Line Hoven — Liebe schaut weg

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von Sabi­ne Wirth

Die Gegenwart der Vergangenheit

Manch­mal ist es mehr die Ver­gan­gen­heit als die Gegen­wart, die einen fes­selt, weil sie das Selbst inner­halb einer Geschich­te ver­or­tet. Die Zeich­ne­rin Line Hoven setzt sich in ihrer Diplom­ar­beit an der Hoch­schu­le für Ange­wand­te Wis­sen­schaft Ham­burg mit der Geschich­te ihrer Eltern und Groß­el­tern aus­ei­nender, in der die deut­sche Fami­lie Hoven auf die ame­ri­ka­ni­sche Fami­lie Lorey trifft, weil Rein­hard und Char­lot­te sich inein­an­der ver­lie­ben und hei­ra­ten wol­len. Die Fami­li­en­ge­schich­te umspannt die Zeit vor dem zwei­ten Welt­krieg bis in die sieb­zi­ger Jah­re und zeigt neben pri­va­ter Fami­li­en­chro­nik auch ein Stück Zeit­ge­schich­te. Für den auf­wen­dig in Schab­kar­ton geritz­ten Comic, der bei Repro­dukt erschie­nen ist, erhielt Line Hoven im Mai 2008 auf dem Comic-Salon Erlan­gen den ICOM-Preis in der Kate­go­rie “Bes­ter Inde­pen­dent Comic”.

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Die Geschich­te beginnt mit dem Blick in das Inne­re eines ver­las­se­nen Zim­mers: gepack­te Umzugs­kis­ten und zuge­deck­te Pols­ter­mö­bel ver­brei­ten eine gespens­ti­sche Stim­mung. Wenn man genau hin­schaut, sieht man sogar die Stel­len an der Wand, an denen ein­mal Bil­der gehan­gen haben. Rechts unten fin­det sich ein Zitat von Woo­dy Allen, das dem Comic als Mot­to vor­an­ge­stellt ist: “I won­de­red if a memo­ry is some­thing you have or some­thing you’­ve lost …” Damit sind zwei Aspek­te umris­sen, die die ambi­va­len­te Bewe­gung des Erin­nerns umschrei­ben: einer­seits ermög­licht das Erin­nern, das Ver­gan­ge­ne wie­der zu bele­ben und in die Gegen­wart zu holen und ande­rer­seits macht es zugleich bewusst, dass es sich um etwas Ver­gan­ge­nes han­delt, das unwie­der­bring­lich ver­lo­ren ist.

Es geht um das Prä­sent-Machen des Absen­ten, das dadurch in sei­ner Absenz betont wird. Im Pro­zess des Erin­nerns geht es immer auch um das Ver­ges­sen. Line Hoven ver­sucht nicht, die Lücken zu schlie­ßen, die sich viel­leicht aus den Erzäh­lun­gen ihrer Eltern und Groß­el­tern erge­ben haben. Sie macht viel­mehr auf die Lücken auf­merk­sam und for­dert den Leser auf, selbst eine Lösung für die Aus­las­sun­gen zu finden.

In sei­ner Lau­da­tio anläss­lich der Ver­öf­fent­li­chungs­fei­er von Lie­be schaut weg im Lite­ra­tur­haus Ham­burg beschreibt Andre­as Platt­haus die­se Aus­las­sun­gen als rhe­to­ri­sches Prin­zip: Die ellip­ti­sche Erzähl­wei­se, also der rhe­to­ri­sche Kniff des Aus­las­sens, ist der bestim­men­de Zug des gan­zen Auf­baus von Lie­be schaut weg. Am deut­lichs­ten wird das in jener Sze­ne, als die Eltern von Char­lot­te Lorey und Rein­hard Hoven in einer Bon­ner Gast­stät­te sit­zen und der jun­ge deut­sche Mann den ame­ri­ka­ni­schen Besu­cher um die Hand sei­ner Toch­ter bit­tet. Doch das sehen wir nicht. Was wir sehen ist eine Sei­te, die im stren­gen Ras­ter von vier qua­dra­ti­schen Bil­dern, das den gan­zen Comic prägt, auf­ge­baut ist:

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Im ers­ten Panel starrt Mr. Lorey vor sich hin, weil er weiß, was nun fol­gen wird; aus dem zwei­ten stam­melt Rein­hard: “Ähh…Mr Lorey, may I…”; auf dem drit­ten Bild sehen wir eine nächt­lich-ein­sa­me Stra­ße in Bonn, in der nur eine Later­ne etwas Licht ver­brei­tet; und auf dem letz­ten Bild der Sei­te schließ­lich zwei lee­re Wein­glä­ser und eine Rech­nung über die ver­zehr­ten Spei­sen, wäh­rend der Stuhl am Tisch leer ist. Mr. Lorey hat “nein” gesagt. Aber das haben wir ihn nicht sagen sehen, wir spü­ren es nur aus der Anord­nung der Bil­der, aus der Men­schen­lee­re der letz­ten bei­den, aus einem abrup­ten Wech­sel der Blick­win­kel auf die Sze­nen, aus der Unru­he die­ser Per­spek­ti­ven, die deut­lich signa­li­sie­ren, dass hier bei aller Sta­tik der Kom­po­si­ti­on etwas Auf­wüh­len­des pas­siert ist. Der Sprung von Sze­ne zu Sze­ne, ein Jump-cut, um die eigent­lich für Comic­zwe­cke nur äußerst bedingt brauch­ba­re Spra­che des Kinos zu benut­zen. Doch hier passt der Begriff, weil nur die Rede vom Schnitt die Tei­lung deut­lich machen kann, die die­se Tech­nik in Lie­be schaut weg symbolisiert.

Hat­te Line Hoven zwei Sei­ten zuvor die unüber­brück­ba­re Ableh­nung von Mr. Lorey noch dadurch vor­ge­führt, dass sie die zwei gemein­sam spei­sen­den Fami­li­en in zwei Panels por­trä­tier­te, die zwar den Anschein einer ein­zi­gen Bild­kom­po­si­ti­on erweck­ten, aber doch noch jenen tren­nen­den Spalt auf­wie­sen, den Scott McCloud “gut­ter” nennt, so ist durch den Sprung der Per­spek­ti­ve erst aus dem Gast­haus hin­aus und dann wie­der hin­ein ein noch stär­ke­res Signal gesetzt: Der Betrach­ter kann die Situa­ti­on nicht ertra­gen, er flieht vor dem Gestam­mel Rein­hard Hovens und der Herz­lo­sig­keit Harold Loreys erst vor die Türe und dann wie­der in die Gast­stu­be zurück, als die des­il­lu­sio­nier­ten Esser das Lokal gemein­sam verlassen.

Spä­ter wird es eine ähn­li­che Sze­ne geben, wenn das doch noch glück­lich ver­hei­ra­te­te Eltern­paar von Line Hoven dar­über nach­denkt, die Ver­ei­nig­ten Staa­ten, in denen Rein­hard Hoven mitt­ler­wei­le als Kran­ken­haus­arzt tätig ist, wie­der zu ver­las­sen. Er sagt: “Ich kann hier nicht arbei­ten”, und die hoch­schwan­ge­re Char­lot­te Hoven ant­wor­tet ihm: “Wir kön­nen dar­über reden noch ein­mal …Just give us a litt­le more time.” Im nächs­ten Bild sit­zen sie in der Abflug­hal­le eines Flug­ha­fens, und Char­lot­te hält ihre ers­te Toch­ter im Arm: zwei Bil­der, die das eigent­li­che Gesche­hen aus­spa­ren, und die doch ein gan­zes Jahr so deut­lich umfas­sen, dass man die Debat­ten zwi­schen den Lini­en zu hören scheint, die Freu­de über die Geburt des Kin­des spürt und das Zögern der jun­gen Ame­ri­ka­ne­rin vor dem end­gül­ti­gen Schritt, ihrem Mann zurück nach Deutsch­land zu folgen.

Bei dem Ein­blick in das Foto­al­bum der Fami­lie Hoven fehlt ein Foto, das die Bild­un­ter­schrift “Erich u. Irm­gard im Som­mer­la­ger der Hit­ler­ju­gend” trägt. Es wird nicht klar, ob das Foto tat­säch­lich im Fami­li­en­al­bum gefehlt hat oder absicht­lich von Line Hoven weg­ge­las­sen wur­de. Durch die Spur der hin­ter­blie­be­nen Foto­ecken wird jeden­falls eine Leer­stel­le mar­kiert, die auf die dunk­len Stel­len der Ver­gan­gen­heit hin­weist, an die man sich nicht ger­ne erin­nert. Die Sub­jek­ti­vi­tät des Erzäh­lens sieht Andre­as Platt­haus durch das Medi­um des Comics ver­stärkt: “Der Comic als nar­ra­ti­ves Gen­re hat Sub­jek­ti­vi­tät dadurch zum Prin­zip, dass er die Abs­trak­ti­on und Schein­ob­jek­ti­vi­tät der Schrift um das höchst­per­sön­li­che Ele­ment der Zeich­nung ergänzt — eine Dar­stel­lungs­form, die seit der Erfin­dung der Foto­gra­fie kei­ner­lei Anspruch auf Rea­lis­mus mehr erhe­ben kann. Es ist kein Zufall, dass es Comics erst seit etwas mehr als hun­dert Jah­ren gibt, denn zuvor ent­stand kein Bedarf an die­ser Erzähl­form. Dann aber, als Bil­der zu iden­ti­schen Dar­stel­lun­gen des Wirk­li­chen wer­den konn­ten, bekam die gra­phi­sche Erzähl­form ihren Reiz, weil sie das obso­let geglaub­te Hand-Werk der Zeich­nung objek­ti­vier­te durch die Zuga­be von Schrift und den­noch den fik­ti­ven Cha­rak­ter des Geschil­der­ten durch das Gezeich­ne­te immer erken­nen ließ. Des­halb ist bei aller Kon­junk­tur von auto­bio­gra­phi­schen oder Sach­co­mics, die wir in den letz­ten Jah­ren erlebt haben, stets noch ein Moment des mehr oder min­der beton­ten Irrea­lis in den Arbei­ten erhal­ten. Comics erzäh­len per­ma­nent im Kon­junk­tiv: als sei etwas so oder so, oder noch extre­mer, als wäre etwas so oder so.”

Line Hovens Bil­der spie­len bewusst mit den von Platt­haus ange­spro­che­nen Kate­go­rien des Fik­ti­ven und des Rea­len. Einer­seits unter­streicht Hoven den doku­men­ta­ri­schen Cha­rak­ter der Geschich­te, indem sie ver­meint­li­ches “Quel­len­ma­te­ri­al” wie Fami­li­en­fo­tos, Aus­wei­se oder Rech­nun­gen ein­flicht. Ande­rer­seits wer­den die­se Doku­men­te wie­der­um dadurch gebro­chen, dass sie — wie alle ande­ren Bil­der auch — in ein Scratch­board geritzt sind. Die Ästhe­tik, in der das doku­men­ta­ri­sche Mate­ri­al prä­sen­tiert wird, ist somit die glei­che wie für den Rest der Geschich­te. Die­se Bil­der von Bil­dern machen deut­lich, dass Erin­ne­rung ein nar­ra­ti­ver Pro­zess ist, der von Fik­ti­on nicht klar abge­trennt wer­den kann.

Egal ob Erin­ne­run­gen über gespro­che­ne oder geschrie­be­ne Spra­che oder über Bil­der kom­mu­ni­ziert wer­den, das Medi­um der Erin­ne­rung hat immer Ein­fluss auf den Inhalt, der nicht als vom Medi­um des Erin­nerns unab­hän­gi­ge Sinn­ein­heit gedacht wer­den kann. Jedes Medi­um bringt sei­ne eige­nen Regeln und Para­me­ter mit, die den Pro­zess des Erin­nerns beein­flus­sen. Line Hoven macht es sich wahr­lich nicht leicht, die Geschich­te ihrer Fami­lie in eine weni­ger flüch­ti­ge Form als die der münd­li­chen Über­lie­fe­rung zu über­füh­ren. Sie erzählt die Geschich­te in Bil­dern, die sie mit viel Auf­wand und Geduld Stück für Stück in Schab­kar­ton ritzt. Die­se Tech­nik erlaubt kei­ne schnel­len Stri­che wie mit Stift und Tusche. Es braucht sei­ne Zeit, bis die detail­ge­nau­en Bil­der entstehen.

Das macht die Erin­ne­rungs­ar­beit hier tat­säch­lich zu einem gro­ßen Stück Arbeit. Im müh­se­li­gen Abscha­ben der Ober­flä­che des Scratch­boards sieht Andre­as Platt­haus die adäqua­te Tech­nik für das The­ma der Erin­ne­rung: “Das Frei­krat­zen von Hel­lig­keit aus der schwar­zen Ober­flä­che ent­spricht wie kein ande­res gra­phi­sches Prin­zip dem Vor­gang der Erin­ne­rung. Das hat aber selt­sa­mer­wei­se kaum einer der Vor­gän­ger von Line Hoven berück­sich­tigt. Sie nut­zen die spe­zi­fi­sche Erschei­nungs­wei­se des Medi­ums Schab­kar­ton viel­mehr zur Dar­stel­lung von Nacht­mah­ren und dunk­len Phan­tas­ma­go­rien. Charles Burns wäre hier zu nen­nen, Tho­mas Ott selbst­ver­ständ­lich, oder Anke Feuch­ten­ber­ger, Hol­ger Fickel­sche­rer und Hen­ning Wagen­breth, die sich trotz ihrer düs­te­ren Arbeits­wei­se und The­men Anfang der neun­zi­ger Jah­re den strah­len­den Namen PGH “Glü­hen­de Zukunft” gege­ben hat­ten. Line Hoven aber ist die ein­zi­ge unter ihnen allen, die der dunk­len Erschei­nung des Schab­kar­tons etwas Glanz ver­leiht durch ihre Geschich­te, deren gutes Ende von Beginn an fest­steht, weil sie ja auf sie selbst hinausläuft.”

Mit der Schab­tech­nik, die eine genaue Pla­nung für jedes ein­zel­ne Bild for­dert, erzielt Line Hoven einen Effekt, der die Künst­lich­keit der Bil­der unter­streicht und sie zugleich belebt, indem selbst die wei­ßen Stel­len noch leich­te Spu­ren des Abtra­gens preisgeben.

Des­halb bezeich­net Andre­as Platt­haus Lie­be schaut weg zurecht als “ein[en] Comic, der in jeder Hin­sicht erstaunt: betreffs des Raf­fi­ne­ments sei­ner Ober­flä­chen­ge­stal­tung, die bis­wei­len gera­de­zu plas­tisch ist, betreffs der Genau­ig­keit des zeit­his­to­ri­schen Dekors und betreffs der tie­fen Glaub­wür­dig­keit sei­ner Figuren.”