#1 Sars Mundi — ein Jahresrückblick

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von Lau­ra Schmidt, Jona Kron, Laris­sa Schmid und Ste­ven Gabber

2020 ist vor­bei. Zwar blei­ben uns die Sor­gen­er­re­ger des letz­ten Jah­res wohl noch eine gan­ze Wei­le treu, doch soll 21 auch Neu­start bedeu­ten. Im Bereich Kri­tik dient die­ser etwas ande­re Jah­res­rück­blick als Start­schuss für die Rei­he Text­fie­ber. Es geht um Tex­te, die uns in Zei­ten der Pan­de­mie beson­ders beglei­tet haben und dies auf ganz unter­schied­li­che Art und Weise.

Lau­ra, 20, stu­diert Ver­glei­chen­de Lite­ra­tur­wis­sen­schaft, begeis­tert von ehr­li­chen Tex­ten und durch­dach­ten Wortspielen

AnnenMayKantereit — 12

Im Novem­ber 2020 freu­te ich mich wie kaum über etwas ande­res auf das über­ra­schen­de Erschei­nen des drit­ten Stu­dio­al­bums von Annen­May­Kan­te­reit. Es kam flüch­tig, uner­war­tet, aus dem Nichts. Selbst wenn man genü­gend Zeit gehabt hät­te, sich mit Erwar­tun­gen zu wapp­nen, wären sie wohl nicht mit dem Album kon­form gegan­gen. Wäh­rend die Band nor­ma­ler­wei­se mit rhyth­mi­schen Melo­dien, mit­rei­ßen­den Tex­ten und einer poe­ti­schen Tie­fe begeis­tert, schien 12 viel mehr roh und unge­schlif­fen. Zwei Attri­bu­te, die sich so wohl auch auf das Jahr 2020 über­tra­gen lassen. 

Es ist ein Album, wel­ches die Hörer viel­leicht mit mehr Fra­gen zurück­lässt als es Ant­wor­ten lie­fert. Doch ist es nicht eben genau das, was die­ses Jahr aus­ge­macht hat?

Hen­ning May, der Sän­ger der Band, nuschelt ins Mikro­fon. Mono­ton und repe­ti­tiv wird mit Ver­sen um sich gewor­fen, wel­che nicht rich­tig aus­ge­ar­bei­tet zu sein scheinen.

“Es ist ein Album aus dem Lock­down. Ein Album, das unter Schock ent­stan­den ist.”, so die Köl­ner Jungs auf ihrer offi­zi­el­len Web­site über ihr Werk. 

Es hat lan­ge Zeit gedau­ert, mich mit dem Album anzu­freun­den. Ich woll­te mich nicht in eine melan­cho­li­sche Stim­mung über die gegen­wär­ti­ge Situa­ti­on bege­ben. Viel lie­ber woll­te ich Lie­der zum Mit­sin­gen, Lie­der zum Ablenken. 

Aber sieht man das Album als Gesamt­werk, so erscheint es letzt­end­lich doch beein­dru­ckend: Jedes Lied ist prä­zi­se an einer Stel­le im Album plat­ziert. Hin­ter dem schein­ba­ren Wirr­warr, hin­ter dem Nichts­sa­gen­den, steht eine durch­dach­te Col­la­ge von Gefühls­wel­ten. Eine Col­la­ge des Jah­res 2020. 

Das Album sagt uns nicht, wie wir mit den Gescheh­nis­sen des letz­ten Jah­res umzu­ge­hen haben. Aber genau das soll es eben auch gar nicht. Viel­mehr indi­vi­du­el­le Ein­drü­cke prä­sen­tiert, ver­ar­bei­tet, künst­le­risch umge­setzt. Ich habe in 12nicht das eine Werk gefun­den, wel­ches mich durch 2020 brach­te. Den­noch erschien es mir in Zei­ten des Lock­downs als eben das Werk, wel­ches mich am meis­ten beschäf­tigt hat. Viel­leicht soll­ten wir alle, ob Coro­na oder nicht, manch­mal ein­fach inne­hal­ten und ver­su­chen, unse­ren Gefüh­len Aus­druck zu ver­lei­hen, jede Emo­ti­on wahr­neh­men und akzep­tie­ren, wie sie ist. Roh und ungeschliffen. 

Jona Kron, 27, stu­diert Ver­glei­chen­de Lite­ra­tur­wis­sen­schaft, gen­re­über­grei­fen­der Musik­lieb­ha­ber, fas­zi­niert von jed­we­der Art von Storytelling

Koffee — Lockdown

Wo wol­len wir hin, wenn die­se gan­ze Qua­ran­tä­ne vor­bei ist? Die­se Fra­ge stellt der jamai­ka­ni­sche Shoo­ting­star Kof­fee im Juli ver­gan­ge­nen Jah­res ihrem Schwarm in der Sin­gle Lock­down. Die 19-jäh­ri­ge Gram­my-Gewin­ne­rin phan­ta­siert von ech­ter Zwei­sam­keit in Zei­ten von Video­kon­fe­ren­zen und ihrem ers­ten Date nach dem namens­ge­ben­den Lockdown.

Die ein­gän­gi­gen Melo­dien des ange­nehm bass­las­ti­gen Instru­men­tals in Kom­bi­na­ti­on mit dem gekonn­ten Wech­sel zwi­schen Sing­sang und Flow-Pas­sa­gen machen Lock­down zu einem Hör­ge­nuss, auch für Ohren, die mit dem jamai­ka­ni­schen Eng­lisch wenig ver­traut sind. Wenn auch vor­der­grün­dig ein Lie­bes­lied, so lädt Lock­down doch dazu ein, unwill­kür­lich selbst ins Schwel­gen zu gera­ten, dar­über, was auf der ande­ren Sei­te der Qua­ran­tä­ne war­tet. Für mich ein knapp drei Minu­ten lan­ger Licht­blick in einem Jahr, das schein­bar nicht enden wollte.

The Boys

Wei­ter geht es von der Play­list zur Watch­list und vom opti­mis­ti­schen Träu­men zum dys­to­pi­schen Alb­traum. Die Adap­ti­on von Garth Ennis gleich­na­mi­gen Comic­buch The Boys (Seri­en­lauf­zeit 2019 bis dato) ging im ver­gan­ge­nen Jahr in die zwei­te Staffel. 

Die ers­te Staf­fel stell­te eine bru­ta­le Per­ver­si­on des Super­hel­den-Gen­res vor und bescher­te dabei der Seri­en­land­schaft den wohl unsym­pa­thischs­ten Ant­ago­nis­ten seit Game of Thro­nes Cers­ei Len­nis­ter. Die zwei­te Staf­fel bie­tet dar­über hin­aus — neben einem wei­te­ren ernst­zu­neh­men­den Anwär­ter für die­sen Titel — einen ver­stärk­ten Fokus auf eine Gesell­schaft, die sich kon­kur­rie­ren­den, macht­gie­ri­gen Draht­zie­hern aus­ge­setzt sieht.

Obwohl die Insze­nie­rung durch­aus Par­al­le­len zu aktu­el­len Ereig­nis­sen wie dem US-Wahl­kampf zulässt, sind Kon­text und Umgang mit bekannt anmu­ten­den Moti­ven stets der­art über­spitzt, dass sich bei­de Staf­feln von The Boys sehr gut dazu eig­nen, die Sor­gen des Pan­de­mie­all­tags für ein paar Stun­den zu relativieren.

Octavias Brood

Mei­ne letz­te Vor­stel­lung ist zwar nicht aus dem ver­gan­ge­nen Jahr, the­ma­tisch war die Kurz­ge­schich­ten­samm­lung Octavia’s Brood (2015) aller­dings womög­lich nie aktu­el­ler als in 2020. Im Geis­te Octa­via E. But­lers prä­sen­tie­ren Her­aus­ge­be­rin­nen Adri­en­ne Maree Brown und Wali­dah Ima­ri­sha unter dem Sci­ence Fic­tion Ban­ner 21 dys­to­pi­sche Kurz­ge­schich­ten größ­ten­teils afro­ame­ri­ka­ni­scher Schrift­stel­ler, Aka­de­mi­ker und Akti­vis­ten. Trotz der inhalt­li­chen Bru­ta­li­tät eini­ger Tex­te über­zeugt die­se Samm­lung mit der Hoff­nung, wel­che mit dem omni­prä­sen­ten Motiv des Wan­dels ein­her­geht. Auch wenn sich Octavia’s Brood mit unter 300 Sei­ten schnell gele­sen hat, habe ich für mich per­sön­lich fest­ge­stellt, dass es sich oft­mals lohnt, ein­zel­nen Geschich­ten ein wenig mehr Raum zu las­sen oder das Buch auch manch­mal für den Tag ganz bei­sei­te zu legen. 

Laris­sa, 20, stu­diert Ger­ma­nis­tik und Kunst­ge­schich­te im Bache­lor und hat eine Schwä­che für Gesamtkunstwerke

Billy Joel — Turnstiles

Teilt man uns im Lock­down in Schwel­gen­de und Kon­fron­ta­ti­ons­freu­di­ge, gehör­te ich im Jahr 2020 defi­ni­tiv ers­te­ren an, die zur Kon­fron­ta­ti­on mit offen­sicht­li­cher Kunst über Coro­na noch nicht bereit sind.

Ich ließ mich lie­ber mit Cap­tain Ben­ja­min Wil­lard beglei­tet von The Doors mys­tisch-eksta­ti­schen „The End“ immer tie­fer in den wahn­sin­ni­gen Kriegs­dschun­gel von Apo­ca­lyp­se Now (1979) zie­hen. Ich sah lie­ber das Bre­chen mit lite­ra­ri­schen und fil­mi­schen Kon­ven­tio­nen, wenn Charles Fos­ter Kanes tot-zitier­tes letz­tes Wort „Rose­bud“ in Orson Wel­les Citi­zen Kane (1941) kein Schlüs­sel zur Kom­ple­xi­tät eines Lebens sein kann und fiel lie­ber amü­siert vom Glau­ben ab, als in der Doku­men­tar­se­rie Tiger King: Mur­der, May­hem and Mad­ness (2020) nach dem Mot­to „but wait: there’s more“ eine Irr­witz-Kir­sche nach der ande­ren auf das bereits bestehen­de Absur­di­täts-Sah­ne­häub­chen dra­piert wurde. 

Nichts beglei­te­te mich jedoch im letz­ten Jahr so oft wie Bil­ly Joels vier­tes Stu­dio­al­bum Turn­sti­les (1976) — schon allein weil ich es, nach­dem ich end­lich eine Kas­set­ten-Aus­ga­be gefun­den hat­te, wöchent­lich auf dem Weg zu mei­nen Eltern in mei­nem 2006er Mini Coo­per auf Schlei­fe hör­te. So wie sich Bil­ly Joel auf dem Album­co­ver an einem New Yor­ker Sub­way-Dreh­kreuz befin­det, stand er auch im pri­va­ten Leben an einem Punkt,  an dem er sich vom bun­ten Hol­ly­wood-Trei­ben in Los Ange­les abwand­te  und in sei­ne Geburts­stadt New York City zurück­kehr­te. Er ver­ab­schie­det sich mit Say Good­bye to Hol­ly­wood von Los Ange­les, schaut um die Not­wen­dig­keit des Abschieds wis­send in I’ve Loved The­se Days auf die aus­ge­leb­ten Tage zurück und  kom­po­niert mit New York Sta­te of Mind eine heu­te noch oft öffent­lich zele­brier­te Hym­ne an sei­ne Hei­mat­stadt. In jedem der acht Lie­der erfasst der Inter­pret Joel mit unglaub­li­chem Gespür eine emo­tio­na­le und/oder fak­ti­sche Situa­ti­on, die sub­til und ganz frei­wil­lig ein Nach­den­ken über Ver­än­de­rung anre­gen will. Joel ist in sei­nen Cha­rak­te­ri­sie­run­gen und auch in sei­nem Stimm- und Kla­vier­spiel so fein­füh­lig, dass er ein Werk von grund­le­gen­der und all­zu mensch­li­cher Leben­dig­keit schafft. Die­ses sehr per­sön­li­che Album fängt Fra­gen und Stim­mun­gen der Jugend ein und steht an der Schwel­le zum Erwach­sen­wer­den. Sum­mer, High­land Falls reflek­tiert so eine noch zu ret­ten­de (oder eben nicht?) Bezie­hung,  All You Wan­na Do Is Dance beob­ach­tet ein Ver­wei­gern des Erwach­sen­wer­dens, mit James stellt der Song­wri­ter einen Cha­rak­ter vor, der sich zu wenig mit sei­nen eige­nen Erwar­tun­gen vom (beruf­li­chen) Leben beschäf­tigt und Pre­lude / Angry Young Man cha­rak­te­ri­siert einen sich gewis­ser­ma­ßen arche­ty­pisch dau­er­haft bedroht füh­len­den jun­gen Mann, dem eine rei­fe­re Erzäh­ler­stim­me ent­ge­gen­ge­stellt wird. 

Aus der Rei­he tanzt das letz­te Lied „Miami 2017 Seen the Lights Go Out on Broad­way), das in Retro­spek­ti­ve von dem Fall der Stadt New York erzählt. Es ist lus­ti­ger­wei­se die­se Kom­po­si­ti­on, wel­che mich aus dem gla­mou­rö­sen Los Ange­les, den nach­ge­fühl­ten Jugend-Stim­mun­gen und dem „New York Sta­te of Mind“ in die manch­mal ähn­lich dys­to­pisch wir­ken­de Rea­li­tät des Lock­downs zurück­holt.  Doch auch in Miami 2017 (Seen the Lights Go Out on Broad­way)über­dau­ert die Erin­ne­rung an die guten Zei­ten genau­so  wie an die schlech­ten Zei­ten – die „Show“ stoppt nicht mal der Unter­gang. Wie Bil­ly Joel in Sum­mer, High­land Falls poin­tiert schließt, bleibt die Wahl: „It’s eit­her sad­ness or euphoria“. 

Ste­ven, 25, Anglist und Ger­ma­nist, glaubt an den Tod des Autors

Stanley Kubrick — 2001: A Space Odyssey

Wenn wir aus dem Jahr 2020 eine Leh­re zie­hen kön­nen, dann ist es viel­leicht die erneu­er­te Erkennt­nis der Nich­tig­keit mensch­li­chen Daseins in einer pre­kä­ren Lebens­welt. Nie­mand über­nimmt die Ver­ant­wor­tung für eine belie­bi­ge Spe­zi­es wie der unse­ren in „ihrem“ sinn­ent­leer­ten Uni­ver­sum ohne gro­ße Nar­ra­ti­ve, ohne Daseins­zweck und ‑ziel. Ele­men­ta­re Bedro­hun­gen für die ver­meint­li­che Kro­ne der Schöp­fung sind zahl­reich und kön­nen vie­ler­lei Gestalt anneh­men. Hin­ter ihnen ver­birgt sich kein Plan, kein Sinn und kein Gesetz, außer das des Zufalls. Wer dies ver­in­ner­licht hat, besitzt zwei Hand­lungs­op­tio­nen: Zu resi­gnie­ren oder selbst die Eigen­ver­ant­wort­lich­keit in einem dar­wi­nis­ti­schen Über­le­bens­kampf anzuerkennen.

Ein Meis­ter­werk der Film­ge­schich­te, das einem die­se exis­ten­zi­el­le Grenz­erfah­rung ful­mi­nant vor Augen führt, ist Stan­ley Kubricks 2001: A Space Odys­sey aus dem Jahr 1968. Als in die Zukunft gerich­te­tes Sci­ence-Fic­tion-Epos behan­delt der Film die grund­le­gends­ten Bedin­gun­gen des Mensch­seins: Eine Spe­zi­es, die eines Tages im Pleis­to­zän beginnt, einen Kno­chen als Waf­fe zu gebrauchen.

Eine Spe­zi­es, die im fik­ti­ven Jah­re 2001 eine Erde bewohnt, die von Nukle­ar­waf­fen umkreist wird. Eine Spe­zi­es, die künst­li­che Intel­li­genz dort ein­setzt, wo sie ihr eige­nes Wis­sen als unzu­rei­chend erach­tet. Die­se Anker­punk­te bekom­men durch ihre chro­no­lo­gi­sche Anord­nung ihre Kohä­renz als evo­lu­tio­nä­re Fortschrittsbewegung. 

Jedoch erweist sich das Prin­zip Wei­ter­ent­wick­lung in Kubricks Sze­na­rio als eine ambi­ge Ange­le­gen­heit, die auch ihre Schat­ten­sei­ten birgt: Das Erfin­den von Waf­fen schafft die exis­ten­zi­el­le Bedro­hung, durch sie ver­nich­tet zu wer­den. Das Erzeu­gen künst­li­cher Intel­li­genz kre­iert eine Kon­kur­renz­si­tua­ti­on zu mensch­li­chem Wis­sen und Kön­nen. Erst den Ele­men­ten und den eige­nen, ver­gleichs­wei­se beschei­de­nen, tech­ni­schen Mit­teln aus­ge­setzt, inmit­ten der lebens­feind­li­chen Lee­re des Welt­alls offen­bart sich die mensch­li­che Gering­fü­gig­keit. Erfolg und Schei­tern lie­gen meist nur um Haa­res­brei­te von­ein­an­der ent­fernt. Den Unter­schied schafft das mensch­li­che Han­deln, etwa dann, wenn die Prot­ago­nis­ten den Kampf gegen ihr com­pu­ter­ge­steu­er­tes Raum­schiff auf­neh­men müssen.

Für die Rea­li­tät inmit­ten einer ver­hee­ren­den Pan­de­mie fol­gen­der Schluss: Ob letzt­end­lich ein Virus oder sein Wirt tri­um­phiert, hängt allein von mensch­li­chem Kön­nen und Wil­len ab. Dem Wil­len, sich und sei­ne eige­nen Bedürf­nis­se hin­ter das Wohl der All­ge­mein­heit zu stel­len. Dem Wil­len, für ein gemein­sa­mes Ziel zu koope­rie­ren. Und dem Wil­len, in einer Welt ohne Gott als eine Spe­zi­es fort­zu­be­stehen, für die nie­mand ande­res als sie selbst ver­ant­wort­lich ist.

 

mehr zu Stan­ley Kubricks 2001 — A Space Odyssey