© Jona Kron
Brechtfestival 2023 – Die Uraufführung von Kampf um Augsburg
von Andreas Müller und Jona Kron
Am 17. Februar öffnete die Lechhausener Alevitengemeinde die Pforten Ihres Zentrums für das Brechtfestival-Event Kampf um Augsburg. Im Mittelpunkt stand eine zweistündige Wrestling-Show. Die knapp einstündige Einleitung wurde von Brechtfestivalkurator Julian Warner moderiert, im Anschluss gab es noch einige Konzerte. Neben Julian Warner übernahm die künstlerische Leitung Veronika Maurer, für Casting und Realisierung der Wrestling-Show war Selina Nowak verantwortlich und die künstlerische Produktionsleitung übernahm Sabine Kötzer. Die Show brachte die Konflikte (sozial-)politischer und regionalspezifischer Diskurse in Form von fiktiven Wrestling-Charakteren in den quadratischen Wrestling-Ring. Allesamt Verkörperungen gegensätzlicher Positionen, vertieft in großteils durchchoreografierten, aber dennoch athletischen, wettkämpferischen Duellen. Dabei sollte das Publikum seine eigenen ‚Held*innen‘ wählen und sie gegen die Opposition verbal unterstützen. Ein Erlebnis zwischen kollektiver dramatischer Katharsis und choreographierter Sportveranstaltung, bei dem sehr gerne mit Erwartungen und Klischees gespielt wurde.
Gerade genießen Pro-Wrestling-Shows in den Staaten, UK, Japan und sogar in ein paar deutschen Großstädten neuen Aufwind. Die Anzahl solcher Shows, die sich über die letzte Dekade nach Augsburg verirrt haben, lässt sich allerdings locker an einer Hand abzählen. Trotzdem oder gerade deshalb zeigt sich Augsburg offen, spontan bereit überrascht zu werden und verhilft dem Event zu zwei ausverkauften Abenden.
Bevor der Ring aber zum Schauplatz für actiongeladene Wettkämpfe wird, nutzt Julian Warner die Einführung in die Veranstaltung, um denen eine Bühne zu bieten, die ihre Kämpfe ohne extravagante Outfits oder riskante Athletik austragen. In Gesprächen mit Klimaaktivist*innen, Krankenpfleger*innen und Aktivist*innen für soziales Engagement und für die Rechte unterrepräsentierter Minderheiten wird der alltägliche Kampf um Augsburg, der der Veranstaltung den Rahmen gibt, erläutert.
Die Show beginnt mit Spotlight auf dem Podium über den Köpfen der Menge. Eine kleine Person schaut herab, Mikrophon in der Hand, Glitzer in der Föhnfrisur und Schulterpolster im schrillen Jacket. Die Gastgeberin Hanna Binder beginnt die Menge anzuheizen und erinnert dabei an die Protagonistin der 80er-Jahre Wrestling-Serie „Glow“ (2017–19). Außerdem erklärt sie grundlegende Regeln der Wrestling-Kämpfe sowie die Jubeletikette.
In den darauffolgenden Kämpfen muss sich u. a. ein Oberhausener gegen eine anonyme Anruferin behaupten, die ihn und „seine Jungs“ heimlich beim Feiern auf der Maxstraße beobachtet und ihnen regelmäßig die Polizei an den Hals hetzt. Nach dem Match stellt sich allerdings heraus, dass der Oberhausener hauptberuflich Krankenpfleger ist und am Wochenende erschöpft von der Arbeit im Schlaf von seinem Albtraum heimgesucht wird.
Selbstredend handelt es sich auch hier um einen Wrestler, der sich in verschiedene Stresserreger für den Krankenpfleger verwandelt. Des Weiteren legt sich Nature Grrrl, eine Klimaaktivistin samt Megafon, mit der ruchlosen Geschäftsleiterin Business As Usual an. Auch der Lechhausener No Money steigt noch in den Ring mit Possible Maker, einem gewinnorientierten Hipster und Junginvestor. Erst ist sich das Publikum uneinig, wer hier der eigentliche Held ist, schließlich unterstützt Possible Maker – wenn auch aus eigennützlichen Motiven – die Renovierung des Staatstheaters, was bei dem theateraffinen Teil des Publikum gut anzukommen scheint. Doch spätestens nach einigen Regelverstößen und dem Gefallen, den das Publikum für No Moneys Bart zu entwickeln scheint, werden die Anfeuerungsrufe „Geiler Schnauzer“ immer lauter und halten an bis zum Ende des Matches.
Inzwischen befindet sich die Show am Ende ihres dritten Aktes. Die Publikumslieblinge haben alle ihre Kämpfe verloren. Der Krankenpfleger findet keinen Ausgleich mehr für den Stress, der mit seinem Beruf einhergeht und nicht mal mehr sein Schlaf bietet ihm Zuflucht. Der arme Kauz aus Lechhausen mit dem „geilen Schnauzer“ engagiert sich mit Herz und Leib für mehr Investitionen in Soziales, aber wird von einem gerissenen, neureichen Investor aus der Debatte verdrängt. Und Nature Grrrl muss sich eingestehen, dass ihr Megafon keine klarere Sprache spricht als die des alten, profitorientiert angelegten Geldes.
Und selbst Hanna Binder in ihrer Rolle als dramatischer Chor und Hype-Woman, Brücke zwischen dem Geschehen im Ring und dem Publikum, findet sich auf dem Boden wieder. Ihr Versuch, echtem demokratischem, dialogischem Diskurs eine Stimme zu geben, unterbunden von einem Schlag, der sich immer wieder in die Kämpfe einmischenden Friedensstadt – Sinnbild eines konservativen Augsburgs im Stillstand. Die Stimmung ist gedrückt, denn die Bemühungen der einzelnen Akteure haben nicht ausgereicht, um gegen Einschüchterung, Bestechung und Betrug zu bestehen. Parallelen zum aktivistischen Alltag sind schnell gezogen und plötzlich fühlt sich der Kampf um Augsburg genauso echt an, wie er einstudiert ist. Und so stimmt Hanna Binder, die zu Boden geschlagene Gastgeberin ihren Trauergesang an. Eine Ballade, die zum einen als Bekräftigung dafür dient, dass eine Seite des Konflikts nicht ohne die andere kann und möchte. Gleichzeitig erinnert sie daran, dass es einen Unterschied gibt zwischen „geschlagen“ und „sich geschlagen geben“ und dass Einsamkeit überwunden werden kann. Ergriffen von der Vielschichtigkeit und allgemeinen Kongenialität dieser Darbietung – oder möglicherweise auch von der schieren Catchyness des Songs – eröffnet sich ein transformativer Moment des Zusammenkommens und des gemeinsam neuen Mutfassens. Der Chor ist das Publikum, das Publikum ist der Chor und so schallt es mit gemeinsamer Stimme durch das Alevitische Gemeindezentrum: „My Loneliness is killing me. And I, I must confess: I still believe“.
Wie der Kurator Julian Warner bereits in seinem Interview für den hörinsblau-Podcast prophezeit hatte, sind nun alle im Gebäude Brecht‘s People: Gastgeberin, Publikum sowie ihre Lieblingswrestler*innen. Letztere, motiviert von der Augsburger Menge (und Britney Spears), geben noch einmal alles, was sie haben, in einem letzten klassischen Wrestling Match; Held*innen gegen Bösewichte.
Mit vereinten Kräften und Augsburg geschlossen hinter ihnen erkämpfen sich die Held*innen nach einem zähen Kampf die Oberhand. Gerade lange genug für Nature Grrrl um ein paar kritische Treffer zu landen. Aber reicht das aus gegen die physisch überlegene Business As Usual? Nature Grrrl hat keine Wahl – gut möglich ist das hier ihre letzte Chance: Getragen von den Anfeuerungsrufen der Meute, die spürt, wie sich das Blatt endlich doch noch zu wenden scheint, erklimmt Nature Grrrl das oberste Ringseil, findet ihr Gleichgewicht und katapultiert sich in Richtung ihrer am Boden liegenden Widersacherin. Nature Grrrl trifft ihren „Extinction Splash“ und drückt mit dem gesamten Körpergewicht die Schultern von Business As Usual auf die Ringmatte. Der Referee beginnt zu zählen: „Eins!“ Augsburg stimmt mit ein: „Zwei!“ Und alle zusammen: „Drei!“ Die Show endet in süßer Katharsis, anhaltendem Jubel und dem Gefühl, ihn heute zusammen gekämpft zu haben, den Kampf um Augsburg.
Vor und teils während den Matches zeigen mehrere Beamer auf den Wänden qualitativ hochwertige Clips, die die Geschichte hinter den verschiedenen Wrestlern und den einzelnen Konflikten ausschmücken. Gelungenes Licht, Videografiken und Sound machen dazu bereits den Weg der Wrestler zum Ring jedes Mal wieder zu einem kleinen Highlight. Oftmals werden Charaktere im Rahmen der Möglichkeiten eines einzigen Abends mit überraschender Tiefe inszeniert. Dabei war die Action im Ring grundsolide, leicht verständlich und lehnte in den meisten Matches mehr zum Komischen, als zu bitterernstester Kampfsportillusion. Es wäre sicher hier und da Platz für mehr technisches Wrestling, gar ein, zwei ausgefallenere High-Spots gewesen, um dem aktuellen Wrestling-Zeitgeist Rechnung zu tragen.