von Carolin Hensler
Es gibt Geschichten, die handeln von Helden. Großen Helden, die eine unüberwindbar erscheinende Aufgabe nicht nur meistern, sondern dabei auch noch über sich hinauswachsen. Das Böse wird bestraft, das Gute hervorgehoben. Die Geschichte ist aus, vom Held bleibt das Bild eines Tugendsymbols in unseren Köpfen zurück. Oder nicht?
Der dreiundvierzigjährige Mailänder Manager Pietro Paladini scheint einer dieser Helden zu sein: er hat einen guten Job, viel Geld, eine hübsche Lebensgefährtin und eine reizende zehnjährige Tochter. Er bezeichnet sich selbst als glücklich und erfüllt, bis seine Lebensgefährtin Lara plötzlich im Urlaub am Meer vor den Augen der gemeinsamen Tochter Claudia verstirbt. Pietro, der zum Todeszeitpunkt Laras nicht anwesend war, fühlt sich schuldig, seine Tochter im Stich gelassen zu haben. Von einem Tag auf den anderen beschließt er deshalb, nicht mehr von ihrer Seite zu weichen- und verlegt seinen Arbeitsplatz kurzerhand vor das Grundschulgebäude. Dort wartet er — jeden Tag, bis aus den Tagen Wochen und aus den Wochen Monate werden. Seine Arbeitgeber sowie seine Verwandten und Freunde stehen Pietros exzentrischem Verhalten zunächst zwar besorgt und misstrauisch gegenüber, akzeptieren es letztendlich aber doch als seinen Weg, mit dem Verlust der Lebensgefährtin umzugehen. Schnell erreicht Pietro einen hohen Bekanntheitsgrad in dem Mailänder Viertel und wird zum Kummerkasten seiner Umgebung. In Pietro selbst jedoch herrscht das stille Chaos: während er auf das Einsetzen des Schmerzes über Laras Verlust wartet, setzt er alles daran, seine Tochter Claudia vor selbigem zu bewahren. Er begibt sich schließlich auf eine Reise in die eigene Vergangenheit und lernt, sich selbst, die Welt um ihn herum und auch Claudia mit anderen Augen zu sehen.
Sandro Veronesi schuf mit Pietro Paladini einen ganz und gar unglamourösen Helden — einen Charakter, der im Zuge der Handlung erst verstehen muss, dass sein Leben schon seit Langem nicht mehr sein eigenes ist. Der Tod seiner Frau und nicht zuletzt die Sorge um die traumatisierte Tochter führen ihn zurück in die eigene Vergangenheit. Anhand dieser Selbstreflexionen lernt er, sich selbst sowie die Geschehnisse um sich herum mit kritischen Augen zu betrachten. Während die Tochter Claudia mit ihrem Schmerz auf wundersame Weise zurechtzukommen scheint, versinkt Pietro in seinem stillen Chaos. Er fühlt sich gefangen im Mitgefühl seiner Umgebung, vor allem jedoch in sich selbst. Im Kampf um das erlösende Gefühl der Trauer und gegen die eigene emotionale Sterilität, gerät Pietro an seine Grenzen. Erst allmählich, im Laufe der Geschichte, lernt er, dass er seinen Weg bereits gefunden hat.
Stilles Chaos ist ein intelligenter, humorvoller Roman, der sensibel mit den Themen Tod und Verlust umgeht und gleichzeitig einen ironischen Blick auf die Schnelllebigkeit unserer Gesellschaft wirft. Der Leser wird eingeladen, an der skurrilen Gedankenwelt des Protagonisten teilzunehmen; aufgefordert, einen ungewöhnlichen Blick auf die Gesellschaft und schließlich auf das eigene Leben zu werfen.
Indem die Figur Macho Pietro als gebrochene und an ihrem eigenen Versagen wachsende Figur dargestellt wird, verschieben sich auch die Grenzen zwischen gut und böse. Es beginnt ein Aushandlungsprozess, in dem nicht zuletzt auch der Leser Haltung beziehen muss. Haltung zur Welt und zu sich selbst.