuchte eine für mich stabile Lage zu finden. Links war es für mich einfacher, rechts mussten ein paar Anläufe unternommen werden. Nach einiger Zeit war der Vermesser doch recht zufrieden. Normalerweise müssten eigentlich noch Aufnahmen in Bewegung gemacht werden, aber das entfiel. „Das muss dann interpoliert werden“, sagte der Mann. Zufrieden verschwand er.
Am nächsten Tag kam die Maskenbildnerin. Sie machte Aufnahmen vom Gesicht, den Wangen, von Augenbrauen und Wimpern, vom Hals, der Brust, vom Bauch, Rücken und von den Beinen. Dann legte sie mir unterschiedliche Muster vor. Da gab es ganz einfache, nur aus einer Lage Kunststoff, die sich aber nicht so gut anfühlten, fast etwas kalt und gummiartig. Bei der nächsten Qualitätsstufe war dann ein Glasfasergewebe eingearbeitet. Das machte sich gut in der Optik, die Haptik ließ aber noch zu wünschen übrig. Nach weiteren Mustern, die sich aufgrund von unterschiedlichen Schichten im Aussehen und im Griff unterschieden, zeigte sie mir das Premiummodell. Sie war ganz außer sich vor Freude, und meinte, das sei das Hautähnlichste, was es überhaupt für Geld zu kaufen gebe. Es besteht aus einem Kern, ein Glasfasergewebe, das einer Microfaser nachgebildet war, also zugleich längs- und querelastisch ist. Dieser Kern ist dann mit einem nylonähnlichen Kunststoff ummantelt. Darauf gibt man mehrere Lagen seidiges Textil, die sich nur durch die Anzahl der Fäden, längs und quer, pro Quadratzentimeter unterscheiden. Diese Schichten wurden mit flüssigem Wachs besprüht, dadurch kommt die brillante Optik zustande. Abschließend wurde alles noch mit einem hochvernetzten Kunststoff bestäubt. Die Oberfläche sah einer Pfirsichhaut ähnlich. Einfach genial, dieses Gewebe passt sich zudem jeder Bewegung an, wirft auch bei noch so extremen Verrenkungen garantiert keine Falten. Entwickelt wurde dieses Material eigentlich für Tänzer und Sportler. Aber das hat natürlich seinen Preis. Naja, Tänzer und Turner, das war ich ja eigentlich überhaupt nicht, aber es sah unheimlich gut aus, und es fühlte sich noch besser an. Damit konnte die Täuschung gelingen, genau, das sollte es sein. Die Frage nach der Körperbehaarung war gleich gelöst. Die momentane Mode sah so etwas nicht vor, also beließ ich es auch dabei. Man versprach mir bald zu liefern, dann konnte die Feinjustierung vorgenommen werden.
Am nächsten Tag klingelte früh am Morgen der Bote und stellte das Werk ab. Meine Assistentin hatte ihre liebe Mühe mit der Kleidung. Ich schlug einen normalen Studentenlook vor, also Jeans, T‑Shirt und Pulli. Sie aber hätte der Puppe am liebsten eine große aufwändige Ballrobe angezogen. Ich setzte mich durch, wählte meine hellblaue zerrissene Jeans, ein weißes T‑Shirt und meinen über alles geliebten marineblauen Pulli dazu. Die Einkleidung erfolgte, nun saß sie neben mir auf dem Bett, noch etwas ungelenk, eher wie eine Schaufensterpuppe. Danach empfing ich den Tonkünstler. Er hatte schon verschiedene Stimmen vorbereitet, ich wollte eine ruhige, warme und weiche, die auch die Dialektmelodie des Augsburgischen wiedergab. Wir hörten uns verschiedene Beispiele an, die dritte Stimme entsprach am ehesten meinen Vorstellungen, sie wurde dann aufgespielt. Ich wollte, dass sie Hofmannsthal vorliest, und das war ein Erlebnis. Die Stimme hatte ein sehr weiches Timbre, dennoch prononcierte sie sauber und deutlich. Jetzt fiel mir auf, wieviel der Identität einer Person von der Stimme getragen wird. Diese Stimme war die meine, sie gehörte zu mir, sie passte sehr gut zu meiner Persönlichkeit.
Am nächsten Morgen kam der Bewegungslehrer. „Welchen Gang würden Sie bevorzugen? Im Angebot habe ich den jugendlichen, den schlaksigen, den anmutigen, den der Balletttänzer.“ Er hob fragend die Augenbrauen. Ich konnte mir den Unterschied zwischen dem anmutigen und dem der Balletttänzer nicht vorstellen, deshalb zeigte er mir einen kurzen Clip. Also, der des Tänzers war schon schön, aber für den Alltag etwas zu spannungsgeladen, eher anmutig, aber bitte auch, in der Feinjustierung mit einer doch merklich eleganten Note. Er kratzte sich am Kopf, und sagte, dass er nur Standartbewegungsprogramme hätte, also entschied ich mich für den anmutigen. Jetzt war die ganze Software aufgespielt, er überprüfte, ob es bei der Benutzung von zwei oder mehreren Funktionen gleichzeitig nicht zu einen Totalausfall kommt. Und tatsächlich, mein neuer Körper konnte nicht gleichzeitig lachen, auf einem Bein stehen und sich verbeugen, da musste noch nachgearbeitet werden. Das dauerte aber nicht lange. Danach zeigte er mir auf meinem Laptop wie ich ihr einen Auftrag erteile. Nach ein paar Versuchen hatte ich es heraus. Ich ließ sie aufstehen, ‚Guten Tag‘ sagen, eine Pirouette drehen und sich wieder hinsetzten. Das klappte, bis auf die Pirouette, ich hatte vergessen, zu sagen, wie oft sie sich drehen sollte. Die „Escapetaste“ unterbrach das Ganze. Müde schlief ich ein.
Mit den ersten Sonnenstrahlen am Morgen betrachtete ich sie. Da war ich also, ich gefiel mir, fast begann ich mich gernzuhaben. Eine ebenmäßige Gestalt, wunderschöne lange Haare, blaue Augen, eine Haut wie ein Pfirsich und einen anmutigen Gang. Den ganzen Tag ruhte ich und träumte von einem wunderschönen Leben, von Spaziergängen am unwegsamen Flussufer, von Theaterbesuchen, von Partys, und Museumsbesuchen und, und … .
Sie sollte an den Lech fahren und spazieren gehen. Ein bisschen aufgeregt war ich schon, denn alles, was sie jetzt sah, sprach oder fühlte, wurde auf meinen Laptop übertragen. Ich sah, wie sie die Treppe zum Erdgeschoss hinunterlief, sie benötigte ja keinen Aufzug mehr, sah, wie sie ins Auto einstieg, den Zündschlüssel drehte, spürte, wie sie Gas gab und zum Hof hinausfuhr. Kurz danach steuerte sie einen Parkplatz an, stellte das Auto ab, und lief zum Lech hinunter. Ich sah die wunderschöne Landschaft, hörte die Vögel singen, roch das frische Grün. Ich tauchte ein in diesen Raum, sog die Bilder auf wie ein Schwamm, wie ein Verdurstender das Wasser, spürte, wie mich das Leben erreichte, spürte bis in die kleinsten Zellen eine Lebendigkeit. Überwältig schloss ich die Augen.
Als ich sie wieder öffnete, krabbelte mir etwas die Füße hoch, das fühlte sich fremd, etwas kitzelig und aber auch unangenehm an. Ich hatte nur den Himmel über mir, frisches Gras um mich herum. Die Sonne wärmte mich. Mir war einfach wohl. Ja, das musste wohl das Leben sein, das Verschmelzen mit den Elementen, das sich Hingeben an die Natur, das Auflösen in Raum und Zeit.
Die Vögel zwitscherten noch immer, aber die Bettdecke, mit der ich zugedeckt war, holte mich ab. Ich gab den Befehl zum Aufstehen und wieder heimfahren. Was dann auch geschah. Der Zündschlüssel wurde umgedreht, die Tür des Autos zugeschlagen, die Treppen hoch, zu mir ins Zimmer herein. Sie setzte sich auf einen eigens für sie bereitgestellten Stuhl am Tisch, und begab sich in Ruheposition. Eigentlich könnte ich ihr einen Namen geben, nein nicht „Veronika 2“ oder so etwas technisches, vielleicht einen literarischen Namen. Da fiel mir zuerst „Olimpia“ ein, ja das wäre ein guter Name, der hat Stil. Der Sandmann hatte mir schon immer gefallen, ich las ihn gerne aber nicht allzu oft, da die Geschichte sich meiner bemächtigen konnte. Sie konnte mich okkupieren und in eine zeitenlose Zwischenwelt drängen. Die Befreiung aus der selbigen war sehr mühevoll. Deshalb entschied ich mich für „Julia“, auch literarisch, aber nicht so bemächtigend.
Bleiern erwachte ich aus meinem Schlaf, ich musste mich sehr darauf konzentrieren, welcher Tag denn heute wäre. Welcher Tag gestern war und was ich da gemacht hatte. Ja genau, Julia saß in aufrechter und etwas angespannter Haltung auf dem Stuhl am Tisch. Ihre Augen blickten ins Nichts. Leise rief ich „Julia“, sie drehte leicht den Kopf zu mir her. Aber das konnte doch gar nicht sein, sicherlich nur eine Einbildung, eine technische Ungenauigkeit. Ich überlegte mir, wo ich sie heute hinschicken konnte, wir waren ja noch in der Testphase. Vielleicht Einkaufen, das wäre doch richtig interessant. Dazu musste sie umgekleidet werden. Meine Assistentin schlug eine elegante dunkelblaue Hose, einen weißen Baumwollpulli mit Retrostreifen und weiße Sneakers vor, dazu eine weiße Segeltuchtasche. Prima. Ich gab den Befehl zum Losfahren. Sie verabschiedete sich von mir, winkte mir zu, ging die Treppen hinunter, der Gang war federnd, setzte sich ins Auto, und fuhr in die Stadt. Gott sei Dank war die Programmierung bereits so weit fortgeschritten, dass sie sich selbstständig mit Hilfe ihrer Algorithmen einen Parkplatz suchte. Ich schrieb den Namen des Geschäftes in den Laptop und schon wandte sie ihre Schritte dorthin.
Erdgeschoss – Designerkleidung, naja, das ist mir zu teuer, 1. Stock Damenoberbleidung, genau, ich lenkte ihre Schritte zu den Kleidern. Ich wollte schon längst ein weißes Kleid aus Chiffon, mehrlagig, romantisch, aber bloß keine Rüschen, vielleicht halblang, weiter Rock. Julia ging durch die Rondelle mit unzähligen Kleidern, schließlich wurde sie von einer Verkäuferin angesprochen.
„Darf ich Ihnen behilflich sein?“
„Ja, gerne, ich bin auf der Suche nach, …“ und nun äußerte ich meinen Wunsch.
„Ja, das zeige ich Ihnen gerne, obwohl in diesem Sommer die Auswahl etwas eingeschränkt ist, da die Romantik bei vielen verloren gegangen scheint. Hier sehen Sie, diese drei habe ich zur Auswahl.“
Sie befühlte das erste. Meine Sensoren meldeten einen doch sehr schweren Stoff, Julia zog die Augenbrauen hoch. Nun ja, das ist schwere Naturseide in einem speziellen Webverfahren gearbeitet. Aber hier das zweite. Ja das gefiel mir schon besser.
„Das probiere ich an.“
Und das dritte, das war der Traum schlechthin, aus gebrochen weißem Chiffon, mehrlagig, der Rock, wie das Oberteil in kleine Fältchen gelegt, an den Armen Bänder aus Satin, die an eine griechische Göttin erinnern. Julia schlüpfte als erstes in dieses. Es fühlte sich phantastisch an, das Gewebe umschmeichelte die Beine, kühlte den Rücken und passte ganz ausgezeichnet, sie stellte sich vor den Spiegel. Einfach klassisch, etwas romantisch, ein Traum. Ich entschied mich für dieses Kleid, die Verkäuferin packte es in Seidenpapier ein, Julia ging zur Kasse und bezahlte mit meiner Karte. „Schuhe?“ „Nein, danke.“ Ich hatte Ballerinas in Puderrosa, die müssten wirklich gut dazu aussehen.
Zuhause angekommen packte Julia das Kleid aus und ließ es mich befühlen. Einfach sagenhaft, was die moderne Sensorik heute kann. Es fühlte sich auf meiner Haut genauso an, wie elektronisch gemeldet. Ich sagte zu ihr, dass das heute wirklich gut gelaufen wäre und sie sich jetzt zurückziehen dürfe. Sie setzte sich auf den Stuhl neben dem Tisch, in aufrechter, aber angespannter Haltung.
Nach dem Abendessen zog sie die Ballerinas an, schlüpfte in das Kleid, bürstete sich die zerzausten Haare, nahm die Handtasche vom Nachttisch und sagte: „Wenn du nichts dagegen hast, ich würde gerne heute ausgehen.“
„Ja, aber dann musst Du mir meinen Laptop geben.“
Das tat sie, ging zum Auto, drehte den Zündschlüssel um und fuhr in die Stadt. Helle Lichter überall, und so viele Menschen. Sie flanierte die Maxstrasse hinauf bis zum Ulrich, ich wäre gerne hineingegangen, aber sie drehte sich vor dem Portal um, ging zurück, setzte sich in ein Straßencafé und bestellte sich einen Hugo, den trank ich wirklich gerne. Ihre Blicke schweiften umher, auch sie wurde gesehen. Nicht nur gesehen, angeschaut, gemustert von oben bis unten. Diese Erfahrung war neu für mich, mich sieht sehr selten jemand an, man könnte eher sagen, ich werde durchs Wegschauen wahrgenommen. Sie legte einen Schein in die Untertasse und stand auf und ging weiter in Richtung Dom.
Leichtfüßig lief sie die Treppen zum Perlach hinauf, um dann dort oben den Ausblick zu genießen. Ach, es war herrlich, die Stadt aus solcher Höhe zu betrachten, die Sonne war schon untergegangen, der Lichterschein der Laternen erleuchtete den Himmel, von den Sternen war nichts zu sehen.
Ich war so ermüdet, dass ich schon schlief, als sie nach Hause kam, sich auszog und auf den Stuhl neben dem Tisch setzte. Sie drehte den Kopf leicht zu mir herüber, und, was war das? Das konnte eigentlich nur eine Täuschung sein, ein Trugbild, eine Fata Morgana. Ich sah in ihre Augen, diese begannen zu leuchten, die Pupillen loderten, glühten, der Feuerschein erhellte den Raum. Aber das konnte doch gar nicht sein, verwirrt drehte ich meinen Kopf zur Seite und zwang ich einzuschlafen.
In der Frühe saß sie noch so da, aber sie zitterte am ganzen Körper. Ja natürlich, mich würde es auch frieren, die ganze Nacht nur in der Unterwäsche am Tisch sitzend. Wir müssen sie unbedingt ankleiden. Am besten mit einem kuscheligen Morgenmantel, und natürlich Fellschuhen.
Heute, ja was soll sie denn heute erleben? Am besten, sie träfe sich mit ein paar weitläufigeren Bekannten, Kommilitonen aus den früheren Semestern. Also rein in die Uniklamotten, Laptop zurechtgelegt, Treppen runter, rein ins Auto, Zündung, Fahren, an der Uni ankommen, rein in den Hörsaal. Mayer liest gerade Kafka, das passt, hier kenne ich mich ein bisschen aus. Ich setzte mich in die letzte Reihe, links außen, schlug meinen Block auf und versuchte stichwortartig mitzuschreiben. Mir fiel der Stift aus der Hand, dem Vordermann in den Rücken. Er drehte sich um.
„Mensch Vroni, großartig dich so zu sehen. Dir geht es gut? Das ist ja prima, treffen wir uns danach?“
Seine Stimme variierte von zunächst ärgerlich, dann überrascht und schließlich sehr vertraut. „Ja, gerne.“
Er gab mir den Stift und drehte sich wieder um. Ich wurde ganz rot im Gesicht. Ja, dass wäre wirklich nett, sich mit Thomas zu treffen. Eigentlich habe ich ihn schon länger unter Beobachtung, aber ob ich wohl schon so weit wäre? Naja, ein paar Sätze konnten nicht schaden, ich würde dann Arbeit vorschieben, das macht sich immer gut, fleißig und interessiert, diese Ausrede wurde einfach akzeptiert.
Mayer endete mit der Ansage welche Leistung er für wie viele Punkte erwartete, naja, einen Essay für 3 Punkte das ließe sich wohl machen.
„Hallo Vroni, lange nicht gesehen, Du siehst gut aus, wie geht es Dir?“
„Hey Thomas, das gleiche wollte ich auch gerade sagen, aber danke der Nachfrage, mir geht es richtig gut, habe mich erholt. Ich stecke gerade mitten in der Magisterarbeit, und Du?“
„Ja, bei mir ist es ähnlich, bloß dass ich noch ein paar Scheine brauche, das Thema zur Masterarbeit habe ich bereits. Worüber willst Du schreiben.“
„Ja ich überlege, ob ich über Hannah Arendt schreibe, und ihre Rezeption in der Literatur. Und Du?“
„Ja, ich möchte gerne den Exilbegriff neu definieren, und über Oskar Maria Graf und seinen Amerikaroman arbeiten.“
„Hast Du Zeit für einen Kaffee?“
„Also, lieber würde ich mich in die Bib setzen. Aber vielleicht hast Du ja heute Abend Zeit? Ich möchte gerne in der Maxstraße spazieren gehen, vielleicht da etwas trinken und den Abend genießen.“
„Das ist eine gute Idee, sagen wir so um 20.00 Uhr?“
„Ja, gerne, am Brunnen vor dem Perlach.“
Ich fuhr eine Stunde vor der verabredeten Zeit nach Augsburg. Es sind genau 261 Stufen zum Ausblick hoch. Die Sonne schien mir milde ins Gesicht, das bunte Treiben hörte sich lustig an. Es war ein wunderschöner Tag, und ich glaube, ich habe mich verliebt. Ja, Thomas ist mir schon früher aufgefallen, er sah aus wie, nein, nicht wie ein Held, keine Leuchtfigur, einfach warmherzig, menschlich, ruhig, kein Live-Style-Junkie, kein Partygänger, eher etwas ruhig, besonnen, manche würden sagen, langsam. Ich aber glaube, er zeichnet sich durch gründliches Nachdenken aus, das hatte ich in einigen früheren Seminaren bereits bemerkt.
Ja, und jetzt hat er mich endlich gesehen, mit mir gesprochen, ich glaube, daraus könnte etwas werden. Eine Wärme stieg von den Füßen aus, wanderte die Beine hoch, ließ mein Herz höherschlagen und meinen Teint röter werden. Ich war selig, genau, ich war verliebt. Ich lehnte an der Brüstung und genoss mein Leben in vollen Zügen.
Thomas wollte auch nicht zu spät kommen, er beeilte sich, hatte sich sogar neu angezogen, nicht auffällig, aber der Geburtstagspullover und die dazu passende Hose, zwar von Mama ausgesucht, aber, sah gar nicht mal so schlecht aus. Er wäre fast der Versuchung erlegen, ein kleines Sträußchen Vergissmeinnicht zu kaufen, aber nein, das wäre wohl zu kitschig.
Er stieg am Königsplatz aus, um noch ein bisschen in Bewegung zu kommen. Vielleicht hatte sie Lust auf den Perlachturm zu steigen? Und vielleicht wären sie die einzigen? Aber das würde sich ja zeigen. Er spazierte gerade über den Rathausplatz, als er einen Aufschrei und einen dumpfen Knall hörte. Die Menschen stieben auseinander, nur um kurz darauf wieder zusammenzukommen. Sie bildeten einen Kreis um das Mädchen, oder um die junge Frau. Recht hübsch war sie anzusehen, wie sie so da lang. Was die Menschen beschäftigte, noch längere Zeit, war, dass nirgendwo auch nur das kleinste Spritzerchen Blut zu sehen war. Die Augen waren weit aufgerissen, sie blickten ins Nichts.
© Mark Michel
Veronika Raila, 1992 in Augsburg geboren musste schon immer alles aufschreiben, was sie zu sagen hatte. Nach einer verkürzten Gymnasialzeit fing sie an der Uni Augsburg an, Neuere deutsche Literaturwissenschaften und katholische Theologie zu studieren. Bald gab es auch erste Veröffentlichungen und Preise für ihr Schreiben (Medienecho & Preise). Nach der Bachelorarbeit widmete sie sich voll und ganz ihrem autobiographischen Film „Das Sandmädchen“, der Preise in der Kurzversion und einige in der Langversion (Sandmädchen – Ein Dokumentarfilm von Mark Michel und Veronika Raila) erhielt. Danach kehrte sie an die Uni zurück, um ihre Studien fortzusetzen. Literarisch sind ihre Arbeiten meist im phantastischen Realismus anzusiedeln. Kafka hat sie immer unglaublich inspiriert, daneben Botho Strauß und die Lektüre der mittelalterlichen Heldengeschichten. Sollte sie einmal nicht schreiben oder lesen, frönt sie dem Malen, dem Malen ihrer inneren Bilder.