von Jennifer Scholz
Der Autor und Journalist Mitch Albom, der bereits große Erfolge mit seinen Romanen Dienstags bei Morrie: Die Lehre eines Lebens (1998), Die fünf Menschen, die dir im Himmel begegnen (2005) und Einen Tag mit dir (2008) feiern durfte, bleibt bei seinem aktuellen Werk Der Stundenzähler seiner bevorzugten Thematik treu. Auch Der Stundenzähler handelt von der Endlichkeit des menschlichen Lebens. Es geht darum, wie der Mensch seine Zeit sinnvoll nutzt und die ihm gegebene Zeit akzeptiert, um sie in Frieden verbringen zu können.
Die Geschichte vereint die Lebensläufe dreier Menschen, die dies nicht tun beziehungsweise nicht getan haben.
Eine davon ist die 17-jährige Schülerin Sarah Lemon. Sie muss sich mit den typischen Problemen eines Teenagers herumplagen. Ihre schulischen Leistungen sind hervorragend, weshalb sie nicht sehr beliebt ist und nicht viele Freunde hat. Als sie für ihre Universitätsbewerbung einen Sozialdienst in einem Obdachlosenheim absolviert, scheint sich das Blatt schlagartig zu wenden. Sie trifft auf Ethan, einen beliebten Jungen aus ihrer Schule, der ernsthaftes Interesse an dem Mädchen zu zeigen scheint. Sarah verliebt sich in den Jungen und spinnt sich eine Beziehung zusammen, die in dieser Form tatsächlich gar nicht existiert. Als sich Ethan mehr und mehr von Sarah zurückzieht, versucht sie mit Hilfe einer teuren Uhr seine Zuneigung zu gewinnen, denn „wenn man die Liebe, die man sich wünscht, nicht bekommt, glaubt man manchmal, sie durch Geschenke erlangen zu können” (S. 137). Bei der Übergabe des Präsents gesteht sie dem Jungen ihre Liebe, der sich jedoch desinteressiert abwendet. Als Sarah ihm kurz darauf über ein soziales Internetnetzwerk eine Nachricht schicken will, entdeckt sie einen demütigenden Post auf Ethans Profilseite, der von unzähligen Mitschülern und Mitschülerinnen mit erniedrigenden Kommentaren versehen worden ist. Sarah ist am Boden zerstört und beschließt, sich das Leben zu nehmen. Denn „wenn es keine Hoffnung mehr gibt, ist Zeit eine Strafe” (S. 195).
Ganz anders verhält es sich mit dem zweiten Protagonisten, Victor Delamonte, einem reichen Geschäftsmann, der an einer schweren Krankheit leidet. Da für Victor Geld keine Rolle spielt, sucht er die besten Ärzte rund um den Erdball auf — doch alles ohne Erfolg. Er ist unheilbar krank und „fürchtet, dass ihm die Zeit davonläuft” (S.19). Doch der Geschäftsmann hat nicht vor, aus dem Leben zu scheiden. Er plant, sich von einem Kryonik-Unternehmen einfrieren zu lassen, um – wenn die Medizin weiter fortgeschritten ist – wieder aufgetaut und geheilt zu werden. Seine Frau Grace ahnt nichts von seinem Plan.
„Seit Anbeginn der Zeit sind Menschen auf eine Weise miteinander verknüpft, die sie nicht verstehen können„ (S. 90). Auch diese zwei Schicksale — vereint durch Vater Zeit.
Vater Zeit, Dor, ist der dritte und letzte Protagonist in Alboms Werk. Dor verbringt den Großteil seiner Kindheit mit Zählen. Er ist der erste Mensch auf Erden, der das tut. Da der Junge hochintelligent ist, erkennt er einen Zusammenhang zwischen Sonne und Mond. Dor findet einen Weg, die Augenblicke zwischen Sonnenaufgang und Sonnenuntergang zu messen. Als er älter wird, heiratet er seine Jugendfreundin Alli. Dor hat kein Interesse an Macht und lehnt das Angebot eines großen Herrschers, welcher einen Turm zu den Göttern bauen will, ab, mit ihm zusammenzuarbeiten. Jedoch erklärt er diesem Herrscher seine Erfindungen, welcher diese in die Welt hinausträgt.
Als Alli zu sterben droht, erklimmt Dor den Turm in der Hoffnung, die Zeit anhalten zu können – wo sonst sollte es möglich sein, als im Himmel? Der Turm, welchen wir heute als den Turm von Babel kennen, stürzt ein, viele Menschen lassen ihr Leben. Nur Dor nicht. Er findet sich in einer Höhle wieder. Verdammt dazu, dem Leid zu lauschen, das durch das Zählen der Zeit entsteht. Lange wird er in der Höhle sitzen ohne zu altern.
Sechstausend Jahre später bekommt er den Auftrag Sarah Lemon und Victor Delamonte die wahre Bedeutung von Zeit nahezubringen. Nur so kann er aus seiner Verdammung befreit werden.
So bringt Vater Zeit die beiden völlig unterschiedlichen Personen an einem schicksalhaften Tag zusammen.
Die drei Geschichten werden parallel zueinander erzählt. Der Erzähler springt von Dor zu Sarah, von Sarah zu Victor und von Victor zu Dor. Einerseits bietet sich diese Erzählweise an, andererseits geschehen diese Wechsel oft leider viel zu schnell und unverhofft. Albom möchte so vermutlich die Parallelen und Differenzen der Protagonisten verdeutlichen und gleichzeitig die Spannung aufrechterhalten, was ihm auch definitiv gelingt. Es ist kaum möglich, den Roman guten Gewissens aus der Hand zu legen, ohne wissen zu wollen, wie es weiter gehen wird.
Die schnellen Wechsel verhindern jedoch, dass man eine emotionale Bindung zu den Charakteren aufbauen kann und sie richtig „kennenlernt”. Die Beschreibung der Figuren hätte tiefer gehen müssen, um das zu erreichen. Albom bleibt dabei zu sehr an der Oberfläche. Seine Protagonisten zeichnen sich durch einfach gestrickte Charakteristika aus und bedienen vorwiegend gängige Klischees. So ist Dor alias Vater Zeit ein sympathischer, intelligenter Junge, der kein Interesse an Macht, Herrschaft oder Reichtum hat und aus Zufall und Naivität einen fatalen Fehler begeht, für den er hart — vielleicht zu hart — bestraft wird. Auch während er in seiner Höhle sitzt und den Stimmen der Menschen lauscht, bleibt er stets ruhig und gelassen. Als er auf die Erde geschickt wird, lässt er die Zeit langsamer laufen, um sie für eingehende Studien zu nutzen. Recht einfach gestrickt also, ein Junge/Mann ohne negative Eigenschaften. Von der ersten bis zur letzten Seite. Eine Entwicklung ist bei Dor nicht wirklich erkennbar.
Die Figur Sarah Lemon ist der gängige Teenie-Stereotyp. So wirkt sie wie das unbeliebte Mauerblümchen aus einem typischen Hollywood-Film: Etwas übergewichtig, intelligent, einsam. Sie ist ein Scheidungskind mit einer verrückten Mutter und einem Vater, der nachdem er eine neue Beziehung zu einer jüngeren Frau pflegt, kein Interesse mehr an seiner Tochter zeigt. Das nette Mädchen von nebenan eben ohne jegliche Ecken und Kanten. Doch, oder genau deswegen, bleibt die Einstellung des Lesers zur Figur Sarah Lemon weitgehend neutral. An ihr gibt es nichts, dass man übermäßig mag oder verachtet.
Ebenso bei Victor Delamonte. Er ist ein reicher Geschäftsmann vom Schlag „vom Tellerwäscher zum Millionär”. Auch zu ihm findet man keinen richtigen Zugang. Wobei an dieser Stelle festgehalten werden muss, dass, entgegen der Erwartung des „fiesen Reichen„, die Darstellung Delamontes nicht in dieser Art erfolgt. Im Gegenteil: Teilweise schafft es Albom, dass man Mitleid für den Mann empfinden kann, der sich wegen seines Besitzes nicht vom Leben trennen möchte.
Aber vielleicht ist die Beschreibung an der Oberfläche vom Autor beabsichtigt. Vielleicht möchte er nicht zu sehr von seiner Thematik ablenken: Zeit. Sie ist allgegenwärtig. So allgegenwärtig, dass es heute tatsächlich Kryonik-Unternehmen gibt, die ewiges Leben versprechen. Albom betont in seinem Nachwort, dass „kein Urteil über die Kryonik oder über Menschen gefällt werden [soll], die sich dafür entscheiden.” Doch gibt er mit seinem Werk einen Anstoß, dass man sich als Leser mit dieser Thematik befasst, sich eine Meinung bildet. Überhaupt gibt er mit seinem Werk einen Denkanstoß. Über Zeit. Zeit, die jedem von uns zur Verfügung steht. Zeit, die wir nutzen oder nicht. Zeit, die uns davonzulaufen scheint. Zeit, die wir nicht beeinflussen können und doch jede Minute damit verbringen, sie zu zählen.
„Versuche, dir ein Leben ohne Zeitmessung vorzustellen”, fordert der Autor zu Beginn des Buches auf. Doch er weiß, dass dies nicht möglich ist. Obwohl der Mensch auf Erden das einzige Wesen ist, das die Zeit misst, ist man 24 Stunden am Tag von Uhren und Kalendern umgeben.
„Vögel kommen nicht zu spät. Ein Hund schaut nicht auf die Uhr. Hirsche regen sich nicht auf, dass sie einen Geburtstag vergessen haben. Nur der Mensch misst die Zeit. […] Und deshalb leidet auch nur der Mensch unter einer lähmenden Angst […]. Die Angst, dass ihm die Zeit davonläuft” (S. 16 f.).
Man kann Mitch Alboms Roman als ein Plädoyer verstehen. Ein Plädoyer dafür, einfach für einen kurzen Moment inne zu halten und sich an den schönen Dingen des Lebens zu erfreuen. Ein Plädoyer dafür, vielleicht einmal die Uhr links liegen zu lassen und das zu tun, wonach einem gerade ist. Ein Plädoyer für Zufriedenheit, Glück und Akzeptanz für die Zeit, die jedem Einzelnen zur Verfügung steht. Denn „es ist niemals zu spät oder zu früh, […] sondern immer so wie es bestimmt ist” (S. 200).
Der Stundenzähler ist vielleicht keine hohe Literatur. Es ist vielmehr ein Roman, der sein Anliegen mit einfacher Sprache in die Welt hinausträgt. So kommt in unserer schnelllebigen, leistungsorientierten Gesellschaft, in der jeder von einem Termin zum nächsten hetzt, Fristen eingehalten werden müssen und immer und überall gefragt wird, wie spät es ist, ein Roman wie Der Stundenzähler zur rechten Zeit.
Mitch Albom: Der Stundenzähler
Goldmann Verlag 2013
272 Seiten