Lesen verlangt Kontemplation.

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Ein Gespräch mit Jan Drees

von Kay Wolfinger

schau­ins­blau: Wie wür­den Sie Ihr lite­ra­ri­sches Selbst­ver­ständ­nis beschreiben?

Drees: Die ver­gan­ge­nen Coro­na-Pan­de­mie-Jah­re habe ich dazu genutzt, um mich mei­ner lite­ra­ri­schen Stan­dards zu ver­ge­wis­sern, indem ich ein wis­sen­schaft­li­ches Buch geschrie­ben habe über den Novel­len­au­tor Hart­mut Lan­ge, der sich auf her­aus­ge­ho­be­ne Wei­se mit dem Unheim­li­chen beschäf­tigt – wenn alles klappt, ist die­ses Buch mei­ne Dis­ser­ta­ti­on. Er hat bis­her fast sieb­zig Novel­len geschrie­ben, die zunächst mono­chrom wir­ken im Ton und bei denen sich Rezensent*innen immer wie­der gefragt haben, ob sie qua­si frak­tal auf­ge­baut sind, selbst­ähn­lich. Ich konn­te mir das nicht vor­stel­len und habe nun durch das schö­ne alte Clo­se Rea­ding und sehr viel Recher­che her­aus­ge­fun­den, was einer­seits das Unheim­li­che die­ser Novel­len aus­macht, ande­rer­seits, war­um sie zwar im Ton mono­chrom sind, aber inhalt­lich sehr reich und sehr satt und divers. Ange­fan­gen von Bezü­gen zum Epos über die Kin­der­tod­ten­lie­der bis hin zu Über­le­gun­gen Heid­eg­gers zur Unheim­lich­keit. Das heißt, ich habe mir mit Hart­mut Lan­ge einen Spar­rings­part­ner ange­schaut, und über­legt, wie Unheim­lich­keit in Tex­ten arti­ku­liert wer­den kann. Dadurch bin ich noch ein­mal neu zu mei­ner eige­nen Lite­ra­tur gekom­men. Ich sit­ze schon an den Vor­be­rei­tun­gen des neu­en Romans und ver­su­che die­ses neue Buch – wie auch zuvor Sand­bergs Lie­be regel­recht zu erarbeiten.

schau­ins­blau: Das heißt, das Unheim­li­che ist auch für Ihr eige­nes Werk ein kon­stan­ter Bezugspunkt?

Drees: Dass das Unheim­li­che eine Kon­stan­te für mich ist, habe ich erst in den letz­ten Jah­ren gese­hen. Das Unheim­li­che ist immer erst­mal das Ver­trau­te. Bei mei­nen frü­he­ren Roma­nen bin ich jeweils von einer gewis­sen Irri­ta­ti­on aus­ge­gan­gen. Dass die­se Irri­ta­ti­on aber mit Unheim­lich­keit zu tun hat, war mir nicht klar. Ich habe sehr unbe­wusst geschrie­ben und ver­sucht, die­ses Unheim­li­che zu ver­drän­gen, indem ich das Irri­tie­ren­de kurz­ge­schlos­sen habe mit Main­stream­phä­no­me­nen. Die­ser Kurz­schluss hat, wie ich heu­te glau­be, mit lan­ge zurück­lie­gen­den Assi­mi­la­ti­ons­be­mü­hun­gen zu tun, ange­fan­gen bei mei­nem jüdi­schen Urgroß­va­ter, mit der in Deutsch­land ja ver­brei­te­ten Flücht­lings­ge­schich­te in unse­rer Fami­lie. Die Sehn­sucht nach Nor­ma­li­tät also, wäh­rend das Ver­wir­ren­de nicht ein­zu­ord­nen war, ist ein­ge­schrie­ben in mei­ne Fami­li­en­struk­tur. Ich bin der Ers­te in mei­ner Fami­lie, der ver­sucht hat, das Gan­ze zur Spra­che zu brin­gen. Die­ses Zur-Spra­che-Brin­gen kann einer der Antrie­be sein für einen Schriftsteller.

schau­ins­blau: 2002 wur­de Ihr Roman Sta­ring at the sun in der VIVA-Sen­dung inter­ak­tiv vor­ge­stellt. Sie haben unge­wöhn­lich früh bereits publi­ziert, wie kam es dazu?

Drees: Ja, aus einer roman­ti­schen Idee her­aus, was Schrift­stel­ler-Sein bedeu­tet. Ich bin als Teen­ager in den 1990er Jah­ren mit typi­scher Lese­bio­gra­phie auf­ge­wach­sen: Charles Bukow­ski, Paul Aus­ter, Albert Camus, Wolf­gang Bor­chert. Fred von Hoer­schelm­anns Das Schiff Espe­ran­za. Oft war mei­ne Lek­tü­re beglei­tet von Recher­chen zu den Autor*innen; ich war z. B. auf der Else-Las­ker-Schü­ler-Gesamt­schu­le. Mich hat natür­lich nicht nur Las­ker-Schü­lers Lite­ra­tur, son­dern auch ihre flam­boy­an­te Erschei­nung fas­zi­niert. Auch die Bücher von Siri Hust­vedt habe ich gele­sen. Mein Wunsch, zu publi­zie­ren kam auf, weil sowohl Aus­ter als auch Bukow­ski immer wie­der davon schrei­ben, wie sie Ver­öf­fent­li­chungs­mög­lich­kei­ten gesucht haben. Das fing bei mir mit einem Schreib­wett­be­werb beim Ali­baba Ver­lag (Frank­furt) an; das war auch der Grund, war­um ich mei­nen Roman, obwohl es ein Ange­bot der Han­ser-Rei­he von dtv gab, dem Ali­baba Ver­lag gege­ben habe. Das hat­te auch damit zu tun, dass es ein jüdi­scher Ver­lag war und ich somit an einen Teil mei­ner Fami­lie anschlie­ßen konn­te, an die Flucht­ge­schich­te der jüdi­schen Fami­lie. Zurück­ge­blie­ben ist bei mir ein sehr pes­si­mis­ti­sches Gesell­schafts­bild, das ich spä­ter zu beru­hi­gen ver­sucht habe durch die sehr küh­le Betrach­tung von Niklas Luh­manns Sys­tem­theo­rie, die aber auch nur so kühl sein konn­te, weil sie den Men­schen in sei­nem Design suspendierte.

schau­ins­blau: Haben Sie dann auch ein pes­si­mis­ti­sches Men­schen­bild entwickelt?

Drees: Homo homi­ni lupus. Die­ses Bild wur­de selbst­ver­ständ­lich unter­füt­tert durch ein Buch wie Levia­than von Paul Aus­ter oder durch Die Pest von Albert Camus. Gleich­zei­tig habe ich ein zutiefst huma­nis­ti­sches Ver­ständ­nis vom Men­schen. Ich hof­fe, der Mensch ist edel, hilf­reich und gut – ich hof­fe das über mich selbst und weiß doch: es wird immer nur eine Hoff­nung blei­ben. Ich habe durch den Leis­tungs­sport, durch die Leicht­ath­le­tik und durch inter­na­tio­na­le Ren­nen, die ich gelau­fen bin, bei Men­schen durch Erfah­rung fest­ge­stellt, dass ein Gegen­über, das anders aus­sieht als ich und mit dem ich kei­ne Spra­che tei­le und das anders sozia­li­siert wur­de als ich, trotz­dem mehr gemein haben kann als mit den Men­schen, mit denen ich zur Schu­le gegan­gen bin. Gen­der, race, auch Dif­fe­ren­zen wie behin­dert vs. nicht-behin­dert sind für mich lang­wei­li­ge Dif­fe­ren­zen. Genau das habe ich wie­der­ge­fun­den bei Niklas Luh­mann, der mit sei­ner Dif­fe­renz­theo­rie gesagt hat, wir müs­sen die Dif­fe­renz als Ein­heit sehen. Das Unter­schied­li­che ist also das gleich­sam Einen­de. Ich fin­de es inter­es­sant, in Ambi­va­len­zen zu den­ken. Ver­wirrt war ich erst, als ich kon­fron­tiert wur­de mit dem Bor­der­line-Phä­no­men, das zum Roman Sand­bergs Lie­be führte.

schau­ins­blau: Gibt es eine Kon­ti­nui­tät zwi­schen Ihrem Debüt Sta­ring at the sun bis hin zu Sand­bergs Liebe?

Drees: Ich habe eigent­lich immer etwas ande­res aus­pro­biert: Bei Sta­ring at the sun galt die Irri­ta­ti­on, einen Wider­spruch in der soge­nann­ten Pop­li­te­ra­tur und im gan­zen pop­kul­tu­rel­len Bereich zu set­zen. Ich begin­ne das Buch mit einer Text­zei­le von U2, die mit Kant kon­tras­tiert wird: Es ist in der Pop­kul­tur gut, blind zu sein im Gegen­satz zu Kants Auf­klä­rung. Gleich­zei­tig habe ich wohl ver­sucht, Post­mo­der­ne rein­zu­brin­gen, ohne zu wis­sen, was die Post­mo­der­ne ist. Es ist wie im Film Matrix: Der Held soll­te am Ende des Romans erken­nen, dass er nur Teil eines Romans ist. Die­ser Schluss – den ich mitt­ler­wei­le eigent­lich inter­es­san­ter fin­de – ist damals lei­der im Lek­to­rat gestri­chen worden.

schau­ins­blau: Wie kam es dazu, dass Sie schließ­lich beim Deutsch­land­funk Kul­tur gelan­det sind?

Drees: Ich woll­te ein­fach etwas mit Kul­tur machen und habe bei der Schü­ler­zei­tung und als Sport­be­richt­erstat­ter in der Lokal­zei­tung ange­fan­gen. Mir war eigent­lich egal, wo ich lan­de, aber ich habe von Sta­ti­on zu Sta­ti­on mehr und mehr gespürt, was ich will: die Ver­öf­fent­li­chung eines Romans. Dann kam der Weg­zug nach Ham­burg und die Arbeit als Tex­ter bei einer Inter­net­agen­tur, ein Volon­ta­ri­at in der Wer­bung mit Phä­no­me­nen wie Gue­rill­amar­ke­ting. Mit Mit­te zwan­zig woll­te ich über ein Aus­tausch­sti­pen­di­um der Uni­ver­si­tät nach Tel Aviv zie­hen und dort leben. Es war damals die bun­tes­te Stadt der Welt. Mei­ne Plä­ne wur­den unter­bro­chen, als ich Vater eines Jun­gen wur­de. Schließ­lich habe ich bei Eins Live zehn Jah­re lang Lite­ra­tur vor­ge­stellt und gleich­zei­tig Rare Groo­ve, Indie, Soul, Funk, Elec­t­ro in Clubs aufgelegt.

schau­ins­blau: Wie sind Sie dann zu Hart­mut Lan­ge gekom­men und zum The­ma Ihrer Dis­ser­ta­ti­on? Hat Sie Lan­ges Werk kon­ti­nu­ier­lich beglei­tet oder war es eine plötz­li­che Entdeckung?

Drees: Die Büch­se der Pan­do­ra öff­ne­te sich mit Mit­te Zwan­zig als ich Die Bil­dungs­rei­se las. Das Buch fand ich groß­ar­tig. Es hat mich ange­zo­gen, weil ich durch Lan­ge Nietz­sche, Scho­pen­hau­er, Blai­se Pas­cal und Heid­eg­ger stu­die­ren konnte.

schau­ins­blau: Sie haben immer wie­der auf die Unheim­lich­keit der Krank­heit, der Depres­si­on, hin­ge­wie­sen. Was inter­es­siert Sie hier als Irritationsmoment?

Drees: Die psy­chi­sche Krank­heit führt zu Hand­lun­gen, die ein Umfeld irri­tie­ren. Ein Mensch, der z. B. manisch ist, kann unheim­lich wir­ken auf ande­re und für sich selbst. Tho­mas Mel­le hat das in Die Welt im Rücken auf sehr beson­de­re Wei­se lite­r­a­ri­siert. Es steckt auch hin­ter die­sem Buch ein Fra­gen, eine Irri­ta­ti­on und der Wunsch, einst ver­stö­ren­de Ver­hal­tens­wei­sen zu erklä­ren, also das, was nicht sicht­bar ist, ins Sicht­ba­re zu zie­hen. Auf dra­ma­tur­gi­scher Ebe­ne sind psy­chi­sche Abwei­chun­gen inter­es­sant, weil es in Sze­nen, in denen alles gut ist, von der einen Sekun­de zur nächs­ten kom­plett kip­pen kann. Und dass bei­spiels­wei­se eine Stim­mung plötz­lich kip­pen kann, ist erzähl­tech­nisch höchst interessant.

schau­ins­blau: Sie haben immer wie­der die Ver­bin­dung zwi­schen dem Schrei­ben und dem Erfor­schen der Welt ver­deut­licht. Wenn Sie heu­te noch ein­mal neu anfan­gen könn­ten zu stu­die­ren: Wie wür­den Sie stu­die­ren und wie wür­den Sie vor­ge­hen? Noch­mal Literatur?

Drees: Das fra­ge ich mich häu­fig. Wäre ich hand­werk­lich geschick­ter und weni­ger ekel­be­haf­tet: Wahr­schein­lich Medi­zin. Oder Jura, weil es sehr sys­te­misch ist und die Lite­ra­tur und die Phi­lo­so­phie nur neben­her. Aber ich wür­de es eigent­lich genau­so machen wie frü­her. Mög­li­cher­wei­se wür­de ich mir im Sin­ne des Wup­per­ta­ler Schrift­stel­lers Karl Otto Mühl, der das ein­mal anläss­lich eines sei­ner run­den Geburts­ta­ge gesagt hat, mit dem Wis­sen von heu­te zuflüs­tern: Am Ende wird’s schon gut; keep calm.

schau­ins­blau: Wie schät­zen Sie den Beruf des Schrift­stel­lers für sich selbst ein?

Drees: Man muss sich von der Lite­ra­tur­sze­ne, so gut es geht, unab­hän­gig machen, um nicht kor­rum­piert zu wer­den. Die Akteu­re der Lite­ra­tur­sze­ne sind auch nicht inter­es­san­ter als Juris­ten oder Medi­zi­ner. Es gibt dort ledig­lich mehr Men­schen, die mich per­sön­lich inter­es­sie­ren. Die Lite­ra­tur­sze­ne an sich gibt es ohne­hin nur als Dif­fe­renz. Außer­dem ist es fas­zi­nie­rend, was alles zu die­ser Sze­ne gehört. Lite­ra­tur­häu­ser, Buch­hand­lun­gen, Kleinst­ver­la­ge und die im ewi­gen Schat­ten schrei­ben­den Schriftsteller*innen. Je weni­ger Zeit für die Beschäf­ti­gung mit der Sze­ne gebraucht wird, des­to mehr Zeit habe ich zum schrei­ben, nach­zu­den­ken, zu lesen. Das Lesen ver­langt Kon­tem­pla­ti­on; man kann Roma­ne nicht zwi­schen­durch lesen.

Jan Drees ist Schrift­stel­ler und seit 2016 Lite­ra­tur­re­dak­teur beim Deutsch­land­funk. Sein ers­ter Roman Sta­ring at the sun (2000) ist im Kon­text der Pop­li­te­ra­tur ent­stan­den. Sand­bergs Lie­be (2019) wur­de anläss­lich der dar­ge­stell­ten Bor­der­line-The­ma­tik diskutiert.