von Carolin Hensler
Vor dem Krieg hatten Opa Richard und Oma Elsa das Haus gebaut, lange ist das her, beinahe sieben Jahrzehnte. Viel gemeinsame Zeit war ihnen in ihrem neuen Eigenheim nicht vergönnt, denn kurz nach Fertigstellung des Hauses brach der Krieg aus, und nach der Kapitulation der Deutschen kamen die Russen mit ihren Offiziersfamilien. Das Haus wurde beschlagnahmt, und mit ihm verschwand hinter Betonmauern und Stacheldraht alles, was Opa Richard und Oma Elsa besaßen. Jahre später, nach der Wende, fällt das „Russenhaus“ in Familienbesitz zurück. Clara, die ältere zweier Schwestern, zieht in die baufällige Ruine und steckt Kraft, Zeit und Geduld in den Wiederaufbau. Die jüngere Schwester indes beneidet sie um das Erbstück, fühlt sie sich den vielen alten Erinnerungen, die es umgeben, doch sehr viel mehr verbunden als Clara. Und so sucht sie regelmäßig für zweieinhalb Tage Zuflucht bei ihrer Schwester, immer dann nämlich, wenn wieder eine ihrer Beziehungen in die Brüche gegangen ist. Aus Angst, sie könne vom Haus zu sehr Besitz ergreifen, setzt Clara ihre kleine Schwester konsequent nach Ablauf der Frist vor die Tür. Doch an Weihnachten ist auf einmal alles anders: auch Hannes, Claras Ehemann, ist verschwunden. Das Schwesterchen bleibt und treibt die verbitterte Clara Stück für Stück ins Leben zurück. Während Clara an die Ostsee verreist und allmählich mit sich klarzukommen beginnt, kümmert sich die kleine Schwester um das leer stehende Haus, insbesondere um Oma Elsas zweites Erbstück, ein siebzig Jahre altes Einweckglas mit Blaubeeren aus dem hauseigenen Garten. Doch je mehr Zeit sie allein innerhalb der alten Mauern verbringt, desto mehr fühlt sie sich von Stille und Einsamkeit erschlagen. Als Hannes plötzlich unvermutet wieder vor der Tür steht, schenkt sie ihm nur wenig Beachtung; kurzerhand greift sie zum Löffel und beginnt, das über Jahre hinweg gehütete Familienerbe Blaubeere für Blaubeere aufzuessen.
Warum ein Buch über Blaubeeren? Geht es überhaupt um Blaubeeren, oder spielt vielleicht ein ganz anderer Aspekt eine viel bedeutendere Rolle? Marion Boginskis Roman scheinen auf den ersten Blick tatsächlich verschiedene Handlungsschwerpunkte zu Grunde zu liegen. Da ist zum Einen der Konflikt zwischen den beiden ungleichen Schwestern: einer jungen stürmischen Frau, die durchs Leben stolpert und dabei nur allzu oft auf die Nase fällt, und der älteren Schwester Clara, die immerzu beherrscht und distanziert wirkt, in ihrem neuen Eigenheim mit Ehemann Hannes jedoch ein vermeintlich perfektes Eheleben zu führen scheint. Zum anderen die unaufgearbeitete Lebensgeschichte der verstorbenen Großeltern, deren ewige Anekdoten über das Erbhaus selbst nach ihrem Tod kein Ende nehmen wollen; dann die demenzkranke Mutter, die ins Altersheim abgeschoben wurde und sich nur noch für wenige Dinge im Leben öffnet. Die Riege an in die Brüche gehenden Beziehungen, nicht zuletzt Claras zu scheitern drohende Ehe mit Hannes und die verzweifelten Versuche der jüngeren Schwester, ihr Verhältnis zu dem Halbrussen Karl aufrecht zu erhalten.
Die Vielzahl an Handlungssträngen legen den Verdacht nahe, Marion Boginski verfolge die Absicht, auf dünnen 218 Seiten ein Familienepos in moderner Zeit zu dokumentieren. Gebündelt sind diese Handlungsstränge in der Replik des Blaubeereinmachglases von Oma Elsa, welches nicht nur ein Symbol für die Geschichte des „Russenhauses“ ist, sondern das gesamte Zeitgeschehen dreier Familiengenerationen dokumentiert. Das Glas erfährt im Verlauf des Romans einen Sprung. Es droht zu zerbrechen. Viel zu lange ruhte es im Keller des Hauses, bildete das Fundament der Familiengeschichte. So sieht es nach langem Hadern die jüngste Schwester und befreit sich und ihre Schwester kurzerhand im Akt des Blaubeer-Aufessens von der geerbten Last der Vergangenheit. Oma Elsas Blaubeeren verschwinden, es gibt kein Familienerbstück mehr zu hüten, das Haus ist renoviert, seine Bewohner befinden sich erfolgreich auf Sinnsuche. Und so kann man sagen, Marion Boginski legt ihren Figuren mit dem Ende ihres Romans den Schauplatz für das eigentliche Leben zugrunde, das mit den verzehrten Familienerinnerungen nun erst richtig beginnen kann.
Marion Boginskis Roman versucht Neues zu schaffen – und das auf unkonventionelle Weise. Ihrem Roman scheint es an einem einheitlichen Erzählmuster zu mangeln, er scheint ebenso wenig Mitte zu besitzen wie seine Charaktere. Stattdessen lebt er vom subtilen Witz der Sprache, vom angenehm naiv-unschuldigen Denken und Handeln der jüngeren Schwester und der unterschwelligen Allgegenwärtigkeit Oma Elsas. Auch in der sprachlichen Umsetzung der Handlung, anhand von Dopplungen und Stakkatoform, spiegelt sich die Verlorenheit der Figuren wider; geschickt spielt Boginski mit ihren Figuren, schickt sie durch die Geschichte ihrer Familie als wären sie Teil eines Brettspieles, dessen Spielfläche ein Blaubeerglas und dessen Symbolik darstellt. Sieger des Spieles sind letzten Endes die Frauenfiguren des Romans: da wurde nicht nur lecker gegessen, sondern auch ein bisschen Selbstläuterung betrieben. Und ganz nebenbei hat man sich nicht nur eines lästigen Mannes, sondern auch einer lästigen Familiengeschichte entledigt.
Marion Boginski
Elsas Blaubeeren
Aufbau Verlag Berlin, 2009
218 Seiten