Interview mit Ferdi Degirmencioglu
von Helen Hockauf
Zum Theater an die Volkshochschule? Man hat ein gewisses Bild im Kopf von Allzweckräumen und Selbstverwirklichung. Dass dem nicht so ist, zeigen Ferdi Degirmencioglu (Regie) und Petr Kuschmitz (Schauspieler, Komponist) mit ihrem Theaterprojekt, in dem Professionelle und Laien aus dem internationalen Theaterbereich zusammenarbeiten. Die VHS ist dabei der Ort, an dem sie zusammenkommen – der Ort, der Menschen anspricht, die gerade in Deutschland angekommen sind, mit Deutschkursen und einem vielfältigen Angebot, die Kultur des neuen Landes kennen zu lernen und an ihr mitzuwirken. Degirmencioglu inszeniert sonst zum Beispiel erfolgreich in der Türkei. Das theater.interkultur ist ein Projekt, mit dem er in Augsburg Teil einer Theaterszene geworden ist, die neben dem Stadttheater viele kleine Gruppen aufweist und ihr so immer neue Impulse geben kann – für ein kulturelles Miteinander.
SCHAU INS BLAU: Herr Degirmencioglu, Sie leiten die Theatergruppe als Regisseur und Dramaturg an der VHS Augsburg. Wie sind Sie dazu gekommen?
FERDI DEGIRMENCIOGLU: Die Idee zu diesem Projekt hatten Frau Dr. Hafner von der VHS Augsburg und Herr Thomas Weitzel vom Kulturbüro Augsburg. Herr Petr Kuschmitz, mit dem ich dieses Projekt gemeinsam gestalte, und ich wurden gefragt, ob wir bereit wären, so ein Projekt mit aufzubauen. Das Konzept gefiel uns gut und die Aussicht, Migranten eine Tür zur Hochkultur im Stadttheater, einem der Kooperationspartner des Projektes, zu öffnen war für uns sehr reizvoll.
SCHAU INS BLAU: Was war Ihre Intention in dieser Theatergruppe mitzuwirken?
ANNA WEISS (RUSSLAND): Seit zwei Jahren nehme ich an dem Projekt Theater.interkultur teil. Ich bin russische Muttersprachlerin und vor mehreren Jahren aus St. Petersburg nach Deutschland gekommen. Einer der Beweggründe für die Teilnahme an Theater.interkultur ist mein Interesse an interkulturellen Themen.
Weiterhin sehe ich die Teilnahme als eine Bereicherung, die meine Persönlichkeitsentwicklung in einigen Punkten geprägt hat. So konnte ich einige Sprachbarrieren abbauen, sowie Hemmungen beim freien Sprechen verringern. Ich fühle mich wohl in einer vielfältigen Gruppe, die aus Teilnehmern aus verschiedenen Kulturkreisen und Berufen besteht. Durch die Teamarbeit kann man von den anderen lernen. Und es macht auch einfach Spaß, dabei zu sein!
Außerdem hat Theater für mich persönlich einen hohen Stellenwert. Ich sehe das Interesse am kulturellen Leben, wie Theater, Musik u.s.w. als unabdingbaren Bestandteil des Lebens. Der Erfolg unserer Gruppe ist dabei in großen Teilen der Leitung durch unseren Regisseur und unseren Schauspieler/Komponisten zuzuschreiben. Für deren Arbeit bin ich sehr dankbar!
ÖMER PEKER (TÜRKEI): Ich für meinen Teil bin vor allem wegen des Theaters dabei. Wenn ich mein Interesse an Theater in so einem Rahmen kompensieren kann, ist es für mich umso reizvoller. Als jemand mit Migrationshintergrund gibt es leider nicht so viele Möglichkeiten, seine Präsenz in der Gesellschaft zu zeigen. Besonders wenn es Kultur betrifft.
SCHAU INS BLAU: Sie vereinen in Ihrer Gruppe verschiedene Nationalitäten. Jeder kann bei Eignung über die VHS bei Ihnen mitmachen. Welche Eigenschaften muss man mitbringen, um mitzumachen?
FERDI DEGIRMENCIOGLU: Wir begannen das Projekt mit dem Anspruch, eine Basis von Darstellern aus unterschiedlichen Kulturen aufzubauen, die in der Lage sind, anspruchsvolle Themen auf der Bühne umzusetzen. Wir sehen uns in der Verantwortung, der oft auch in Augsburger Medien behaupteten und diskutierten Gefährdung der deutschen Hochkultur allein durch die Integration von Migranten entgegenzuwirken. Daher führen wir unsere Teilnehmer behutsam an zuerst kleinere, später größere Rollen heran, bilden sie aus und versuchen sie nicht zu überfordern. Wir nutzen deutsche Spielpartner, die sprachliche Vorteile mitbringen und an denen Migranten sich orientieren und anlehnen können. Daher ist es notwendig, die Gruppe etwas selektiv aufzubauen, um die Migranten nicht wieder in die zweite Reihe zu stellen und sie nur als sprechende Kulissen auf der Bühne zu nutzen, wie es leider gerade in vielen Produktionen mit den aktuellen Flüchtlingen geschieht. Petr Kuschmitz ist ein in Tschechien ausgebildeter Schauspieler und Musiker mit langjähriger Staatstheatererfahrung in Reichenberg und Prag. Ich, als Regisseur, habe, neben den Inszenierungen die ich machte, lange Jahre als Theaterpädagoge unter anderem als Dozent an der früheren Schauspielschule Zerboni gearbeitet.
SCHAU INS BLAU: Wie laufen Ihre Proben ab?
FERDI DEGIRMENCIOGLU: Wir erarbeiten pro Jahr ein Stück und führen es Ende Juli, als Programmteil des Augsburger Friedensfestes, auf. Im Herbst beginnen wir mit Workshop-Elementen und etwas Schauspieltraining. In der Folge, wenn die Rollen endgültig verteilt sind, ist es eine übliche Theaterinszenierung mit allen inhaltlichen Auseinandersetzungen und technischen Herausforderungen.
SCHAU INS BLAU: Welche Rolle spielen Theater und Musik im interkulturellen Miteinander? Welche Möglichkeiten entstehen?
FERDI DEGIRMENCIOGLU: Theater war immer schon ein Ort, an dem Menschen sich artikulieren konnten ohne unterbrochen zu werden. Bereits in der Antike haben Gesellschaften ihre Sorgen und Ängste auf der Bühne verarbeitet, indem sie ihren Protagonisten die Gelegenheit gaben, ihre Positionen zu vertreten. Auslöser waren oft grausame Geschehnisse, die immer nicht nur den einzelnen bedrohten, sondern auch das Gesellschaftssystem, in dem sie geschahen. Jedenfalls suchte man Lösungen, die am Ende selbst die Götter besänftigen sollten. Wir erleben erneut grausame Katastrophen und brauchen unbedingt Orte, an denen wir diese Eindrücke aus verschiedenen Perspektiven beleuchten und verarbeiten können. Das gilt für jede einzelne Gruppierung in unserer Gesellschaft. Kulturelle Teilhabe ist eine unbedingte Notwendigkeit, um Menschen und vor allem Jugendliche auf der Suche nach Orientierung nicht in die Arme von Hetzern zu treiben. Allein eine Haltung zu haben genügt in der Gegenwart nicht mehr, wir müssen Verantwortung übernehmen.
Musik hat den großen Vorteil, dass sprachliche Unsicherheiten, die das Selbstbewusstsein von Migranten oft schwächen, aufgelöst werden können. Eine große Schwierigkeit für Migranten ist oft der fehlende emotionale Bezug zu den Wörtern der neuen Sprache. Mit der Musik können Künstler ihre Emotionen ausdrücken und werden vielleicht sogar durch ihre Musik von Leuten, die sich für sie interessieren, besser verstanden. Ob Theater oder Musik, wir versuchen mit unserer Arbeit Ängste abzubauen, bei den Darstellern mit denen wir arbeiten, wie auch bei den Zuschauern, die angesichts des wachsenden Bevölkerungsanteils von „Fremden“ ein unwohles Gefühl in sich verspüren.
SCHAU INS BLAU: Sie arbeiten zusammen mit dem Stadttheater. Wie sieht diese Kooperation neben der Bereitstellung der Spielstätte im Hoffmannskeller aus?
FERDI DEGIRMENCIOGLU: Das Stadttheater Augsburg unterstützt uns mit der dramaturgischen Begleitung des Projekts. Sie versuchen uns die Infrastruktur eines professionellen Theaters zu ermöglichen ohne zu sehr auf die Inhalte, die wir thematisieren wollen, Einfluss zu nehmen. Wir haben eine sympathische Koexistenz, die einen ersten Anfang darstellt und mittlerweile seit sechs Jahren fortgeführt wird. Manche Entwicklungen brauchen eben Zeit. Wir wollen niemanden überfordern. Verständlicherweise müssen wir feststellen, sind Migranten für das Stadttheater nicht wirklich relevant, viele der Schauspielleiter in Deutschland sehen in ihrem Zielpublikum nur das Bildungsbürgertum, das sich ihrer Meinung nach nicht für Produktionen von und mit Migranten interessiert. In Augsburg war es nur das persönliche Engagement der Intendantin, das eine Zusammenarbeit erst ermöglichte.
SCHAU INS BLAU: Nach welchen Kriterien wählen Sie die Stücke aus, die Sie spielen?
FERDI DEGIRMENCIOGLU: Wir suchen nach aktuellen Stücken, die Themen behandeln von denen wir glauben, dass wir zu ihnen eine andere Wahrnehmung haben und denken es wäre von gesellschaftlichem Interesse diese Geschehnisse auch aus einer anderen Perspektive zu betrachten. Daher bauten unsere Stücke in den letzten vier Jahren aufeinander auf. In diesem Zyklus erzählte unser erstes Stück von den Gründen, warum Menschen ihre Heimat verlassen oder verlassen müssen aufgrund von sozialen und politischen Umständen. Darauf folgte eine französische Komödie über die Geschichte der Migration in Europa, die Ausbeutung, die damit verbunden war, den Vorurteilen, die sie begleitete und schließlich ging es um die Ängste, die in einer Bevölkerung wuchsen und die zu einem Verlust des eigenen Heimatgefühls führten. Der klassische Nährboden für jede rassistische Bewegung in einer Gesellschaft. Vor zwei Jahren wiesen wir mit „Kassandra“ auf die Flüchtlingskatastrophe im Mittelmeer hin und die Verzweiflung, die in einer Gesellschaft entsteht deren Werte sich plötzlich in Frage stellen. In „Verbrennungen“ letztes Jahr wurde deutlich, dass viele Kulturen noch in ihren archaischen Traditionen verharren und die Spirale der Gewalt, die daraus folgt alles zerstört, was an menschlichen Werten existiert.
SCHAU INS BLAU: Ihr vorletztes Stück war „Kassandra oder die Welt als Ende der Vorstellung“. Ein Stück, das Geschichten von Flüchtlingen, Journalisten und Theatergängern erzählt – das also per se schon interkulturell ist, da es verschiedene Blickwinkel auf die erfahrene und präsentierte Welt darlegt. Was war Ihnen bei dieser Inszenierung, die sehr gut in Augsburg ankam, wichtig?
FERDI DEGIRMENCIOGLU: Uns ist erst einmal wichtig, dass wir nicht als Besserwisser auftreten. Dass wir in der Truppe, deren Haltung sich aus verschiedenen Kultureinflüssen zusammensetzt, eine gemeinsame Sicht, die zu der Problematik entstanden ist, abbilden. „Kassandra“ kam uns entgegen, weil es sich nicht darauf beschränkte, die Tragödie eines einzelnen Flüchtlingsschicksals darzustellen. Diese Realität ist für sich grausam genug. Genauso wichtig war für uns aufzuzeigen, was diese Geschehnisse mit jedem einzelnen von uns machen, wie sich unsere Wertegesellschaft in Frage stellt und wie absurd es ist, die Tragödien, die um uns herum geschehen, übersehen zu wollen und zu glauben, man kann die Katastrophe lokal begrenzen. Uns war wichtig, deutlich zu machen, dass die Welt sich in Bewegung setzt, zu Fuß, mit Bussen und mit völlig überfüllten Booten, und es höchste Zeit ist, über die Ursachen, die für das Leid dieser Menschen verantwortlich sind, nachzudenken und zu handeln. Manche Probleme sind vielleicht tatsächlich gerade unlösbar, aber unerträglich ist die Heuchelei, die damit verbunden ist.
SCHAU INS BLAU: Was ist ihr nächstes Stück, das dieses Jahr am 22.7.16 Premiere hat und wovon handelt es?
FERDI DEGIRMENCIOGLU: In diesem Jahr spielen wir ein Stück von Martin Heckmanns, „Wörter & Körper“. Erneut ein aktuelles Stück von einem außergewöhnlichen, deutschen Gegenwartsautoren. Es ist eine humorvolle, poetische Tragödie und handelt von einer jungen Frau, die durch unglückliche Lebensumstände die Bindung zu der Gesellschaft verloren hat und trotz aller Bemühungen nun keinen Anschluss mehr findet. In ihrer Naivität und Klarheit hilft sie allen Menschen, mit denen sie in Kontakt kommt, sich neu zu orientieren, ohne dass sie selbst davon profitieren kann. „Wörter und Körper“ haben für sie ihren Sinn verloren und sie schafft es nicht, diesen Sinn wiederzufinden. Ihr einziger letzter Wunsch ist, dass ihre Geschichte erzählt wird, was tatsächlich auch von zwei Stadtstreichern an den Aufführungsabenden gemacht wird.
SCHAU INS BLAU: Was kann das interkulturelle Theater, was den anderen Theatern Augsburgs fehlt? Was soll Theater allgemein in der Gesellschaft können?
FERDI DEGIRMENCIOGLU: Wir können jetzt nicht behaupten, dass irgendeinem Theater in Augsburg etwas fehlt und zu behaupten, dass wir das alles besser können, wäre arrogant. Wir glauben allerdings, dass der interkulturelle Bereich in der Zukunft ein wichtiger Teil in der Kulturlandschaft einer Stadt sein muss. Wir teilen natürlich die Existenzsorgen von anderen freien Theaterorganisationen in Augsburg, allein was uns von ihnen unterscheidet ist, dass wir uns zusätzlich um eine gesellschaftliche Anerkennung von fast der Hälfte der Augsburger Stadtbevölkerung bemühen.
Damit haben wir aber auch schon alles gesagt.
Alles Weitere handelt nur noch von der Integration in bestehende Strukturen, worum wir uns mit unserem Projekt am Stadttheater bemühen. Während über Jahre hinweg das Entstehen von Parallelgesellschaften mit extrem gehässigen Kommentaren in der Politik und den Medien kritisiert wurde, war man in der gleichen Zeit zufrieden, sie im Kulturbereich erhalten zu haben. Inzwischen haben kluge Menschen in vielen Städten erkannt, dass diese Haltung katastrophale Folgen hatte, und die neue Generation von Migranten bekommt Zugang zu Schauspielschulen u.s.w. Selbst eine türkische Intendantin gibt es am Gorki Theater in Berlin. Man muss jetzt nicht übermütig werden und so etwas überall fordern. Es ist aber beruhigend, dass es zumindest nicht mehr als unerhört betrachtet wird, wenn Migranten auch Verantwortung in kulturellen Führungspositionen einnehmen.
Theater sollte neben seinem künstlerischen Anspruch auch ein Spiegel unserer Gesellschaft sein. Wir weisen also noch einmal auf die Vielfalt der Kulturen hin, die inzwischen einen hohen Anteil im Stadtbild einnehmen und die ebenfalls ein natürliches Bedürfnis nach künstlerischer und kultureller Betätigung haben. Daraus folgt, Theater muss uns helfen, ein besseres Verständnis für die Geschehnisse und Entwicklungen der Gegenwart zu erlangen. Mehr noch als alle anderen Institutionen muss das Theater seine Türen öffnen, die Menschen aller Schichten zu sich einladen, sie zum Nachdenken anregen. Theater muss Position beziehen und versuchen, vorhandene Defizite, die an anderer Stelle zur Unterdrückung künstlerischer Arbeit von Minderheiten führen, auszugleichen. Theater hat eine Vorbildfunktion und muss Perspektiven eröffnen. L’Art pour L’Art war eine Revolution und keine Rechtfertigung, warum man sich nur um die Kunst kümmert. Theater sollte nicht auf Lügen aufgebaut sein, Qualität fördern und versuchen, die eigene Kompetenz ständig zu erweitern. Theater sollte sich erneuern und nicht nur Selbstzweck sein.
Ferdi Degirmencioglu wurde 1960 in Istanbul geboren. 1964 kam er als Sohn einer türkischen Gastarbeiterfamilie der ersten Generation nach Deutschland. In Augsburg absolvierte er ein Architekturstudium an der FH Augsburg. Seine Theaterbegeisterung begann bereits 1975 als Statist am Theater Augsburg. Es folgten sehr viele Theaterprojekte. Inzwischen hat er über sechzig Stücke inszeniert, arbeitet mit Migranten und Jugendlichen, gibt Lehrerfortbildungen für die Regierung von Oberbayern und war mehrere Jahre als Dozent an der Schauspielschule Zerboni in München tätig. Gegenwärtig werden zwei Inszenierungen von ihm am Türkischen Staatstheater und in der zweiten Saison am Kunsttheater Ankara gezeigt.