Ein Gespräch mit Lena Gorelik
von Julia Schmidt
Im Frühjahr 2021 erschien Lena Goreliks autobiographischer Roman Wer wir sind, in dem sie die Geschichte ihrer Familie nachzeichnet, die aus Sankt Petersburg nach Deutschland emigrierte, als sie selbst elf Jahre alt war. Ein weiterer Roman von ihr, Mehr Schwarz als Lila, ist aktuell als Theateradaptation im Münchner Residenztheater zu sehen. Schauinsblau hat Lena Gorelik getroffen und mit ihr über beide Texte gesprochen.
schauinsblau: In einem Interview für das Münchner Residenztheater haben Sie gesagt, dass Sie die Trennung zwischen Mensch und Autorin schwierig finden. Wie haben Sie den Schreibprozess zu Ihrem Roman Wer wir sind im Hinblick auf diese Trennung zwischen dem innerfiktionalen erzählenden Ich, der Figur der Lena, und dem außerfiktionalen Autorinnen-Ich erlebt?
Lena Gorelik: Ich glaube, die Trennung war einfach gar nicht so groß. Ich schreibe über mich selbst und habe auch gar nicht versucht, das zu verstecken. Ich bin in dem Moment die Person, die sich erinnert, ich bin die Protagonistin, die sich auf dem Papier wiederfindet, und ich bin die Schreibende, das heißt, ich brauche den Abstand vom Inhalt, um über das Formale, die Ästhetik des Textes nachzudenken. Auf den Text muss ich mit anderen Augen blicken, und in diesem Fall war das alles viel mehr ineinander verwoben. Es hat sich einerseits schutzlos angefühlt, aber gleichermaßen war es ein unglaublich fließender Prozess. Ich bin weniger gestolpert als sonst, weil es so eine innere Verbindung zwischen den verschiedenen Personen gab. Es war vielleicht ein schmerzhafteres Schreiben, aber es war auch ein flüssigeres Schreiben als sonst.
schauinsblau: Haben Sie je das Gedankenexperiment durchgespielt, wie das Leben der Romanfigur Lena verlaufen wäre, wenn sie nicht diese wahnsinnig kreative Phantasie und ihr Schreibtalent gehabt hätte, die ihr helfen, mit bestimmten Situationen zurechtzukommen und ihren eigenen Weg zu finden?
Lena Gorelik: Ich habe das nie durchgespielt, aber ich bin mir bei sehr vielen Schritten im Leben bewusst, was das für Räume öffnete. Schreiben bedeutet für mich einen Balanceakt aushalten zwischen einerseits dem konkreten Erleben und andererseits der Versprachlichung im Kopf.
Diese Versprachlichung erzeugt einen unglaublichen Abstand und ermöglicht die Fragen: Wie würde ich mich jetzt beschreiben? Wie würde ich die Situation beschreiben? Das zwingt einen zu etwas, was man sonst in Therapien lernt: Aus sich herauszutreten und sich von außen anzuschauen. Das passiert bei mir automatisch und ist ein unglaublicher Schatz, auch auf einer persönlichen Entwicklungsebene, nicht nur auf der literarischen. Und ich habe oft gedacht, dass, wenn ich dieses Ventil des Schreibens nicht gehabt hätte, und den Abstand, den ich zum Schreiben benötige, dass es an vielen Stellen vermutlich anders gelaufen wäre; dass daraus eine Stärke entsteht.
schauinsblau: Das erste, was Lenas Familie im Roman tut, nachdem sie in Deutschland aus dem Zug steigen, ist gelbe Bananen zu kaufen. In der Sowjetunion gab es so gut wie nie Bananen und wenn doch, waren sie nicht gelb, sondern grün oder braun, weswegen gelbe Bananen für die Romanfigur zu einer Art Mythos geworden sind. Als Lena dann tatsächlich eine Banane in der Hand hält, lässt sie diese vor lauter Aufregung fallen, was für sie in diesem Moment eine Katastrophe ist, weil sie den Eindruck hat, etwas falsch gemacht zu haben und den Erwartungen nicht gerecht zu werden. Was würden sie der Figur Lena aus heutiger Perspektive gerne Tröstendes sagen?
Lena Gorelik: Gute Frage. Vermutlich natürlich das, was meine Familie eh zu mir gesagt hat, es wird noch andere Bananen geben, kein Problem, etc. Ich würde vielleicht auch gar nichts sagen, ich würde sie vielleicht in dem Schmerz oder in der Katastrophe belassen, die es für das Kind einfach bedeutet hat, weil es so ein großes Ziel war und ein Versprechen, diese Banane. Das Interessante an der Bananengeschichte ist, dass ich sie heute wahrnehmen kann als das Kind, das in den Westen kam und kaum Bananen kannte, und sie aber auch wahrnehme als eine Geschichte, in der die Banane symbolisch für etwas steht. Es gab auch diesen Titanic-Titel vor vielen Jahren, „Die Gabi mit der Banane“, bei der Wiedervereinigung. Ich kann mir sozusagen heute diese Geschichte aus sehr vielen Blickwinkeln anschauen, und das kann die Figur in dem Moment nicht.
schauinsblau: Einen anderen Ihrer Romane, Mehr Schwarz als Lila, haben Sie selbst zum Bühnenstück umgeschrieben – das Stück ist momentan im Residenztheater zu sehen. Wie war für Sie dieser Adaptationsprozess von der reinen Textvorlage des Romans zu einem Dramentext, der sich mit den Gegebenheiten auf der Bühne auseinandersetzen muss? Welche Schwierigkeiten gab es eventuell dabei bzw. welche Freiheiten haben Sie für sich entdeckt?
Lena Gorelik: Es war interessant, weil das Theater natürlich mit anderen Mitteln arbeitet. Auf der einen Seite war klar, ich muss kürzen, und das ist schwierig, weil mir ja alles wichtig erscheint, sonst hätte ich das nicht so geschrieben. Ich habe zum Beispiel versucht, die Hintergründe der Figuren einzudampfen, also alle Nebenstränge mit Familienhintergrund, und hatte dann aber das Gefühl, dann stehen die Figuren nicht für sich. Tun sie im Theater aber trotzdem, weil es ja Schauspieler*innen gibt, die sie verkörpern, und die geben denen viel von dem, was ich in Worten und als Hintergrundgeschichte zu erzählen versuche. Dieses Vertrauen zu haben, während man noch schreibt, ist schwierig. Und ich musste natürlich lernen, anders zu denken. Zum Beispiel habe ich in der ersten Version versucht, den Roman chronologisch nachzuerzählen, der spielt in Deutschland, dann spielt er in Polen, dann wieder in Deutschland, und dann in Polen. Dann habe ich mit der Regisseurin darüber geredet und sie hat gesagt: „Lena, wie genau bringe ich dir in drei Szenen die Leute einmal mit dem Bus nach Polen und dann wieder im Zug zurück?“ Es hat aber großen Spaß gemacht, den Text auch auf die Dialoge zu reduzieren, also auf die Frage, was wird gesagt und was wird zwischen den Zeilen gesagt? Die Freiheit lag sicher auch in dem Spiel, welches das Wechselspiel zwischen Dialog und Monolog ermöglicht. Man kann ja bei Romanadaptionen auch damit spielen, dass man den Prosatext irgendwie mit hineinnimmt, aber das wollte ich nicht. Alles an Gefühl der Protagonistinnen mit in die Dialoge hineinzunehmen, ohne etwas zu erklären – das ist natürlich eine Zuspitzung und auf den ersten Blick eine Enge, denn ich habe nur dieses Mittel zur Verfügung, und auf den zweiten Blick ist das eine wahnsinnige Freiheit, weil ich verdichten muss. Es war ein bisschen wie Tennis spielen, diese Dialoge zu schreiben. Und ich konnte Figuren im Sprechen weiterentwickeln – auch die Nebenfiguren. Wenn ich Schreibwerkstätten gebe, geht es oft darum: Wie kann ich Figuren sprechen lassen, sodass das, was sie sprechen, und wie sie sprechen, etwas über sie aussagt? Ohne dass man dahinter schreibt: „…sagte er traurig“. Und genau das musste ich auf die Höhe treiben.
schauinsblau: Im Trailer zu Mehr Schwarz als Lila wird einer Schulklasse die Aufgabe gestellt, innerhalb von fünf Minuten alles aufzuschreiben, was ihnen zum Thema Mut einfällt. Was bedeutet Mut für Sie? Was ist das Mutigste, das Lena in Ihrem Roman gemacht hat?
Lena Gorelik: Ich glaube, das Mutigste ist der Roman. Das Schreiben dieses Romans und das Veröffentlichen und mit dem Text auf die Bühne zu gehen und ihn vor fremden Menschen zu lesen und darüber zu sprechen. Das ist der eigentliche Mut. Mut ist, über die eigenen Grenzen hinauszugehen.
schauinsblau: Welche Elemente oder Eigenheiten der russischen Sprache (bestimmte Wörter/Redewendungen/Sprachatmosphäre) fehlen Ihnen im Deutschen am meisten?
Lena Gorelik: Die Tatsache, dass man seinen Gefühlen – vor allem Gefühlen der Liebe – Ausdruck verleihen kann, ohne dass sie pathetisch wirken, ohne dass Kitsch hinterherhinkt.
Lena Gorelik wurde 1981 in St. Petersburg geboren und kam 1992 mit ihrer Familie nach Deutschland. Mit ihrem Debütroman „Meine weißen Nächte“ (2004) wurde sie als Entdeckung gefeiert, mit „Hochzeit in Jerusalem“ (2007) war sie für den Deutschen Buchpreis nominiert. Ihr Roman „Die Listensammlerin“ (2013) wurde mit dem Buchpreis der Stiftung Ravensburger Verlag ausgezeichnet. 2015 erschien „Null bis unendlich“, 2017 „Mehr Schwarz als Lila“, ein Coming-of-Age-Roman, der für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert wurde. Sie schreibt Essays und Reportagen u.a. für DIE ZEIT, die Süddeutsche Zeitung, Deutschlandradio. Die Autorin verfasst außerdem Theaterstücke. Im Mai 2021 erschien ihr neuer Roman „Wer wir sind“.
Gorelik, Lena: Wer wir sind. Rohwolt Berlin Verlag, Berlin 2021.
Gorelik, Lena: Mehr Schwarz als Lila. Rohwolt Berlin Verlag, Berlin 2018.