“Namen sind keine feste Benennung ihrer selbst”

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Ein Gespräch mit dem Schriftsteller Georg Klein

von Ste­pha­nie Waldow

‚Namen sind kei­ne fes­te Benen­nung ihrer selbst’ (S. 136)

Schau ins Blau sprach mit dem Autor Georg Klein über sei­nen Roman unse­rer Kind­heit, für den er den Preis der Leip­zi­ger Buch­mes­se erhielt.

Wenn es eine Aus­zeich­nung für einen Text gibt, dann wohl die­se, mit ihm nicht zu Ran­de gekom­men zu sein. Was bleibt nach der Lek­tü­re von Georg Kleins Roman unse­rer Kind­heit ist vor allem eine Ver­stö­rung. Nicht um Auf­klä­rung geht es hier, son­dern um eine Arbeit am Mythos. Am Mythos Kind­heit und am Mythos des eige­nen Selbst. Wenn am Ende des Romans die­se Arbeit an den Leser wei­ter­ge­ge­ben wird, beginnt die Lek­tü­re von Neu­em, die Lek­tü­re des Tex­tes und des eige­nen Selbst.

SCHAU INS BLAU: Die Genau­ig­keit Ihres Erzähl­ver­fah­rens steht im schein­ba­ren Wider­spruch zu den vie­len Aus­las­sun­gen und Leer­stel­len im Text. Das kor­re­spon­diert mit der Beob­ach­tung, dass die Kom­ple­xi­tät Ihrer Tex­te vor allem in der Reduk­ti­on besteht. Wie begrün­den Sie die­se Diskrepanz?

GEORG KLEIN: Der Begriff „Genau­ig­keit” bedarf kei­ner umständ­li­chen Klä­rung, wenn wir von funk­tio­na­len Tex­ten, etwa einer Repa­ra­tur­an­lei­tung oder einer Weg­be­schrei­bung, spre­chen. Was aber soll „Genau­ig­keit” bezo­gen auf erzäh­len­de Pro­sa bedeu­ten? Es gibt in der Rezep­ti­on mei­nes Tex­tes wohl so etwas wie eine „Genau­ig­keits­il­lu­si­on”, rück­bli­ckend glaubt der Leser dann, etwas wäre beson­ders detail­liert beschrie­ben wor­den, oder eine Hand­lungs­sze­ne hät­te viel Zei­len­raum ein­ge­nom­men. In Rezen­sio­nen fällt dann oft das fata­le Wört­chen „minu­ti­ös”. Wirft man einen kal­ten Blick auf die ent­spre­chen­den Text­stel­len, sieht man ohne Mühe: Sie sind kurz, die Beschrei­bung ist knapp und lücken­haft, sie bezieht sich nicht sel­ten auf Rand­phä­no­me­ne, ist unter Umstän­den sogar eher vage. Da es ja nir­gend­wo einen kom­plet­ten Text des Beschrie­be­nen gibt, kann man eigent­lich auch nicht von einer „Reduk­ti­on” spre­chen. Was macht das sprach­li­che Kunst­werk, die­se Fügung guter Sät­ze, hier mit dem krea­ti­ven Sys­tem des Lesen­den aus? Ein Roman ist ein tem­po­rä­rer Para­sit, ein allein nicht lebens­fä­hi­ges Wesen, das einen geeig­ne­ten Wirt für begrenz­te Zeit zur Aus­schüt­tung hal­lu­zi­no­ge­ner Sub­stan­zen sti­mu­liert, oder wie es der Kol­le­ge W.S. Bour­roughs auf die For­mel gebracht hat: „Lan­guage is a virus”. Was kann ein sol­cher Virus über die­se Fremd­wir­kung hin­aus für sich selbst wol­len? Er will, dass sei­ne Form ein lan­ges Weil­chen fort­be­steht — bevor deren schein­ba­re Genau­ig­keit letzt­lich im Gestalt­wan­del der Kul­tur ver­schwimmt und in Uner­kenn­bar­keit untergeht.

SCHAU INS BLAU: Das Phan­tas­ti­sche scheint sich in Ihre Text hin­ein­zu­we­ben und eröff­net somit eine zwei­te Bedeu­tungs­ebe­ne, die einer ers­ten zur Sei­te gestellt wird. Der Text wird poly­va­lent und erweist sich dadurch als Laby­rinth, in wel­ches sich die Kin­der hin­ein­be­ge­ben. Ist das Phan­tas­ti­sche auch eine Mög­lich­keit, das vom gesell­schaft­li­chen Dis­kurs Aus­ge­schlos­se­ne mit in den Text zu integrieren?

GEORG KLEIN: Das „Phan­tas­ti­sche” pro­fi­tiert davon, dass es ein domi­nan­tes Rea­lis­mus­kon­zept gibt, also ein Sys­tem herr­schen­der Wirk­lich­keits­il­lu­sio­nen, die ande­re For­men von Wirk­lich­keits­be­haup­tung gering­schät­zen, aus­gren­zen, unter Umstän­den sogar äch­ten. Ich weiß noch gut, wie eine jun­ge Deutsch­leh­re­rin Mit­te der 60er Jah­re bei einem mei­ner Erleb­nis-Auf­sät­ze den Wirk­lich­keits­cha­rak­ter des Geschrie­be­nen bezwei­fel­te. Aber sie gab mir trotz der mah­nen­den Wor­te in Rot noch eine Drei Minus und schubs­te mei­nen klei­nen Text nicht über die Reling der Galee­re, auf der wir alle dem Flie­gen­den Hol­län­der einer ein­zi­gen kohä­ren­ten und kau­sal nach­voll­zieh­ba­ren Wirk­lich­keit hinterherrudern.

SCHAU INS BLAU: Kön­nen Sie die Bedeu­tung des Wit­zes für Ihren Text etwas näher beschrei­ben? Auf­fäl­lig ist ers­tens, dass häu­fig, trotz aus­führ­li­cher Her­lei­tung, auf die eigent­li­che Poin­te ver­zich­tet wird. Es scheint, als hand­le es sich hier um ein Erzäh­len, des­sen eigent­li­cher Gegen­stand nicht benannt wer­den kann. Zwei­tens fällt mir im Zusam­men­hang mit Ihrem Roman eine Struk­tur­be­schrei­bung des Wit­zes ein, in der es heißt: Der Witz beinhal­te die Fähig­keit, sich selbst als Ande­ren zu denken.

GEORG KLEIN: Wenn ich öffent­lich aus dem Roman vor­le­se, wun­de­re ich mich im Stil­len jedes Mal aufs Neue, dass ich bei sei­ner Nie­der­schrift an den „Wit­zen” fest­ge­hal­ten habe. „Das kann auf Dau­er nicht gut­ge­hen!”, hat­te mich mei­ne Frau nach Lek­tü­re des ers­ten Kapi­tels gewarnt. Die Kurz­pro­sa-Form „Witz” beinhal­tet viel von dem, was mich an popu­lä­rer Lite­ra­tur fas­zi­niert und abstößt: Die Gier nach tota­ler Affir­ma­ti­on wird Form. Es muss wie geschmiert auf die alle Hörer zur Gesin­nungs­ge­mein­schaft ver­schmel­zen­de Poin­te hin­aus­lau­fen, dabei ver­nich­tet sich der Witz wie ein Selbst­mord­at­ten­tä­ter, so er die­sen Spreng­gür­tel erfolg­reich zün­det. Mein jün­ge­rer Bru­der hat­te um das sieb­te Lebens­jahr eine glor­rei­che Zeit nicht nur als Wit­ze-Erzäh­ler, son­dern auch als Wit­ze-Erfin­der. Unter den Wit­zen, die er damals aus gän­gi­gen Ele­men­ten — oft sogar auf Zuruf die­ser Bau­stei­ne durch ande­re! — mon­tier­te, müs­sen die schei­tern­den beson­ders inter­es­sant gewe­sen sein. Lei­der kann ich mich an kei­nen ein­zi­gen die­ser Fehl­ver­su­che genau erin­nern; aber auch die „all­ge­mei­ne” Erin­ne­rung, dass es über­haupt zu die­sem toll­küh­nen Unter­fan­gen kam, ist mir ein gro­ßer Ansporn, eine Ver­hei­ßung von Erlö­sung durch Erzäh­len gewesen.

SCHAU INS BLAU: Ihre Tex­te, und das trifft auch auf den Roman unse­rer Kind­heit zu, sind immer auch eine Arbeit am Bild. Besteht für Sie eine Wech­sel­wirk­sam­keit von Bild­lich­keit und Ver­bild­li­chung und wenn ja, wie ver­ste­hen Sie diese?

GEORG KLEIN: Das Bild bannt das Mus­kel­spiel der Gefüh­le und Gedan­ken. Plötz­lich rennt der Läu­fer auf der Stel­le, und das sieht merk­wür­di­ger­wei­se noch viel mehr nach „Lau­fen” aus, als wenn er besin­nungs­los Stre­cke frisst. Sogar das fil­mi­sche Bild hat für mich im Ide­al­fall organ­haft emble­ma­ti­schen Cha­rak­ter: Es pul­siert ste­hend. Eine sol­che Bild­erfah­rung gut nach­zu­er­zäh­len ist bereits eine schö­ne, tief befrie­di­gen­de Sache, eine der­ar­ti­ge Erfah­rung aus Wör­tern wie aus dem Nichts ent­ste­hen zu las­sen, hat tri­um­pha­len Charakter.

SCHAU INS BLAU: Der Satz: „Ich bin’s — Ich bin im Bild!” (S. 430) scheint mir trü­ge­risch. Ist Ihr Roman also auch ein Ver­such, ein Bild des ‚Ich’ zu ent­wer­fen im gleich­zei­ti­gen Wis­sen, dass die­ses Bild nie­mals wird voll­stän­dig ent­ste­hen kön­nen? Der Ent­wurf eines Selbst­bild­nis­ses im Moment des Erzäh­lens scheint dar­über hin­aus auf selt­sa­me Wei­se mit einem Bil­der­ver­bot zu kor­re­spon­die­ren oder zumin­dest mit dem unbe­ding­ten Gebot der Dyna­mi­sie­rung. Es heißt: „Wer sich an Bil­der klam­mert, hat immer sel­ber Schuld. Und wer an einem ein­zi­gen Bild­lein hän­gen bleibt (…) ist schon so gut wie sel­ber tot.” (S. 308)
Ich ver­ste­he in die­sem Zusam­men­hang die Arbeit am Bild als eine Arbeit am Mythos, auch am Mythos des eige­nen Selbst. In all ihrer Ambi­va­lenz: Als eine Mög­lich­keit also, dem „Abso­lu­tis­mus der Wirk­lich­keit” zu begeg­nen, zugleich ver­bun­den mit dem höchs­ten Glücks­ge­fühl, das mit die­ser Arbeit ver­bun­den ist.

GEORG KLEIN: Das „Ich” ist ein gro­ßer Selbst­be­trü­ger, aber ohne sich immer aufs Neue als kom­plett und all­mäch­tig zu behaup­ten, kommt es halt nicht durch die außerleib­li­che Welt. Das kön­nen wir schon an den Tie­ren beob­ach­ten: Wir haben eine klei­ne Kat­ze, deren Kräf­te gera­de aus­rei­chen, um die hohen Holz­tü­ren unse­res alten Hau­ses, so sie ange­lehnt sind, auf­zu­drü­cken. Wie Ada Sima, so heißt sie für uns, aller­dings die bei­den noch deut­lich schwe­re­ren Glas­tü­ren mit einer ganz unkat­zen­haf­ten Engels­ge­duld auf den Hin­ter­fü­ßen ste­hend, nach zahl­rei­chen Fehl­ver­su­chen dann doch noch auf­trom­melt, ver­langt eine Ich-Stär­ke, deren Gran­dio­si­tät schon an Gott­ver­trau­en grenzt. So ein „Bild” macht Mut — auch zu einer unse­ren exis­ten­zi­el­len Glas­tü­ren ange­mes­se­nen Selbst-Verklärung.

SCHAU INS BLAU: ‚Der Name wird nicht für eine fes­te Benen­nung ihrer Selbst’ ver­stan­den, heißt es sinn­ge­mäß im Roman (S. 136). Stellt der Roman unse­rer Kind­heit auch einen Ver­such dar, dem eige­nen Selbst im Akt des Schrei­bens einen Namen zu geben, ohne sich selbst zu benen­nen? Über­haupt scheint mir die­se Idee Blu­men­bergs ‚Namen geben, ohne zu benen­nen’, wel­che er im Zusam­men­hang mit sei­ner Theo­rie der Bild­lich­keit ent­fal­tet, ein zen­tra­les Moment auch für Ihren Text zu sein. Nicht nur die Figu­ren blei­ben selt­sam namen­los und wer­den damit vor einer Fest­schrei­bung bewahrt, son­dern auch das Unaus­sprech­li­che erlangt so eine Prä­senz, ohne einer gewalt­sa­men Beschrei­bung unter­zo­gen zu werden.

GEORG KLEIN: Name ist Schick­sal. Daher haben alle Spie­le, in denen Namen ver­ge­ben wer­den kön­nen, einen tie­fen Reiz, einen abgrün­di­gen, fast dämo­ni­schen Kit­zel. Die Lite­ra­tur gehört dazu. Wer ande­re dau­er­haft benennt, macht sich aller­dings fast zwangs­läu­fig schul­dig. Kul­tu­ren, in denen die Namens­ver­ga­be nicht völ­lig der „Frei­heit” oder der Will­kür ein­zel­ner, zum Bei­spiel der Eltern, unter­wor­fen ist, tre­ten zu unse­rer land­läu­fi­gen Pra­xis in eine inter­es­san­te Dif­fe­renz. Ähn­lich ver­hält es sich mit Gemein­schaf­ten, die einen Namens­wech­sel erlau­ben. Wie ich es auch dre­he und wen­de, es bleibt eine hoch­heik­le Ange­le­gen­heit, in der gebo­te­nen Demut Gott Vater zu spie­len. Bis heu­te fürch­te ich, dass mir Zeit­ge­nos­sen, deren kind­li­che Inkar­na­tio­nen im ROMAN UNSERER KINDHEIT Figur gewor­den sind, die Namens­set­zung, von der ihr per­sön­li­ches Erin­nern nun ange­rührt wird, übel­neh­men könn­ten. Was hilft’s, wenn ich beteu­re, nur um wei­ße, nicht um schwar­ze Magie bemüht gewe­sen zu sein?

SCHAU INS BLAU: Sie arbei­ten viel mit bil­den­den Künst­lern zusam­men. So auch in die­sem Buch mit Anke Feuch­ten­ber­ger. Möch­ten Sie etwas zur Gestal­tung des Umschlag­bil­des sagen, das ja ursprüng­lich anders gedacht war, wie in der Mit­te Ihres Tex­tes zu sehen ist?

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GEORG KLEIN: Das „Schau­kel­mäd­chen” hat Anke Feuch­ten­ber­ger als unmit­tel­ba­ren Reflex auf die Lek­tü­re, also auf die inne­re Bild­wer­dung des Roman-Manu­skripts, gezeich­net. Es erschien den für den Welt­gang des Buches Ver­ant­wort­li­chen im Ver­lag dann aber, obschon es ihnen als Kunst­werk gefiel, doch als zu „stark”: Man befürch­te­te, es könn­te „die” Buch­händ­le­rin und „die” poten­ti­el­le Käu­fe­rin ver­schre­cken. Falls die Küns­te sich gegen­sei­tig spie­geln kön­nen, dann ist das Schau­kel­bild ein ziem­lich schar­fer Spie­gel. Um im Bild zu blei­ben: Gele­gent­lich zie­hen wir aller­dings eine etwas mat­te­re, mil­de­re Refle­xi­on vor …

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SCHAU INS BLAU: Der Bär scheint mir mit sei­nen viel­fäl­ti­gen und auch sich gegen­sei­tig wider­spre­chen­den Kon­no­ta­tio­nen ein sehr schwer zu fas­sen­des Bild zu sein. Einer­seits ein Schutz­pa­tron der Kind­heit, führt er ande­rer­seits des­sen grau­sa­me Zer­stö­rung her­bei. Fun­giert er in die­sem Zusam­men­hang auch als ein Sym­bol des Über­gangs, der Initiation?

GEORG KLEIN: Ich wer­de mich hüten, Figu­ren des Romans ent­wick­lungs­psy­cho­lo­gisch oder gar psy­cho­ana­ly­tisch zu deu­ten! Die Psy­cho­ana­ly­se ist zwar eine schon ziem­lich auf den Hund-der-Zeit gekom­me­ne Groß­erzäh­lung, aber durch die lan­ge Sym­bio­se, die sie fast das gan­ze 20. Jahr­hun­dert hin­durch mit der erzäh­len­den Pro­sa unter­hal­ten hat, gibt es immer noch einen gemein­sa­men Rest-Blut­kreis­lauf. Lang­sam ver­kal­ken die­se Gefä­ße, in der weit­ge­hend ver­nutz­ten, bald voll­ends tri­via­li­sier­ten Meta­pho­rik die­ser „Wis­sen­schaft” schlum­mern jedoch Gefah­ren, über die sich ein leben­des Bild wenn nicht eine Blut­ver­gif­tung, so doch eine Throm­bo­se zuzie­hen kann. Der Bär ist „rich­tig”, das mer­ke ich allein dar­an, dass ich das Reich sei­ner poe­ti­schen Wirk­sam­keit, so blitz­hell mei­ne theo­re­ti­sche Par­al­lel­re­fle­xi­on auch gele­gent­lich war, nie voll­stän­dig über­schau­en konnte.

SCHAU INS BLAU: Ist Schrei­ben eine Bären­tä­tig­keit? Sie beschrei­ben die Gewalt­sam­keit, mit der ‚eine Geschich­te die Klau­en in die Leser gräbt’ (S. 442) und machen damit auch auf die Gewalt­sam­keit der Zei­chen auf­merk­sam. Und durch­bricht Ihr eige­ner Schreib­pro­zess dann die­se Gewalt­sam­keit wie­der­um, indem Ele­men­te des Phan­tas­ti­schen, der Bild­lich­keit, Mehr­fach­co­die­run­gen usw. ein­ge­baut wer­den, die jene Gewalt­sam­keit sub­ver­siv unterlaufen?

GEORG KLEIN: Ja, ohne Gewalt, ohne Kräf­te, die Wider­stän­de des Lesen­den über­wäl­ti­gen und des­sen eige­ne Ener­gien in Dienst zwin­gen, geht es wohl nicht. War­um soll­te ein Leser in gewalt­frei­er Frei­wil­lig­keit über 400 Sei­ten am Buch blei­ben, wo er doch in der glei­chen Zeit, zwei, drei Staf­feln einer schlau und ver­füh­re­risch aus­ge­tüf­tel­ten, einer hoch­ge­schmei­di­gen ame­ri­ka­ni­schen Fern­seh­se­rie auf DVD gucken kann? Der Rezi­pi­ent mei­ner Pro­sa bringt bereits einen star­ken Fun­ken Gewalt­lüs­tern­heit mit, sonst käme er gar nicht über die ers­te Sei­te hin­aus. Der Lese­akt ist in gewis­ser Wei­se wech­sel­sei­tig gewalt­sam; das erfah­re ich, wenn mir Besu­cher von Lesun­gen erzäh­len, wel­ches Erin­ne­rungs­bild sie inzwi­schen von dem vor eini­gen Tagen oder weni­gen Wochen in ihrem krea­ti­ven Sys­tem rea­li­sier­ten Werk haben. Da hilft kein Wider­spruch, sie haben den Roman zu „ihrem” gemacht und dass dabei für mein Emp­fin­den das eine oder ande­re mir lie­be Knöch­lein zer­knack­te oder ein Gelenk­band des Tex­tes über­dehnt wur­de, habe ich als Autor mit schmerz­li­chem Lächeln hin­zu­neh­men. Gewalt ist nicht per se schlecht. Es gibt wirk­lich das eine oder ande­re Glück, zu dem wir erst ein­mal durch frem­de Hand hin­ge­zwun­gen wer­den müs­sen. Wer steht schon frei­wil­lig sei­ne ers­te Oper durch.

SCHAU INS BLAU: Ihr Buch erin­nert an die magi­sche Welt der Kind­heit, alles wird zum Zei­chen und bekommt inner­halb die­ser magi­schen Welt eine Bedeu­tung. Schrei­ben scheint in dem Zusam­men­hang ein Moment der Wie­der-Holung die­ser magi­schen Kraft der Zei­chen. Folgt man die­sem Gedan­ken­gang, wäre dies ein wei­te­res Indiz dafür, dass der Akt des Schrei­bens als eine Arbeit am Mythos ver­stan­den wer­den kann. Und dies im dop­pel­ten Sin­ne: Spä­tes­tens seit Judith But­ler ist uns klar, dass der Mensch sei­nen Ursprung nicht selbst erzäh­len kann, was ihm bleibt, ist die Erzäh­lung sei­ner Selbst immer wie­der neu zu erfin­den, um so die eige­ne Unbe­grün­det­heit ertra­gen zu kön­nen. Sie haben in einem Inter­view gesagt: „Was ist ein glaub­wür­di­ger Erzäh­ler, wenn von Kind­heit gespro­chen wer­den soll?” Die Fra­ge scheint fast als ein Leit­mo­tiv Ihres Romans zu fun­gie­ren.
Stellt Ihr Buch also ers­tens einen Ver­such des Umgangs mit der Leer­stel­le des eige­nen Ursprungs dar und ent­larvt Ihr Roman zwei­tens die­se schein­bar schö­ne Erzäh­lung von der Geschich­te unse­rer Kind­heit als eben die­se manch­mal grau­sa­me Arbeit am Mythos?
So ver­ste­he ich auch Ihren Satz: „Der Roman unse­rer Kind­heit ist ein Buch über die Anfän­ge unse­res Erzäh­lens.” Erzählt wird also von einer Posi­ti­on jen­seits des Seins aus. — „Ich bin nicht viel. Und doch bin ich nicht nichts.” (S. 446)

GEORG KLEIN: Mir ist es bis heu­te ein Mira­kel, wie mein wacke­li­ges Ich die Ver­ban­nung aus dem Reich der Kind­heit über­lebt hat. Schließ­lich ist mir kein cha­ris­ma­ti­scher Scha­ma­ne, sind mir kei­ne sug­ges­ti­ven Über­gangs­ri­tua­le bei­gestan­den. Oder viel­leicht doch? Es gibt in mei­ner Erin­ne­rung ver­ein­zel­te heroi­sche Frag­men­te einer Neu­be­grün­dung: Der kri­sen­haf­te Kampf um die ers­te Fremd­spra­che gehört gewiss dazu. Mut­ter­see­len­al­lein, nur mit Lan­gen­scheidts blau­em Taschen­wör­ter­buch, ein paar Sät­ze aus Cäsars De Bel­lo Gal­li­co erfolg­reich ins Deut­sche zu brin­gen, dar­in lag zumin­dest die Ver­hei­ßung eines „Zwei­ten Rei­ches”.
Was den Ursprung angeht: Ich bin nicht ursprungs­süch­tig; zumin­dest über­rascht mich immer wie­der, wie begie­rig man im Klei­nen wie im Gro­ßen auf den jewei­li­gen Uranfang ist. Um die Kat­ze oder den Bär aus dem Sack zu las­sen: Wirk­lich tief und unend­lich beun­ru­hi­gend ist doch eigent­lich bloß, dass wir die Kluft zwi­schen unbe­leb­ter und beleb­ter Mate­rie nicht „anfäng­lich” schlie­ßen kön­nen. Mit der schöns­ten ein­leuch­ten­den Bei­läu­fig­keit geht das Beleb­te in das Tote über, aber dass es womög­lich auch ein­mal anders­her­um gegan­gen ist und erneut vom Unbe­leb­ten ins Beleb­te gehen könn­te, beschäf­tigt mich in allen län­ge­ren Texten.

SCHAU INS BLAU: Im Feuil­le­ton ist immer wie­der dar­auf hin­ge­wie­sen wor­den, dass es sich bei Ihrem Roman unse­rer Kind­heit um einen auto­bio­gra­phi­schen Roman han­delt. Ins­be­son­de­re die Figur des ‚älte­ren Bru­ders’ wird mit dem Autor des Tex­tes in Ver­bin­dung gebracht. Ist ers­tens nicht jeder Text auf die glei­che Wei­se ein auto­bio­gra­phi­scher Text, oder umge­kehrt, ist nicht jede Auto­bio­gra­phie immer auch eine Fik­ti­on? Und ist nicht zwei­tens die Tat­sa­che, dass Ihr Text Roman unse­rer Kind­heit heißt, ein Hin­weis dar­auf, dass es sich hier um die Fra­ge nach der Erzähl­bar­keit von Geschich­te über­haupt han­delt?
Damit kor­re­spon­diert der Umstand, dass die magi­sche Welt der Kin­der immer wie­der über­blen­det wird von den Gescheh­nis­sen des Zwei­ten Welt­kriegs bis hin­ein in das Voka­bu­lar, wenn es um die Beschrei­bung der Fuß­ver­let­zung des ‚älte­ren Bru­ders’ geht. Zugleich knüp­fen die Kriegs­ver­sehr­ten an die magi­schen Spie­le der Kin­der an. Erzählt also der Roman unse­rer Kind­heit auch von dem Erbe, das die­se Gene­ra­ti­on der Kin­der mit sich trägt und des­sen Aus­maß sich eben­falls nicht voll­stän­dig erfas­sen lässt? Fast bei­läu­fig wird es in den Text inte­griert und zum fes­ten Bestand­teil der magi­schen Kind­heits­er­fah­run­gen. Es scheint eine Mög­lich­keit dar­zu­stel­len, viel­leicht die ein­zi­ge, um dem Trau­ma erzähl­ba­re Prä­senz zu verleihen.

GEORG KLEIN: Gegen­fra­ge: Ist die west­li­che His­to­rie, der bis­lang auf­wen­digs­te Ver­such, die Ver­gan­gen­heit erzäh­le­risch zu kon­trol­lie­ren, ein Segen? Oder haben gera­de die zeit­ge­schicht­li­chen Bemü­hun­gen, die unse­re jün­ge­re Ver­gan­gen­heit einer­seits mit einem immer fei­ne­ren Netz aus hyper­gründ­li­chen Ein­zel­stu­di­en, ander­seits mit dem trü­ben Prä­ser­va­tiv der TV-His­to­rie über­zieht, nicht zuneh­mend selbst trau­ma­ti­schen Cha­rak­ter? Wie wird die Kul­tur die­sen Moloch aus Wiss­ba­rem und Erklär­tem wie­der los? Der Ein­zel­ne ist durch sei­nen Hang zum infor­ma­ti­ons­ori­en­tier­ten Bio­gra­phis­mus oft genug recht heil­los in die­sen gro­ßen Göt­zen­dienst ein­ge­bun­den. Acht­zig­jäh­ri­ge, die Hun­der­te von Stun­den im Inter­net sur­fen, um den Mäd­chen­na­men ihrer Urgroß­mutter herauszubekommen!

SCHAU INS BLAU: Kann der Wunsch des ‚Ami-Michi’, der ‚gro­ße Bru­der’ möge doch nun end­lich erzäh­len, was wirk­lich gewe­sen sei (S. 249), jemals in Erfül­lung gehen oder kann die Erzäh­lung nicht mehr und nicht weni­ger sein als eine Arbeit am Mythos des Wirk­li­chen? Ist also Wahr­heit immer „eine schö­ne Geschich­te”? Denn wür­de die Erzäh­lung jemals an ihr Ende gelan­gen, wür­de sie zugleich ihre gan­ze Grau­sam­keit entfalten.

GEORG KLEIN: Ja, das ist sehr schön gesagt. Ihre Sät­ze ber­gen bei aller theo­re­tisch-aske­ti­schen Dür­re ein ver­läss­lich keim­fä­hi­ges Poten­ti­al. Es kann einen, wenn man ein biss­chen gärt­nert, immer aufs Neue ver­blüf­fen, wie win­zig und grau-tro­cken die Samen sind, aus denen bin­nen eines Som­mers die üppigs­ten, die geils­ten, die schöns­ten Gewäch­se auf­schie­ßen — und wenn wir sie nur so weit kom­men las­sen, wie­der Samen zu tra­gen. Das Spiel mit Zei­chen, Namen und Erzäh­lung hängt auf eine höchst ver­track­te Wei­se mit dem Wesen des Leben­di­gen, mit dem „Leben als Prin­zip”, mit des­sen Glo­rie und Grau­sam­keit zusam­men. Viel­leicht bin ich — irgend­wann im kom­men­den Roman! — wie­der ganz nah dran. Spie­len Sie bit­te mit!

 

Georg Klein, gebo­ren 1953 in Augs­burg, schreibt erzäh­len­de Pro­sa. Sei­nen Tex­ten, die sich trotz viel­fa­cher Zuschrei­bun­gen nicht an kon­ven­tio­nel­le Gen­re-Gren­zen hal­ten, sind stets Momen­te der Grenz­über­schrei­tun­gen inne. Auf sub­ti­le Art und Wei­se wer­den gesell­schaft­li­che und erzäh­le­ri­sche Tabus gebro­chen, ohne dies jedoch als lite­ra­ri­sches Pro­gramm aus­zu­wei­sen.
Sei­ne Tex­te ent­fal­ten ein schein­bar unauf­lös­ba­res Para­do­xon: sie bie­ten Reich­tum in der Reduk­ti­on. Dies ins­be­son­de­re im Moment der Wech­sel­wirk­sam­keit von Bild und Text, die für Klein sowohl als kon­kre­te Begeg­nung von bil­den­der Kunst und lite­ra­ri­schem Schrei­ben essen­ti­ell ist, als auch als ‚inner­tex­tu­el­les’ Phä­no­men, das sei­ne Tex­te kon­sti­tu­iert.
Klein ist ein Meis­ter des anwe­send abwe­sen­den Schrei­bens, er schafft es mit sei­nen Tex­ten immer wie­der, Din­ge zu sagen, ohne sie aus­zu­spre­chen.
Er lebt mit sei­ner Frau, der Autorin Kat­rin de Vries, und zwei Söh­nen in Ost­fries­land.
Im März 2010 ist sein neu­er Text ‚Roman unse­rer Kind­heit’ bei Rowohlt erschienen.