Julia Franck (Hg.): Grenzübergänge.

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von Agnes Bidmon

Anhand von Pro­sa­tex­ten und Lyrik ermög­licht die­se Antho­lo­gie eine Begeg­nung mit der ande­ren Hälf­te Deutsch­lands, die über Jahr­zehn­te hin­weg so nah und dabei doch so fern war, von der man so viel hör­te und dabei doch so wenig wusste. 

Die Annah­me, dass das Zusam­men­spiel vie­ler Geschich­ten Geschich­te formt, wird in die­ser Antho­lo­gie ganz wört­lich genom­men und umge­setzt. Julia Franck, die Her­aus­ge­be­rin des Ban­des, selbst Autorin und 2007 für ihren Roman
Die Mit­tags­frau mit dem deut­schen Buch­preis aus­ge­zeich­net, ver­sam­melt mehr als 20 lite­ra­ri­sche Zeit­zeu­gen und Zeit­ge­nos­sen, die dem Mau­er­fall anläss­lich sei­nes 20. Jah­res­ta­ges ihr Gesicht ver­lei­hen, indem sie von ihren ganz per­sön­li­chen Erfah­run­gen mit der Gren­ze erzäh­len. Das Beson­de­re an die­ser Antho­lo­gie ist, dass, wie Franck selbst kon­sta­tiert, nicht nur die Stim­men der ‚übli­chen Ver­däch­ti­gen’, die der Leser in solch einem Band erwar­ten wür­de, hör­bar wer­den. Dar­über hin­aus kom­men auch jun­ge Autorin­nen und Autoren eben­so wie sol­che, die bis­lang sel­ten oder nie öffent­lich über ihr Ver­hält­nis zum ‚ande­ren’ Deutsch­land gespro­chen oder geschrie­ben haben, zu Wort. Auf die­se Art und Wei­se wer­den in Grenz­über­gän­ge die unter­schied­lichs­ten Blick­win­kel ein­ge­fan­gen. Aller­dings beklagt Franck in ihrer „Ein­la­dung” auch die Nicht-Erin­ne­rung eini­ger Gegen­warts­au­torin­nen und ‑autoren und die damit ein­her­ge­hen­de Nicht-Bereit­schaft, sich reflek­tiert, also schrei­bend, mit die­sem Umstand aus­ein­an­der­zu­set­zen. Ein Vor­wurf, den man nicht unbe­dingt nach­voll­zie­hen kann, der aber ein­mal mehr die Tie­fe der Ver­wun­dung auf­zeigt, die die Mau­er einst geris­sen hat.

Die zahl­rei­chen Stim­men, die ihre Erin­ne­run­gen schrei­bend mit dem Leser tei­len, erzäh­len in 23 Epi­so­den von der Gren­ze Fried­rich­stra­ße und dem Trä­nen­pa­last, von ganz viel ‚masl’, von Tages­geld und Grenz­kon­trol­len, vom Todes­strei­fen sowie von Macht und Ohn­macht. Sie erzäh­len aber auch von dem ganz und gar unbe­schreib­li­chen ‚Sei­ten­wech­sel’, den vier Meter für die ein oder ande­re Lebens­ge­schich­te bedeu­te­ten. Für ande­re Bio­gra­phien hin­ge­gen lief die Über­que­rung die­ser weni­gen Meter völ­lig ins Lee­re, weil man bei der Flucht oder Aus­rei­se aus dem Ost­teil Deutsch­lands ent­we­der noch ein Kind war, des­sen „Kom­pass an einem Grenz­über­gang schlicht sei­ne Nordung” ver­lor, oder weil man als Intel­lek­tu­el­ler bereits längst mit allen gesell­schaft­li­chen wie poli­ti­schen Ideo­lo­gien und Uto­pien abge­schlos­sen hat­te und auch heu­te, retro­spek­tiv, nur noch einen iro­ni­schen Blick zurück wer­fen kann.

Und so ste­hen in die­sem Band auf ganz unauf­dring­li­che und selbst­ver­ständ­li­che Art und Wei­se ‚gro­ße’ und ‚klei­ne’ Momen­te der indi­vi­du­el­len wie kol­lek­ti­ven Geschich­te direkt neben­ein­an­der und bil­den eine her­vor­ra­gen­de Orches­trie­rung durch den Zusam­men­klang von Geschich­ten, die von Ent­beh­run­gen, Leid und Fol­ter erzäh­len und dabei wie zufäl­lig neben ver­meint­lich ‚pro­fa­nen’ All­tags­epi­so­den oder wit­zi­gen Anek­do­ten plat­ziert sind. Gera­de die­se Anord­nung der Tex­te skiz­ziert so auf eine Art und Wei­se, die sich erst zwi­schen den Zei­len und ein­zel­nen Erzäh­lun­gen erschließt, ein dif­fe­ren­zier­tes Bild der sehr hete­ro­ge­nen Lebens­wirk­lich­kei­ten und Erfah­rungs­wer­te mit der Gren­ze, denn: „Die höchst unter­schied­li­chen Bei­trä­ge, die in die­sem Band auf­ein­an­der­tref­fen, öff­nen jenen Raum, die Gren­ze — den Grenz­raum, der tren­nend wir­ken soll­te und zu dem doch bei­de Sei­ten gehö­ren. Im Dazwi­schen, auf der Schwel­le, hier befin­det sich die Gren­ze; ihre Über­win­dung wie ihre Öff­nung liegt im Erzählen.”

Durch alle Erzäh­lun­gen zieht sich dabei ganz unschein­bar die Über­macht des viel­fäl­ti­gen Schwei­gens im Deutsch­land seit der Nach­kriegs­zeit. Es umfasst das Nicht-Reden-Kön­nen einer mit dem Holo­caust und sei­nen Fol­gen wie der Tei­lung Deutsch­lands über­for­der­ten Gene­ra­ti­on, die ihre Kin­der in einem Vaku­um von Erklä­run­gen auf­wach­sen ließ und viel rede­te, ohne etwas zu sagen. Und es reicht bis hin zum viel­fäl­ti­gen Nicht-Reden-Dür­fen der Bür­ger der DDR — aus Angst vor Sta­si-Bespit­ze­lung eben­so wie aus der Furcht, zur fal­schen Zeit am fal­schen Ort das fal­sche Wort zu sagen und damit womög­lich gelieb­te Men­schen zu kom­pro­mit­tie­ren. Im Medi­um des Erzäh­lens gegen die Fol­gen der Inter­na­li­sie­rung die­ses Schwei­gens anzu­schrei­ben, wor­aus die Mög­lich­keit erwächst, ganz per­sön­li­che Erin­ne­rungs­an­ge­bo­te zu stif­ten, ist ein äußerst lesens­wer­tes Ver­dienst die­ser Antho­lo­gie. Auch wenn man­che der Geschich­ten gera­de­zu topisch anmu­ten, wird der Leser bei der Lek­tü­re trotz­dem ergrif­fen von den zahl­rei­chen inten­si­ven und dabei doch immer ganz indi­vi­du­el­len Erfah­rungs­be­rich­ten, die sehr per­sön­li­che Begeg­nun­gen mit den Erzähl­stim­men ermög­li­chen. So tref­fen in die­sem Buch zwi­schen Sozia­lis­mus und Kapi­ta­lis­mus die unter­schied­lichs­ten Per­spek­ti­ven, Lebens­ge­schich­ten, Erfah­run­gen und Gene­ra­tio­nen aus ‚Ost’ und ‚West’ auf­ein­an­der und tre­ten in einen Dia­log — sowohl unter­ein­an­der als auch mit dem Leser.

Die Autorin­nen und Autoren schrei­ben also nicht nur über die deutsch-deut­sche Gren­ze, son­dern sie über­schrei­ben die ver­schie­dens­ten Gren­zen des All­tags und zeich­nen so ein viel­schich­ti­ges Bild der jüngs­ten deut­schen Geschich­te. Anhand von Pro­sa­tex­ten und Lyrik ermög­licht die­se Antho­lo­gie eine Begeg­nung mit der ande­ren Hälf­te Deutsch­lands, die über Jahr­zehn­te hin­weg so nah und dabei doch so fern war, von der man so viel hör­te und dabei doch so wenig wuss­te. Im Moment die­ser kalei­do­skop­ar­ti­gen Betrach­tung von 40 Jah­ren deut­scher Geschich­te wird also nicht nur die Maxi­me von demo­kra­ti­scher Stim­men­viel­falt ein­ge­löst, son­dern als Haupt­ver­dienst ein kost­ba­res Moment leben­di­ger Erin­ne­rung gestif­tet, denn in einer Viel­zahl von Tex­ten hallt immer noch das Echo eines Gefühls nach, des „über­wäl­ti­gen­den Gefühls der Frei­heit, das Ihr in der Frei­heit Gebo­re­nen ein­fach nicht nach­emp­fin­den könnt.”

Julia Franck (Hg.): Grenz­über­gän­ge. Autoren aus Ost und West erin­nern sich.

Frank­furt a. M.: S. Fischer Ver­lag 2009.