Eine Einführung zur Interviewreihe
von Kay Wolfinger
In seinem Aufsatz Das Unheimliche hat der Psychoanalytiker Sigmund Freud verdeutlicht, wie diffizil und plötzlich das Heimliche und damit Vertraute in das Grauen der Unheimlichkeit umschlagen kann. Ihm sekundierend hat Martin Heidegger in Sein und Zeit unnachahmlich die Verschränkung des Lebens mit dem Unheimlichen ausgedrückt: „In der Unheimlichkeit steht das Dasein ursprünglich mit sich selbst zusammen.“[1]
Damit in Korrespondenz steht das kulturgeschichtliche Motiv des Zaubers oder die im Theoriedesign der „Präsenz“ (Gumbrecht) seltsame Ergriffenheit jenseits einer „Wut des Verstehens“ (Hörisch). Von dieser unbegrifflichen Faszination, die von Kunstwerken ausgehen kann, ist es nicht weit zu der Konjunktur einer Reromantisierung, wie sie schon seit mehreren Jahren immer wieder an Erzähltexten konstatiert wird. So gerät diese ‚Neue Romantik‘ allerdings auch immer wieder in die Kritik, wenn man an den jüngsten Entzauberungsversuch von Marcel Lepper und Hendrikje Schauer denkt: „Was die „Neue Romantik“ so prägnant, fallweise auch so problematisch macht, ist nicht so sehr ihre Konjunktur in Abgrenzung von anderen Konjunkturen, sondern ihr einnehmender, nicht selten vereinnahmender Modus, ihre inszenierte Preisgabe von Konturen und Zuständigkeiten, von höflich schützenden Grenzen zwischen „ich“ und „du“ – in übergroßer Sehnsucht nach einem verloren geglaubten „wir“.“[2]
Und schließlich seien auch noch die Begriffe Rezipientenstörung und Interpretationsverdunkelung genannt, mit denen versucht wird, die „Interpretationsprovokation“ mit gleichzeitiger „Interpretationsverweigerung“ (Oliver Jahraus) zu umschreiben: Rezipienten suchen voller Unbehagen nach Sinn und Bedeutung der Textzeichen, auch dies ein Zusammenhang, wie ihn Mark Fisher in England in seiner essayistischen Studie The Weird and the Eerie (2017) umkreist hat.
Welche Tendenz man für die Gegenwartsliteratur angesichts der Macht moderner Technologien ablesen kann, beantwortet Charlotte Krafft in einem Artikel, indem sie den Berliner Philosophen Armen Avanessian zitiert: „Auf lange Sicht geht es also darum, den Code zu hacken, die Zukunft neu zu schreiben und dadurch Hoheit über die Gegenwart zurückzuerobern. Und wie jede gesellschaftliche Aufgabe, betrifft auch diese unmittelbar die Poesie. Sie könnte der Hintergrund sein, vor dem man den Trend zu futuristischer und spekulativer Literatur betrachten muss, der in Deutschland seit einiger Zeit zu beobachten ist.“ Das gegenwartsverändernde Potential der Kunstform Literatur wird dort auch so umschrieben: „Sie verfährt spekulativ wie die Finanzindustrie, nur eben nicht zweckorientiert, sondern destabilisierend.“[3] Die Signifikationsverweigerung, die Zeichenverwirrung in ihrer Unheimlichkeit führt also zu einer Form der Rezipientenverwirrung, aus der sich aber wiederum eine Art Zauber oder Sinn generieren lässt, nicht obwohl, sondern weil eine Destabilisierung des Bekannten eingetreten ist.
Mit drei Akteuren des Wissenschafts- und Literaturbetriebs hat der Münchner Literaturwissenschaftler Kay Wolfinger Interviews geführt und spürt der Thematik der Weirdness nach. Beleuchtet werden damit aber auch drei Werke, in denen sich die literarischen, literaturjournalistischen und literaturwissenschaftlichen Anteile mischen.
Leonhard Hieronymi, freier Autor aus Berlin, machte den Auftakt. Von ihm stammt das seinerzeit intensiv diskutierte Manifest der Ultraromantik, dem man schon seit 2017 manche Anregung entnehmen durfte: #1 Nicht sonderlich viel Hoffnung für unsere Spezies
Jan Drees, Mitarbeiter beim Deutschlandfunk Köln und Schriftsteller gab Einblicke in die Unheimlichkeit der psychischen Krankheit und lässt uns in seiner Mehrfachfunktion als Autor, Literaturkritiker und Germanist an seinen Überlegungen teilhaben: #2 Lesen verlangt Kontemplation
[1] Martin Heidegger: Sein und Zeit (1927), Tübingen 1967, § 58, S. 286f. – Siehe auch: Hartmut Lange: Über das Poetische, Berlin: Matthes & Seitz 2017, S. 156.
[2] Marcel Lepper und Hendrikje Schauer: Einleitung, Neuer Romantik. Eine kleine Literaturgeschichte 1989–2019, Stuttgart: Works & Nights 2019, S. 9–25, hier: S. 16.
[3] Charlotte Kraft: Poetisches Egohacking, Süddeutsche Zeitung 18. Juni 2019.