© Christian Metzler
Nostalgische Kindheitserinnerungen treffen auf die ernüchternde Realität
von Nina Gretschmann
Getrieben von der Sehnsucht nach unbekümmerten Kindheitsmomenten, bestellte ich erst kürzlich einen Pinocchio-Eisbecher. Er hatte alles, was ich mir als Kind wünschte: mehrere Eiskugeln, Sahne, Smarties, Streusel, Eiswaffeln. Das Pinocchio-Eis in Kindertagen erfüllte alle Wünsche und Erwartungen. Doch jetzt sah das anders aus: Einen Pinocchio-Eisbecher könne man mir nicht bringen. Eine Erklärung gab es nicht. Vielleicht schien ich zu alt für ein Kindereis, vielleicht war der kleine Mann mit der Eistüte als Hut zu aufwendig in der Zubereitung. Ich verließ die Eisdiele mit einem „Heidelbeer-Eisbecher“ to go und hatte noch nie so wenig Vergnügen beim Eisessen.
Erinnert an dieses enttäuschende Erlebnis, stieß ich auf das 2021 erschienene Werk Mostro – Pinocchio-Eis in Deutschland.
Der Schriftsteller Leonhard Hieronymi und der Fotograf Christian Metzler, beide geboren 1987 und ehemalige Schulfreunde, reisen in neun Tagen in alle sechzehn Bundesländer und bestellen so viele Pinocchio-Eisbecher wie möglich. Jeder Eisbecher wird vor dem Verzehr fotografiert und die 91 Fotos, welche in Mostro (italienisch für „Monster“) abgebildet sind, sind fast alle Nostalgie pur. Einige der abgebildeten Eisbecher weichen jedoch so stark vom klassischen Pinocchio-Eis ab, dass man beim Anblick fast lachen muss. Statt Pinocchio ähneln diese Eisbecher tatsächlich eher kleinen Monstern, weshalb der Buchtitel durchaus treffend gewählt ist.
Umso ernüchternder ist der dazugehörige Reisebericht: einige Eisdielen bieten keinen Pinocchio-Becher an, weil er zu aufwendig ist, andere verkaufen ihn nur an Kinder. 125 Eisdielen haben Hieronymi und Metzler während ihrer Reise besucht. In 90 erhielten sie einen Pinocchio-Becher, in den übrigen 35 gingen sie, so wie ich damals, leer aus. Die Suche nach Eisdielen, welche Pinocchio-Eis verkaufen, ist demnach auch mit sehr viel Frust verbunden, wodurch die anfängliche Euphorie der beiden Reisenden zu leiden hat. Das ursprüngliche Ziel, insgesamt 200 Eisbecher zu essen, muss also bereits am ersten Reisetag verworfen werden.
Entstanden ist am Ende eine Art Roadmovie mit 2.528 gefahrenen Kilometern und 91 Eisbechern in neun Tagen. Hieronymi und Metzler treffen auf ihrer Fahrt alte Bekannte, die sie beherbergen und die sie bei ihrer Mission unterstützen. Denn durchschnittlich 10 Eisbecher am Tag zu essen, kann mit der Zeit ganz schön anstrengend sein und alles andere als spaßig. Um sich von der zuckerbedingten Übelkeit und der schlechten Laune abzulenken, beobachten die beiden auch andere Eisdielen-Besucher:innen, die ihnen auf ihrer Reise begegnen. Jung und alt – zum Eisessen kommen sie alle zusammen: Eis verbindet deutschlandweit. Aber Mostro erzählt nicht nur vom Eisessen in Deutschland, sondern auch von gescheiterten Plänen und dem Umgang damit. Hieronymi und Metzler geben ihre Mission weder auf, noch liefern sie einen beschönigten Reisebericht ab. Kein Misserfolg wird verschwiegen, auch keins der zahlreichen Biere, welche aus Frust und gegen den süßen Eisgeschmack getrunken wurden.
Immerhin weiß man dank der statistischen Ergebnisse, welche am Ende von Mostro präsentiert werden, dass beispielsweise die Geschmackssorten Vanille und Erdbeere bei Pinocchio-Eisbechern am häufigsten verwendet werden oder dass Stuttgart die “pinocchioeisbecherfeindlichste” Stadt Deutschlands ist. Das ist doch was!
Leonhard Hieronymi, Christian Metzler, Mostro. Pinocchio-Eis in Deutschland, 192 Seiten, starfruit, 25,00€.