Pfingstrosen

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Édouard Manet, Bran­che de pivo­i­nes blan­ches et séca­teur (1864)

von Sarah Shtaierman

Erin­nerst du dich an das eine Mal im Dach­ca­fé letz­ten Som­mer? Weißt du noch, ich habe dir nach Laden­schluss eine Nach­richt geschrie­ben und du bist zu mir gefah­ren, stan­dest zunächst im fal­schen Auf­zug, bist schließ­lich doch die fünf Stock­wer­ke hoch­ge­lau­fen. Ich habe dich aus­ge­lacht, als du keu­chend mit roten Ohren vor mir stan­dest. In der einen Hand trugst du eine zer­fled­der­te Pick­nick­de­cke, in der ande­ren San­gria im Tetra­pack. Ob wir einen Eimer dafür haben, hast du im Vor­bei­ge­hen gefragt, seit wann arbei­test du hier noch­mal? Eine feuch­te Haar­sträh­ne klam­mer­te sich an dei­nen Nacken. Ich woll­te sie weg­bürs­ten bevor die laue Bri­se mir zuvor­kam, bevor ihr Hauch dei­ne fieb­ri­ge Haut abkühl­te. Du hast dein Haar dann hoch­ge­bun­den und mit einem Grin­sen auf die Dach­ter­ras­se gedeu­tet: „Ich wuss­te gar nicht, dass hier oben etwas blüht.“

Das Café war durch ein Groß­raum­bü­ro ersetzt wor­den, das habe ich heu­te ent­deckt. Ich stand mit dem Gesicht an der kal­ten Milch­glas­tür und ver­such­te, jen­seits ver­schwom­me­ner Büro­stuhl­kon­fi­gu­ra­tio­nen ein letz­tes Mal die Pfingst­ro­sen zu sehen. Ich konn­te nicht ver­ste­hen, was mit ihnen gesche­hen war. Dann ging die Tür einen Spalt auf und eine fah­le Dame mus­ter­te mich besorg­ten Bli­ckes. Ob sie mir hel­fen kön­ne, ob ich jeman­den suche. War­um habe ich die­se Frau wort­los bei­sei­te gescho­ben und das Büro beschrit­ten? Wohin genau woll­te ich zurück­keh­ren? Mei­ne Zun­ge lag fett und auf­ge­dun­sen hin­ter mei­nen Zäh­nen, als hät­te sie dort ihre letz­te Ruhe­stät­te gefun­den. Der Rest mei­nes Kör­pers war bloß reflex­ar­tig nach­hau­se geirrt.

Schön wäre es mit dir gewe­sen, selbst im kal­ten Schein der Leucht­stoff­röh­ren. Wir hät­ten unse­re Schu­he aus­ge­zo­gen und wären trotz der Bli­cke bar­fuß mit dem San­gria-Eimer über den Tep­pich­bo­den gewan­delt. Ich woll­te dir immer die Pfingst­ro­sen zei­gen, die damals trä­ge in ihren Vasen saßen. Ich woll­te, dass du die Tische bei­sei­te schiebst und dei­ne Pick­nick­de­cke über die Ter­ras­sen­die­len aus­brei­test, damit wir uns äch­zend dar­auf aus­stre­cken. Mit dem Abend wäre das letz­te biss­chen Wär­me aus dem Holz ent­wi­chen bis wir allein die Rest­hit­ze bil­de­ten, bis tief in die Nacht.

Die Dach­ter­ras­se war nun ver­ödet. Blü­hen Pfingst­ro­sen auch in Groß­raum­bü­ros? Denn ich konn­te kei­ne mehr fin­den. Wäre es denn bit­te mög­lich, sie nur ein letz­tes Mal zu sehen, bit­te? Sie fehl­ten mir wie ein Zahn, weißt du, ich fuhr mit der Zun­ge immer wie­der über die kah­le Fleisch­stel­le, zunächst von der Abwe­sen­heit über­rascht, dann ver­wun­dert, bohr­te mit der Spit­ze hin­ein, bis der Schmerz mir bestä­tig­te, dass ich etwas unwi­der­ruf­lich ver­lo­ren hat­te. Die Pfingst­ro­sen waren durch Gum­mi­bäu­me ersetzt wor­den. Jemand tipp­te mich an, jun­ge Dame, was tun Sie hier? Haben Sie sich bei dem Ort ver­tan? Jun­ge Dame, keh­ren Sie doch bit­te end­lich heim. Und ich frag­te mich wie das sein konn­te, dass es hier kei­ne Pfingst­ro­sen mehr gab.

Sarah Shtai­er­man (*1998) stu­diert Elek­tro­tech­nik und Infor­ma­ti­ons­tech­nik sowie Phi­lo­so­phie in Mün­chen. Teil­nah­me an der Baye­ri­schen Aka­de­mie des Schrei­bens, Ver­öf­fent­li­chung in Lite­ra­ri­sche Blätter.