von Mai Tran
Ein dunkelgrauer Audi fährt schnell die Autobahnauffahrt nach Würzburg hoch. Am Steuer beendet der Fahrer gerade das fünfte unzufriedene Kundengespräch an diesem Morgen. Nur Ärger mit den Kunden und dem Chef heute. Er sieht auf die Straße. In der Ferne bemerkt er eine Gestalt. Steht da etwa jemand mitten auf dem Grünstreifen? Beim Näherkommen erkennt er eine junge, dunkelhaarige Frau mit großem Rucksack in einem blauen Wintermantel, die ihre Hand raushält. Waren denn heute alle verrückt geworden?
Mala steht seit einer halben Stunde auf einem Rasenfleck an der Auffahrt. Ihr Herz klopft, ihre Hände sind feucht. Wo sollen die Autos bloß anhalten? Vielleicht hätte sie sich doch nicht hier hinstellen sollen. Da sieht sie einen grauen Audi blinken und schließlich abrupt neben ihr halten. Die Tür geht auf und ein »Bist du irre? Es ist viel zu gefährlich, sich hier hinzustellen!«, schallt ihr entgegen. Verzweifelt fragt sie: »Würden Sie mich vielleicht Richtung Frankfurt mitnehmen?« Der Fahrer – etwa um die fünfzig mit angegrautem Haar – murmelt: »Gefährlich hier zu stehen, steig ein, schnell … nicht die Sachen durcheinanderbringen.«
»Darf ich meinem Freund ein Foto von Ihrem Nummernschild schicken?«
»Was? Auf keinen Fall! Das ist ein Firmenwagen, ich darf niemanden mitnehmen. Wenn das jemand erfährt!«
Sie zögert. Das Nummernschild ist wichtig, aber sie hat schlechte Chancen, anders von dieser Stelle wegzukommen: »Kann ich Ihnen trotzdem vertrauen?« Er sagt genervt: »Das musst du schon selbst entscheiden.« Und auf ihren unschlüssigen Blick hin: »Hier, du kannst meine Visitenkarte abfotografieren.«
Mala entschließt sich, einzusteigen, da hält er sie zurück, »warte«, und hängt seinen Anzug vom Beifahrersitz nach hinten zu den restlichen Anzügen. Bevor sie ihre Füße in den Fußraum stellen kann, stoppt er sie wieder und holt von dort einige schwarze Mappen hervor — »die dürfen nicht geknickt werden.« Währenddessen rast ein Auto nach dem anderen an ihnen vorbei. Um das Ganze zu beschleunigen, nimmt sie kurzerhand ihren großen Wanderrucksack auf den Schoß, sodass sie fast nichts mehr sieht. Sie schließt die Tür: »Wir können los.« Sie fahren los.
Mala blickt auf die Visitenkarte: Lothar Müller, Jacobs Kaffee Vertrieb. Lothar trägt eine schwarze Anzughose, weißes Hemd. Sehr ordentlich. Im Auto ist es ebenfalls aufgeräumt, hinten hängen die Anzüge in Schutzhüllen, auf der Rückbank liegen Ordner. Zwischen ihnen eine Thermoskanne, Taschentücher. Typischer Firmenvertreter. Wird schon passen, er ist bestimmt nur gestresst und deshalb etwas schroff. Sie stellt sich ihm vor, er nickt nur, etwas klingelt, er hat schon wieder diesen gehetzten Gesichtsausdruck und bedeutet ihr, still zu sein: »Ich krieg einen Firmenanruf rein, du tust bitte so, als wärst du nicht da.«
Eine Frauenstimme tönt durchs Auto: »Lothar, gut dass ich dich erreiche, hier im Büro geht schon wieder alles drunter und drüber. Das Hotel Lieb hat gerade angerufen, sie wollen nochmal die gleiche Menge vom Crema Intenso. Wir haben aber Lieferschwierigkeiten. Ich weiß nicht, was ich machen soll.« Lothar bleibt ruhig: »In solchen Fällen kannst du Ben anrufen, er soll ihnen den einfachen Crema liefern, mit Rabatt und einer Entschuldigung, dass das gewünschte Produkt so bald wie möglich geliefert wird.«
»Lothar, du bist mein Held«
»Für dich immer gerne«, antwortet Lothar. »Gut, dass uns niemand zuhört«, stellt die Frau am anderen Ende der Leitung fest. Mala muss grinsen.
Lothar legt auf und stellt sich endlich vor. Sie öffnet den Mund, um zu antworten, da klingelt es schon wieder: »Das geht den ganzen Tag so«, raunt er ihr zu und nimmt ab. Mitten im Gespräch beginnt er etwas zu suchen. »Zettel?«, flüstert Mala und hält ihm Notizbuch und Stift hin. Er nickt, ist aber zu sehr mit Fahren beschäftigt, also schreibt sie – auf ihren Rucksack gestützt – Name, Adresse und Uhrzeit des Termins auf, reißt die Seite heraus und legt sie neben ihn. Lothar zeigt zum ersten Mal den Anflug eines Lächelns. Doch dann fällt sein Blick auf den Rucksack auf ihrem Schoß und sein Gesicht verfinstert sich wieder: »Das ist viel zu gefährlich! Stell dir vor, ich mache eine Vollbremsung, dann knallt er dir direkt ins Gesicht. Du musst ihn ordentlich abstellen!« »Wo denn?«, fragt sie, deutet auf die hinten aufgereihten Anzüge und Ordner und fügt beschwichtigend hinzu: »Das geht schon.«
Lothar lässt sich nicht beeindrucken: »Nee, wir halten gleich an.« An der nächsten Raststätte verstaut Mala ihren Rucksack mitsamt Wintermantel im Kofferraum. Sie streckt sich ein wenig und sieht aus dem Augenwinkel, wie Lothar in einer Kühlbox auf seiner Rückbank herumsucht. Als sie wieder einsteigen will, hält er ihr einen Apfel direkt unter die Nase: »Willst du? Ist Bio«. Er beißt in seinen Apfel. »Den musst du probieren.« Mala gehorcht: Er ist knackig, ein bisschen sauer, schmeckt nach Sommer. Sie schließt die Augen. Lothar schreit ihr ins Ohr: »Ist der nicht geil?« Sie zuckt zusammen, öffnet die Augen und nickt.
Beim Einsteigen deutet er auf die Kühlbox mit Äpfeln zwischen den Aktenordnern: »Nimm dir. Die sind so geil. Selbstgeerntete Äpfel von unseren eigenen Streuobstwiesen. Total Bio, nichts Chemisches dran und von uns selbst geerntet! So erdend, die Apfelernte. Die Natur ist doch der Wahnsinn, oder? Willst du mal sehen?« Lothar holt sein Smartphone heraus und zeigt ihr Fotos: eine große Wiese mit Apfelbäumen, ein Lastwagen mit der gesamten Ladefläche voll goldgelber und roter Äpfel. Davor steht eine braunhaarige Frau Mitte vierzig und lacht offen in die Kamera. »Das ist meine Freundin«, sagt Lothar und plötzlich in seinem Attacken-Tonfall: »Ist die nicht schön?« Mala nickt schnell. »Es sind ihre Wiesen. Ich bin zu ihr gezogen, und wir machen die Ernte jetzt gemeinsam. Wenn ich mal länger zu Hause bin.«
»Wie lange bist du denn immer so unterwegs?«
»Fünf bis sechs Tage am Stück. Nur im Urlaub können wir uns ums Grundstück kümmern. Am liebsten wäre ich aber zu Hause. Statt die ganze Zeit im Auto zu sitzen.«
Das Telefon klingelt wieder. Diesmal schreibt Mala gleich mit. Lothar freut sich: »Da könnte ich mich glatt dran gewöhnen, so eine mitschreibende Assistentin dabeizuhaben. Möchtest du zum nächsten Kunden nicht mitkommen? Ich bekomme täglich dreißig bis fünfzig Anrufe von Kunden und Kollegen. Ständig will jemand was von mir. Jacobs Krönung ist ja Weltmarkt. Da musst du schon gut organisiert sein, um länger dabeizubleiben. Auf Zack, weißt du?« Gut organisiert. Mala denkt an ihre vergessene Autobahnkarte. Außerdem muss sie bei »Weltmarkt« gleich an unethische Kaffeeplantagen denken. Wie passt das zu seiner Begeisterung für Bioäpfel?
»Es gibt einige UTZ-zertifizierte Kaffeesorten, aber es ist gar nicht so einfach das zu kontrollieren, kulturelle Barrieren. Kleine Kooperationen mit Bauern lohnen sich nicht bei der Weltmarktkonkurrenz. Wir beziehen unseren Kaffee von überall her. Da gibt es viele Schwierigkeiten, man weiß auch nicht wirklich, inwieweit die Vorgaben da eingehalten werden.«
»Was ist mit Direkthandel?«
»Das ist bei so einem großen Konzern und unseren Kunden schwierig zu realisieren. Würde auf Kosten des Gewinns gehen. Du studierst wohl nicht BWL, was?«
»Nee, Soziologie«
»Aha. Interessant. Ist es nicht gerade mitten im Semester?«
»Ja, schon.« Zwischen seinen akribisch aufgereihten Ordnern und Anzügen kommt Malas Leben ihr noch unklarer vor als sonst. Er sieht sie fragend an.
»Letzten Sommer ging es mir nicht so gut, ich fühlte mich konstant überfordert. Alles konnte mir sinnlos erscheinen, mein Freund und ich stritten viel, ich fühlte mich zu Hause manchmal, als würde ich keine Luft mehr bekommen.«
»Und jetzt möchtest du ein bisschen Luft schnappen?«
»Irgendwann, als ich es nicht mehr aushielt, ging ich einige Wochen in eine psychosomatische Klinik. Danach wollte ich nicht sofort zurück in meine gewohnte Umgebung, wo alle zu wissen schienen, was sie wollen und wohin sie gehören. Deshalb fahre ich jetzt Richtung Norden zu einer spirituellen Gemeinschaft am Meer. Ich möchte meditieren, hoffentlich Abstand und vor allem Klarheit bekommen.« Vorsichtig sieht sie ihn von der Seite an. Therapie und Spiritualität sind bestimmt nichts für erfolgreiche Vertriebler.
Lothar sieht in Malas ratloses Gesicht, ihr Blick ist unsicher. Ach was soll‘s, er sieht sie ja eh nie wieder, und sie scheint ihm vertrauenswürdig: »Ich hatte letztes Jahr auch eine Krise. Danach kam ich ironischerweise ausgerechnet in eine spirituell ausgerichtete Klinik. Dachte anfangs: Was wollt ihr mit diesem in Watte gepackten Psychozeug, das hatte überhaupt nichts mit dem richtigen Leben in der freien Wirtschaft zu tun. Die haben in der Klinik immer von ‚sich spüren‘ geredet, anfangs wusste ich gar nichts damit anzufangen, da gibt’s nicht viel zu spüren. Aber nach einer Weile merkte ich, dass ich überhaupt nicht wusste, was ich will. Kein Telefongeklingel oder Geplane. Ich hab mich drauf eingelassen. Das war am Anfang richtig beängstigend. Seitdem habe ich mich viel mit sowas beschäftigt, Spiritualität, Heilfasten. Heilfasten! Das musst du unbedingt machen! Du isst eine Woche lang nichts, kommst in einen tranceähnlichen Zustand. Danach isst du einen Apfel und der ist so geil, ist das leckerste was du jemals gegessen hast. Ist das nicht abgefahren?«
Mala sagt ausweichend: »Zumindest meditieren kann ich mir vorstellen. Ich mach mir schnell Sorgen, weißt du?«
»Und dann trampst du?«
»Ich glaube, ich möchte mir selbst zeigen, dass ich das allein kann.« Lothar zieht seine Augenbrauen hoch. »Na gut, vielleicht übertreibe ich dabei ein bisschen. Manchmal kämpft Abenteuerlust und … vielleicht auch schlechte Organisation mit meinem Sicherheitsbedürfnis.«
»Ich verstehe ja, dass du frei sein möchtest, aber ob das das Risiko wert ist? Stell dich zumindest an bessere Stellen in Zukunft.« Mala nickt einlenkend. Seine akribische Ordnung und Struktur haben etwas Beruhigendes.
Sie fahren eine Weile schweigend. Um die Mittagszeit sind sie an Malas Zielraststätte angekommen. Lothar holt dort zwei Brötchen: Wann hat er das letzte Mal mit jemandem zusammen Mittag gemacht?
»Eigentlich bekloppt: als ich bei Jacobs Kaffee anfing, war es relativ entspannt, ich hatte meine festen Routen und Zeiten, konnte morgens die Kinder beim Frühstück sehen und war zum Abendessen meist wieder zu Hause, damals musste ich noch nicht deutschlandweit unterwegs sein. Doch die Atmosphäre hat sich verändert. Konkurrenz, Provision, Digitalisierung, wir waren überall erreichbar und sollten es auch sein. Irgendwann sah mein Tag so aus: Ich stand um halb fünf auf, Mails checken, Route planen, sah die Kinder gegen halb sieben ganz selten mal zum Frühstück, fuhr los, war oft bis zweiundzwanzig Uhr unterwegs, durchgehend Telefonate oder Kunden. Sah abends kurz meine damalige Frau, Mails checken, fiel ins Bett, am nächsten Tag das gleiche Spiel. Am Ende schlief ich kaum noch, konnte nur in Zahlen denken, aber leistungsfähig habe ich mich gefühlt! Das Geld stimmte, wir konnten uns alles leisten, Haus, Garten, Pool.«
Lothar sieht geistesabwesend auf sein Brötchen.
»Was war mit deinen Kindern?«
»Ich war wie in einem Tunnel. Sie haben nebenher existiert, ich bemerkte höchstens, dass sie morgens gern Nutella frühstückten. Dachte fortwährend an die Arbeit, war wie eine Droge. Nach der Trennung von meiner Ex-Frau wurde alles noch schlimmer. Bis plötzlich gar nichts mehr ging. Von einem Tag auf den Anderen. Ich saß im Auto, mein Chef rief an, sagte ‚Lothar, du musst schnell zu dem Kunden kommen, der möchte unseren Vertrag kündigen, ist einer unserer Bestzahlenden, große Hotelkette, hatte Stress mit Dieter, der war zuständig, hab ihn gerade entlassen, du musst dich kümmern. Lothar, bist du noch da?‘ – ich konnte nicht mehr richtig reagieren, nur ‚ja‘ sagen. Als der Kunde anrief, war ich nicht fähig abzunehmen, ich war körperlich wie gelähmt. Das Handy klingelte ununterbrochen. Irgendwann rief meine Ex-Frau an, ich schaffte es endlich ranzugehen, sie war aufgebracht. Der Chef habe sie angerufen, ich sei nicht erreichbar, sie mache sich Sorgen. Ich sagte ‚Ich habe einen Anfall, körperliche Lähmung, du musst mich holen‘ In der Klinik dann: Burnout. Kommst schnell ins Hamsterrad alleine in deiner Karre. Keine Zeit nachzudenken. Außer man hat unerwartete Gesellschaft.« Er lächelt Mala an, wirkt für einen kurzen Moment weniger unter Druck. »Ist schön, wenn mal jemand zuhört.«
»Willst du den Job ewig weitermachen?«
»Weiß nicht. Letztens wollte ich mich mit meiner Freundin zusammensetzen und die nächsten fünf Jahre planen. Vielleicht gehen wir zusammen weg, dachte ich. Aber sie will die Obstwiesen ihres Vaters nicht verlassen. Wenn man zusammen ist, muss man doch gemeinsam planen, oder? Ganz oder gar nicht, das ist doch nicht zu viel verlangt, oder?«, fragt Lothar eindringlich.
»Ich bin da, glaub ich, die falsche Adresse. Mit mir ist gerade nicht gut planen.«
»Stimmt, sieh du mal zu, dass du gut ankommst heute. Hast du auch nichts vergessen? Es hat mich tatsächlich gefreut, dich mitzunehmen. Mach‘s gut«
»Mich auch, vielen Dank für alles, und vielleicht bis irgendwann, Lothar.« Er geht zum Auto, steigt ein, winkt, fährt weg. Mala bleibt mit ihren Sachen alleine zurück, atmet ein paar Mal tief durch, erschöpft vom Zuhören. Und froh, Zeit zu haben. Sie öffnet ihren Rucksack und findet einen Apfel und zwei Päckchen Jacobs-Kaffee, UTZ zertifiziert.
Mai Tran, geboren 1995, ist in München aufgewachsen. Nach dem Abitur zog sie nach Bamberg, um Psychologie zu studieren. In fremden sowie eigenen Texten interessieren sie besonders die Auseinandersetzung und Reflektion von Menschen mit sich selbst, Anderen und der Gesellschaft. Literatur ist für sie eine Möglichkeit, schreibend und lesend eigene und fremde innere Welten zu erkunden, zu verstehen und daraus zu lernen.