Ein Gespräch mit Christiane Neudecker
von Manuel Illi und Agnes Bidmon
“Ich bin kein Journalist, ich bin kein Freiheitskämpfer, ich bin Autorin, und ich hoffe, dass über diesen Weg, diesen literarischen Weg, eine Geschichte über dieses Land zu erzählen, sich die Leute dem Land vielleicht verbundener fühlen als es durch rein theoretisches Anlesen von Tabellen oder Auswertungen der aktuellen Situation möglich ist.”
Schau ins Blau traf die Regisseurin und Autorin Christiane Neudecker, um mit ihr über das Mensch-Sein, über Macht und Menschenrechte zu sprechen und darüber, inwiefern die Reflexion über ethische Anliegen mit der Verantwortung eines Autors für seine Geschichte(n) korreliert. Den Ausgangspunkt dafür bildet in jedem Fall eine Reise, auf der man dem Fremden, der man nicht zuletzt auch selbst ist, begegnet.
Schau ins Blau: Liebe Frau Neudecker, die Arbeit an Ihrem Buch Nirgendwo sonst, das in Burma spielt, hat schon lange vor der blutigen Niederschlagung der Widerstandskämpfe im Jahr 2007 begonnen. Wie haben Sie diese Katastrophe erlebt als jemand, der das Land nicht nur bereist, sondern sich auch aufgrund der Recherchen intensiv mit dem Land auseinandergesetzt hat?
Christiane Neudecker: Als sehr schmerzvoll und sehr hilflos, weil man von hier sehr wenig machen kann. Es hat ja auch generell eine große Ratlosigkeit geherrscht, auch innerhalb der einzelnen Nationen, die ja auch tatsächlich nicht einschreiten konnten, unter anderem weil China geblockt hat. Und man begreift dann eben, wie klein man ist im großen Weltgefüge — das man zwar mitfühlen kann und versuchen kann, sich einzusetzen, aber dass es de facto sehr, sehr schwierig ist, von hier aus wirklich zu agieren.
Schau ins Blau: Resigniert man im Anschluss an solche Ereignisse eher in Anbetracht der individuellen Machtlosigkeit und beginnt man an demokratischen wie menschlichen Werten zu zweifeln? Oder betrachten Sie allein den Aufstand an sich und die Berichterstattung darüber in der ‚freien Welt’ als zwar schmerzhaften, aber notwendigen Prozess auf einem möglichen Weg hin zu langfristiger Veränderung, ähnlich wie auch Mr. Khin in Ihrem Text das Eintreffen der Rucksacktouristen bewertet?
Christiane Neudecker: Ich hoffe letztendlich, dass es so ist, ich weiß es natürlich nicht. Aber es ist im Moment das Einzige, was noch bleibt, dass auch die Weltöffentlichkeit aufmerksam wird, und leider hat die Aufmerksamkeit wieder abgenommen innerhalb der letzten Monate. Selbst nach Nargis, wo das Interesse noch mal kurzzeitig aufflammte; aber selbst zu diesem Zeitpunkt hatten die meisten schon wieder vergessen, was das für ein Land ist, um das es sich überhaupt dreht, und die Situation dort hat sich natürlich keinesfalls verbessert, sondern drastisch verschlechtert. Der Mangel an Berichterstattung ist erschütternd zu sehen, nicht zuletzt weil es auch keine medienwirksamen Bilder gibt und die Kommunikationsunterbindung seitens des Militärs natürlich voll aufgeht. Aber hoffnungslos bin ich deswegen noch lange nicht. Wenn die Menschen dort noch Hoffnung haben können, dann sollten wir das natürlich auch. Und ich hoffe, dass ich mit dem Buch zumindest einen kleinen Beitrag leiste, dass das Land in irgendeiner Form präsent bleibt.
Schau ins Blau: Welche Rolle können in Anbetracht solch lebensweltlicher Realitäten Kunst, Ästhetik, Literatur — und eben auch gerade Bücher wie Ihres — spielen, die politische Missstände und Menschenrechtsverletzungen explizit thematisieren? Verfolgen Sie als Autorin eine Art aufklärerischen Anspruch und möchten der Welt „die Wahrheit über dieses Land erzählen”, wie es ja auch in einem programmatischen Satz in ihrem Buch heißt? Oder ist das Schreiben eher als ein subversiver Beitrag zu werten, als einzig möglicher Beitrag, um auf diese Art ein totalitäres Regime auszuhöhlen?
Christiane Neudecker: Ich denke, es kann immer nur ein individueller Beitrag sein. Ich halte sehr wenig davon, wenn Schriftsteller zu Sonntagspredigern werden oder zu Marktschreiern. Es geht ja letztendlich immer um einen sehr subjektiven Blick, der ist in diesem Fall natürlich stark politisch eingefärbt. Das wohl einfach aufgrund der Tatsache, dass ich das Glück hatte, in einer Demokratie groß zu werden und dann natürlich ein ganz anderen Blickwinkel habe auf solch ein totalitäres Regime. Aber ich denke man kann, man sollte als Schriftsteller aufmerksam machen und hoffen, dass einem das gelingt — natürlich mit den Mitteln eines Schriftstellers. Ich bin kein Journalist, ich bin kein Freiheitskämpfer, ich bin Autorin, und ich hoffe, dass über diesen Weg, diesen literarischen Weg, eine Geschichte über dieses Land zu erzählen, sich die Leute dem Land vielleicht verbundener fühlen als es durch rein theoretisches Anlesen von Tabellen oder Auswertungen der aktuellen Situation möglich ist.
Schau ins Blau: Ist vielleicht deshalb gerade Literatur das Medium, in dem man ethische Fragen in all ihrer Vielschichtigkeit besonders gut oder vielleicht sogar genuin darstellen kann — im Vergleich zu dem von Ihnen schon angesprochenen Journalismus oder auch zur Philosophie, wo man ethische Fragen zuerst ansiedeln würde?
Christiane Neudecker: Ich möchte das nicht unbedingt generalisieren, aber für mich ist es natürlich ein sehr guter Weg. Gleichzeitig ehrt es mich tatsächlich sehr, wenn Amnesty International im Monatsjournal auf mein Buch aufmerksam macht. Dadurch sehe ich, dass es durchaus eine reale Verankerung des Fiktiven bei den Leuten gibt, die sich wirklich aktiv einsetzen. Man positioniert sich letztendlich ja doch immer. Sei es in einem Essay, sei es in der Philosophie, oder sei es dann eben auch in der Literatur. Man kommt aus der moralischen Verantwortung nie heraus. Deswegen finde ich auch, es gibt keine unpolitischen Autoren. Selbst in dem Moment, in dem sie sich selbst als solche bezeichnen, zeigen sie ja auch schon wieder, dass sie aus einer Wohlstandsgesellschaft kommen, die sich das leisten kann. Deswegen ist es ein sehr zweischneidiges Schwert, aber für mich und in diesem speziellen Fall war es tatsächlich auch der einzige Weg, agieren zu können, oder der richtige Weg. Ich habe insgesamt dreieinhalb Jahre an dem Buch geschrieben, und in dem Zeitraum wusste man überhaupt nichts über Burma. Wenige wussten überhaupt über das Land Bescheid und tatsächlich ist die Endphase des Schreibens zusammengefallen mit den Demonstrationen, wie es auch hinten im Buch steht. Das war eine ganz merkwürdige Konstellation: Ich steckte so tief in dem Buch drin und überarbeitete gerade die Szene mit den Mönchen, und im Hintergrund liefen diese Mönche über den Fernsehbildschirm bei NTV — wirklich in endlosen Schlangen. Das war ein sehr merkwürdiges Ineinandergreifen von Fiktion und Realität. Für mich war das jedenfalls der richtige Weg und das Buch hat ja tatsächlich auch viele Leser gefunden, die sich dafür interessieren und auch erwärmen konnten.
Schau ins Blau: Diese ethische Verantwortung, von der Sie gesprochen haben, die der Autor zwangsläufig hat, ist also keine Last, gerade bei diesem Thema?
Christiane Neudecker: Sie ist vorhanden — in jedem Fall und egal was man schreibt. In dem Moment, in dem ich mich äußere, positioniere ich mich. Eigentlich ideal, wenn man das innerhalb von Geschichten tun darf.
Schau ins Blau: Als Autorin nehmen Sie somit ja eine sekundäre Beobachterperspektive ein und unterbreiten dem Leser das Angebot, die Reise in das Land und in diese Geschichte mit anzutreten.
Christiane Neudecker: Ja und Nein. Einerseits natürlich schon, also von Seiten der Autorin her. Anderseits aber muss ich als Autorin ja auch in die Haut eines Protagonisten kriechen. Und dieser Protagonist wird nicht nur durch das Land sehr verwirrt sondern ist zudem in sich schon sehr erschütterbar — warum, erfährt man im Laufe des Buches. Gerade deswegen gehen ihm die dortigen Verhältnisse extrem unter die Haut. In diesem Moment, in dem ich also aus der Sicht dieser Figur schreibe, bin ich natürlich wesentlich involvierter als wenn ich ein von außen Herangehender wäre.
Schau ins Blau: Werden diese Multiperspektivität und auch die Verwirrung, die sich sowohl im Protagonisten als auch im Motto des Buches manifestieren, letztlich auch in der Erzählperspektive gespiegelt? Schließlich befindet sich die Erzählsituation ja in einem permanenten Wechselspiel zwischen der personalen Du-Erzählung und einer auktorialen Erzählperspektive. Eröffnet dieses Zusammenspiel nicht sogar eine Art von Zwischenraum, ein Drittes, das für die individuellen Reflexionen und das Mitdenken des Lesers reserviert ist, der sowohl als eine Art Detektiv wie auch als Psychologe und Therapeut den Protagonisten auf seiner Reise begleitet?
Christiane Neudecker: Das kann man auf jeden Fall so sehen. Gerade dieser Wechsel zwischen dem Ich-Er-Du, diese ganze Verwirrung, die in dem sich selbst sehr entfremdeten Protagonisten stattfindet, lässt sich dadurch natürlich besonders gut ausdrücken und gleichzeitig auf den Leser übertragen. Insbesondere am Anfang gibt es ja deshalb auch Sequenzen, die wie eine Art Störsender dem namenlosen Reisenden Gedanken, direkte Ansprachen zwischenfunken, obwohl er eigentlich gerade mit seinem Kopf und seinem Körper ganz woanders ist. Und das sind natürlich Vorboten, die gleichsam den Leser auch zum Detektiv machen, wie Sie richtig sagen.
Schau ins Blau: Kann man die zwei Perspektiven der Erzählweise vielleicht auch als eine Allegorie auf politische Systeme deuten? In der Form, dass die personale Sichtweise eher den Individualismus der Demokratie repräsentiert, wohingegen die auktoriale Perspektive stellvertretend für den Totalitarismus und das machtvoll steuernde Regime steht?
Christiane Neudecker: Sicher. Die Doppelgesichtigkeit war generell ein ganz großes Thema. Der Arbeitstitel des Buches war sehr lange Doppelgesichter. Ich wollte den Verlag auch kurz noch mal dahin zurückbewegen, als sie sich für dieses Cover entschieden haben, aber da gab es dann aber kein Rückrudern mehr… Aber die Doppelgesichtigkeit war tatsächlich das Thema, das allem zugrunde liegt: sowohl innerhalb des Landes als auch in der politischen Situation als auch natürlich in der Form des Erzählens. Insofern gibt es da schon so eine dreifache Parallele, die hoffentlich auch den Leser ergreift, weil der immer wieder zwischen den unterschiedlichen Varianten hin- und hergeschmissen wird.
Schau ins Blau: In Ihrem Buch dreht sich also sehr viel um Perspektiven. Um Perspektiven, die man auf andere Menschen und sich selbst richtet. Nicht zuletzt auch um Perspektiven, mit denen man tagtäglich konfrontiert wird — sei es, dass sie einem von anderen Menschen erzählt oder von Medien suggeriert werden. Dies wird insbesondere deutlich, wenn man z.B. an Sine denkt, die sich ja eigentlich in diese Projektion der Fluchtfigur verliebt und nicht unbedingt in den namenlosen Protagonisten selbst. Letztlich wird also auch die Macht der Bilder thematisiert, die man sich macht und die sich andere von einem machen und die alle den Anspruch erheben, ein Stück Wahrheit zu implizieren. Parallel dazu wird aber gleichzeitig aufgedeckt, dass alles den Charakter einer Inszenierung trägt — wie allein schon anhand der Figur des Schauspielers, der Regisseurin und eben auch der Art, wie sich die Protagonisten innerhalb des Textes selbst erzählen, deutlich wird. In welchem spannungsvollen Verhältnis zueinander stehen in diesem Kontext dann also Kategorien von Wahrheit und Lüge, Realität und Fiktion?
Christiane Neudecker: Ich glaube, das Eine gibt es ohne das Andere nicht. Ich glaube jede Realität ist immer in irgendeiner Form inszeniert und in jeder Inszenierung befindet sich immer ein Körnchen Realität. Insofern sind das meistens die zwei Seiten einer Medaille, die sich dann aber doch wieder zu einem Ganzen zusammenfügen. Damit sind wir dann auch wieder bei den Doppelgesichtern. Letztendlich gibt es eben nicht schwarz-weiß, sondern sehr, sehr viele Grauschattierungen und immer das Eine auch im Anderen.
Schau ins Blau: Ein weiteres Leitmotiv Ihres Textes ist ja auch die Dichotomie zwischen dem Eingeschlossen-Sein, und zwar in doppelter Hinsicht: sowohl im eigenen Körper als auch in der Art, welches Bild man von sich entwirft, was ja wiederum Konsequenzen hat und die weiteren Handlungen beeinflusst und vorantreibt. Zudem erfolgt auch hier wieder eine Spiegelung auf die politische Ebene zwischen dem Eingeschlossen-Sein in einem Land gegenüber der Möglichkeit der Flucht hin in die Freiheit. Es wird aber auch vorgeführt, dass die vermeintliche Freiheit, sich entscheiden zu können, stets wieder ein neues Eingeschlossen-Sein und neue Fluchtreflexe mit sich bringt. Ist man also letztlich immer auf der Flucht, gibt es überhaupt ein Entrinnen aus diesem permanenten Fluchtkreislauf?
Christiane Neudecker: Ich glaube auch da, dass die Bewegung auch immer die Gegenbewegung schon letztendlich in sich trägt. Oder auch, dass die Gegenbewegung gebraucht wird, um überhaupt die Schubkraft zu bekommen für die eigentliche Bewegung. Insofern wird es einfach keinen Stillstand geben. Letztendlich hat immer jede Aktivität auch die Passivität als Voraussetzung und umgekehrt aber genauso. Ich glaube tatsächlich, das Thema Flucht ist innerhalb der Geschichte ein großes Thema, denn derjenige, der die Freiheit sucht, den ganz großen Raum, muss sich erst mal in den kleinsten Raum begeben, den er sich vorstellen kann, nämlich in einen Kofferraum. Und da haben wir dann wieder die Gegenbewegung. Und so lange man lebt, wird diese Dynamik nicht anhalten, glaube ich.
Schau ins Blau: Mit dieser Oszillation zwischen all den bereits angesprochenen bipolaren Extremen einher geht ja im Text auch die Frage nach einem festschreibbaren Sinn und einer Identität. Dies wird v.a. deutlich anhand einer redundanten Frage, die den Leser während der Lektüre ständig begleitet: „Where du you come from, where do you go, how long will you stay?” Und nicht zufällig werden gleichzeitig innerhalb des Textes ja auch sinnstiftende Instanzen — oder ehemals sinnstiftende Instanzen — wie politische Systeme oder gerade auch das Konzept von Religion durch die rein touristisch anmutenden Besuche der Tempel ausgehöhlt und repräsentieren nichts mehr Substantielles. Wie kann diesen Lebensfragen, die anhand eines höchst verunsicherten Individuums durchdekliniert werden, in unserer Zeit also begegnet werden?
Christiane Neudecker: Schwierige Frage, denn natürlich habe ich die große Antwort auf diese Sinnsuche auch nicht. Ich kann nur Anregungen geben und mich dann wieder konkret in eine Person und deren Geschichte versetzen und die wieder in Bewegung bringen. Ganz konkret in dem Fall ist es so, dass letztendlich die äußere Bewegung, also das tatsächliche Hinreisen in dieses zweigesichtige Land den Protagonisten ja dann wirklich wieder weiterbringt und zu sich selbst zurückführt. Und das ist in seiner Situation erst einmal das Wichtigste. Tatsächlich glaube ich, dass Begegnungen mit Menschen oder der Austausch wahrscheinlich das ist, was einen immer wieder anregen kann, aus verkrusteten Denkmustern auszubrechen und einem neue Impulse geben kann. Also ist das sicherlich ein Weg, aber ich habe natürlich noch nicht alle Wege ausgekundschaftet.
Schau ins Blau: Welchen Stellenwert kann bei diesem Versuch einer Sinnstiftung das Erzählen einnehmen? Zum einen die Kulturtechnik des Erzählens generell, zum anderen, wie es in Ihrem Roman vorgeführt wird, das Sich-Selbst-Erzählen im Sinne eines Entwurfes eines immer neuen und dynamischen Bildes von sich?
Christiane Neudecker: Also als Autorin muss ich natürlich sagen, dass Erzählen eine der sinnstiftendsten Handlungen überhaupt ist, das ist aber auch so. Aber das gilt natürlich für mich privat, und ich freue mich auch, wenn ich Zuhörer finde. Es muss nicht jeder der große Erzähler sein, denn auch hier ist wieder die Kommunikation das Wichtige: Es muss immer Leute geben, die erzählen, und Leute, die zuhören. Und dann sollte hoffentlich der Austausch beginnen.
Schau ins Blau: Kommunikation ist ein gutes Stichwort: Es gibt ja viel Raum zur Reflexion über die Rolle der Sprache in diesem Buch. Nicht nur durch das schon angesprochene Erzählen, um sich selbst zu konstruieren, sondern die Frage nach der Sprache auch hinsichtlich der Sprachbarrieren. Im Text treffen verschiedenste Landessprachen aufeinander, es begegnen sich Anglizismen mit dänischen und deutschen Satzfetzen. Die Zeichenhaftigkeit und die Vielschichtigkeit von Zeichen ebenso wie die Frage nach der Übersetzung als Dimension der Begegnung sind also ein ebenfalls zentrales Thema. Auch hier kann man wieder an die Figur Sine denken, die man letztlich als Symbol der Zeichenhaftigkeit selbst lesen kann: Sine, die am Ende nicht nur ihre Email-Adresse mit dem paradigmatischen Namen „sign” enthüllt, sondern die auch die Polyvalenz der Benennung selbst verkörpert, indem ihr Name auf Lateinisch „ohne” bedeutet — und somit letztlich also selbst als Hülle, als Projektion fungiert. Welche Rolle spielt also Sprache in diesem Buch?
Christiane Neudecker: Eine Große! Ich war sehr glücklich, als ich damals diesen Namen entdeckt habe und ich habe lange nach ihm gesucht. Der Ausschlag für diesen Namen war tatsächlich, dass man ihn in so vielen unterschiedlichen Benennungen lesen kann und eben nicht nur im Englischen sondern auch im Lateinischen. Sprache spielt immer wieder eine sehr große Rolle, auch in der Misskommunikation, also man versteht sich einfach oft miss, und wenn man global unterwegs ist gleich doppelt und dreifach. Weil man zwar glaubt, man hat mit Englisch eine Brückensprache, aber jeder kommt doch aus einem völlig unterschiedlichen Sprachkulturkreis. Um dies zu erkennen kommt mir meine Arbeit als Regisseurin zu Gute, für die ich sehr oft im Ausland bin und ebenfalls oft selbst mit unlesbaren Übersetzungen konfrontiert bin. Insofern ist das etwas, was mich als Autorin sehr interessiert: Einerseits bringt es die Leute näher, andererseits täuscht es auch Nähe vor, die gar nicht vorhanden ist. Diese Formelhaftigkeit und auch die Doppelbödigkeit von Sprache aufzuzeigen hat mich in dem Buch besonders gereizt.
Schau ins Blau: Ihr Text dreht sich außerdem um Abschied und Neubeginn, um das Thema des Abschied-Nehmens von einem Anderen als einer Möglichkeit des Neubeginns für sich selbst. Ist der Weg des sukzessiven Abschied-Nehmens von seiner so anwesend-abwesenden Freundin für den namenlosen Protagonisten eine Art Katharsis? Schließlich geht er den Weg anfänglich ja bewusst in ihrem Namen und auch in ihrer Identität, aber mit der Geste des Übergebens der Bilder — der Bilder eines anderen Menschen — beginnt schließlich die Konstitution eines eigenen genuinen Selbst, oder zumindest besteht die Möglichkeit dazu…
Christiane Neudecker: Ich hoffe! Ich denke, Trauer ist ein ganz schwieriger Prozess, für den es einfach keine Gebrauchsanweisungen gibt. Und hier, in diesem Fall, gelingt die Gegenbewegung, von jemandem wegzugehen, indem man sich jemand so tief in jemanden hineinversetzt, wie es eigentlich gar nicht möglich ist. Tatsächlich eben maskeradenhaft in diese Identität schlüpft. ‚Die Zeit heilt alle Wunden’ ist so ein Sprichwort… Ich habe selbst einen Satz von Mr. Khin im Text, der sagt: „Trauer kann man nicht durch die Zeitschleife drehen.”. Insofern denke ich, Trauer wird sich immer die Zeit nehmen, die sie braucht. Ich hoffe aber, sie ist heilbar. In diesem Fall sieht es ja ganz so aus.
Schau ins Blau: Ist der finale Abschied von der Regisseurin, die ihn ja buchstäblich beschrieben und geschaffen hat, auch eine Absage an die bis dahin bekleidete Rolle? Immerhin scheint mit der Geste des Ablegens aller Reiseutensilien vor Mr. Khins Haus ja auch ein Ablegen seiner bisherigen Identität des Beschriebenen einherzugehen. Besteht für den Protagonisten dadurch also die Möglichkeit, den Weg jetzt für sich selbst zu gehen, Verantwortung für sich selbst zu übernehmen und ab sofort sein eigenes Drehbuch zu schreiben?
Christiane Neudecker: Auf jeden Fall! So ist es auch gedacht. Dass er jetzt tatsächlich in der Lage ist, sich wieder auf sich zu besinnen, dass er jetzt wieder seine eigenen Erfahrungen macht und dass er sich aus diesem Kokon, in den er sich über den Verlauf des Buches ja auch letztendlich hinein verpuppt hat, gelöst hat. Wie weit er damit kommt, ist noch mal eine andere Sache, aber der Impuls ist jetzt zumindest gegeben. Jetzt muss er das Beste daraus machen…
Schau ins Blau: Kann diese Reise des Protagonisten auch als eine Reise des Abarbeitens an Schuld gelesen werden? Es lassen sich ja immer wieder Anspielungen ausmachen, dass er sich durchaus schuldig fühlt an dem, was seiner Freundin passiert ist. Sei es, dass er nicht da war, als der Brand ausgebrochen ist — aus welchen Gründen auch immer -, sei es dieser subtile Ton zwischen den Zeilen, der einen Suizid nicht ausschließt, indem sie ihm mit der SMS noch eine Art von medial überformtem Abschiedsbrief schickt. Tritt er die Reise also nicht nur aus Trauer an, sondern auch als Möglichkeit, um die eigene Schuld zu überwinden, die er selbst für sich fühlt?
Christiane Neudecker: Sicher! Ich denke, wenn solche Dinge passieren, fragt man sich immer, ob man sie hätte verhindern können. Seien es Unfälle, seien es wirklich Suizide, seien es Krankheiten. Einfach alles was geliebten Menschen zustößt. Man wähnt sich in solchen Momenten so ein bisschen allmächtig und glaubt: Hätte ich — weiß ich nicht — jetzt in diesem Moment noch angerufen, dann wäre sie nicht aus dem Haus gegangen, dann wäre der Laster nicht gleich um die Ecke gekommen… Solche Gedankenketten hat, glaube ich, jeder, wenn solche Dinge einmal ins Leben treten. Andererseits, man hat diese Allmacht nun mal nicht und es werden immer Dinge passieren, die man nicht kontrollieren kann und für die man tatsächlich nicht verantwortlich ist. Egal wie nahe man einem Menschen steht oder gestanden hat. Deswegen habe ich darauf auch nicht zu viel Fokus gelegt. Es war mir wichtig, dass das als unterschwellige Möglichkeit mitspielt, aber das Ganze sollte keine Schuldfahrt werden — es kommt ja auch kurz der Begriff der „Pilgerfahrt” vor; es sollte keine Wiedergutmachung sein, diese Reise.
Schau ins Blau: Die Konstitution des Ichs über die Begegnung mit dem Anderen, die vorhin bereits thematisiert worden ist, wird ja auch als eine gefährliche Sache für das Ich vorgestellt, indem die Überschreitung der Distanz zum Anderen auch immer wieder zu Grenzüberschreitungen dem eigenen Ich gegenüber führt. Wie ist folglich dieses Verhältnis von Nähe und Distanz zu verorten, von Altruismus und Selbstsorge?
Christiane Neudecker: Ich denke auch, bei ihm ist das von Anfang an so eine Art Doppelgesichtigkeit. Nicht nur von der Anlage der Geschichte her. Tatsächlich ist er zwar extrem weit von sich entfernt, aber sich ja trotzdem gleichzeitig ganz nah, weil er nirgendwo anders sein kann in diesem Moment und gar nicht anders handeln kann. Das ist immer noch er: Er ist derjenige, der beschließt, eine fremde Identität als seine auszugeben. Er ist derjenige, der die Entscheidungen trifft. Das heißt, seine Entscheidung ist auch, sich von sich selbst zu entfernen. Und dabei ist er sich dann selbst wieder treu. Also hat man da auch eine Distanz und eine Nähe, die ineinander greifen und völlig untrennbar miteinander verwoben sind.
Schau ins Blau: Ist dieses Von-Sich-Entfernen und die Begegnung mit anderen Menschen und Kulturen eine notwendige Komponente, die den Protagonisten dann letztlich nicht zu seiner ursprünglichen Identität zurück, sondern ihn hin zu einem neuen Selbst führt?
Christiane Neudecker: Ja, ich glaube, er wäre wahrscheinlich in Deutschland gerade nicht untergekommen. Ich bin jetzt nicht unbedingt der Meinung, dass jeder, der Probleme hat, gleich nach Indien auf den Selbstfindungstrip gehen muss. Das will ich auch überhaupt nicht propagieren. Ich glaube aber schon, dass in dem Moment, in dem man innerlich feststeckt, eine äußere Veränderung wieder neue Impulse geben kann. Dazu muss man jetzt nicht unbedingt in ein absolut fremdes Land reisen. Aber ich glaube, wenn man sich äußerlich in Bewegung setzt, auf Menschen zu, auf Länder zu, auf Ereignisse, Begebenheiten zu, dann gibt es da auch wieder so eine Art Echolot und es wird in einem selbst wieder etwas ausgelöst, was dann auch die eigene Festgefahrenheit wieder in Bewegung setzen kann.
Schau ins Blau: Eine abschließende Frage: Hat eigentlich jemand eine E‑Mail an Sines Mail-Adresse geschrieben? Existiert diese Adresse?
Christiane Neudecker: Die gibt es, ja! Mein Lektor hat gesagt, ich soll mir die doch bitte sichern lassen und es sind tatsächlich mal Mails dort eingetrudelt. Auch interessant in der Form. Von: „Ich wollte nur mal gucken”, bis hin zu „Hallo Sine”. Ich check’ das auch regelmäßig. Das ist ganz interessant, man stellt so eine Adresse in den Raum und plötzlich gibt es tatsächlich Antworten.
Schau ins Blau: Und, haben Sie geantwortet?
Christiane Neudecker: Ja!
Schau ins Blau: Als Sine?
Christiane Neudecker: Das entscheide ich dann von Fall zu Fall…
Schau ins Blau: Liebe Frau Neudecker, haben Sie vielen herzlichen Dank für dieses Gespräch.
Susanne Heinrich wurde 1985 bei Leipzig geboren. Sie verfasste schon in ihrer Schulzeit literarische Texte und studierte zeitweise am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig. Zwischen 2005 und 2011 erhielt sie Aufenthalts-Stipendien in Berlin, Los Angeles und der Villa Massimo in Rom. In diesen Jahren veröffentliche sie zwei Romane und zwei Bände Erzählungen.
Ab 2012 studiert sie Regie an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin. Mit Das melancholische Mädchen erschien 2019 ihr erster Film, der von der Kritik vielfach begeistert aufgenommen wurde und bisher mit dem Max-Ophüls-Preis und dem Drei-Länder-Filmpreis der Sächsischen Kunstministerin für den besten Spielfilm ausgezeichnet wurde.