Schauinsblau Wrapped 2023 Teil 1

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Col­la­gier­ter Blau­druck: © Fabi­an Schwankhart

Von Michaela Lübcke und Nina Gretschmann

Ein tur­bu­len­tes 2023 ist vor­bei. Das Jahr fand sich wie­der inmit­ten von Kli­ma­re­kor­den, eska­lie­ren­den Kri­sen­her­den und fest­ge­fah­re­nen poli­ti­schen Fron­ten. Sicher muss­te jede*r eige­ne Wege fin­den, um da Schritt zu hal­ten. Wel­che Wer­ke uns dabei zu treu­en Beglei­tern wur­den und was uns 2023 außer­dem beschäf­tigt hat, das ver­rät unser etwas ande­rer Jahresrückblick.

Michaela (24) studiert Germanistik, und ihr Jahreshighlight 2023 war ein Praktikum beim Fernsehen 

Was tut man als eine von Zukunfts­ängs­ten und Iden­ti­täts­kri­sen heim­ge­such­te Mitt-Zwan­zi­ge­rin? Man flüch­tet sich zurück in die eige­ne Kind­heit — zumin­dest ist das mei­ne per­sön­li­che Stra­te­gie. Da 2023 ein für mich von Unsi­cher­hei­ten gepräg­tes Jahr war, schlepp­te ich kis­ten­wei­se ein­ge­staub­te Kin­der­bü­cher vom Dach­bo­den mei­ner Eltern und ver­schlang, in einem wil­den Durch­ein­an­der, alles von Emil und die Detek­ti­ve bis hin zu Die Wil­den Hüh­ner. Auch in der Büche­rei mei­nes Ver­trau­ens wur­de ich regel­mä­ßi­ger Gast vor dem Kin­der­buch­re­gal und nach einer Wei­le sogar direkt mit Buch­emp­feh­lun­gen begrüßt. So auch an einem Sams­tag im Herbst, an dem mir gleich nach dem „Hal­lo“ die neu­es­te Anschaf­fung im Kin­der­buch­be­reich unter die Nase gehal­ten wurde. 

Das grüne Königreich

Im April 2023 erschien Cor­ne­lia Fun­kes neu­es Werk Das grü­ne König­reich, das in Zusam­men­ar­beit mit der ame­ri­ka­ni­schen Kräu­ter­kund­le­rin Tam­mi Har­tung zunächst auf Eng­lisch ent­stand und von Fun­kes Toch­ter ins Deut­sche über­setzt wur­de. Es erzählt die Geschich­te der zwölf­jäh­ri­gen Cas­pia, die auf­grund eines Aus­hilfs­jobs ihres Vaters den Som­mer nicht wie geplant zuhau­se in Maine, son­dern in Brook­lyn ver­brin­gen muss. Schon wäh­rend der Anrei­se beginnt sie, die Tage bis zur Heim­fahrt zu zäh­len: Denn sie hasst Groß­städ­te, und sowie­so wür­de sie viel lie­ber Zeit mit ihren Freun­din­nen ver­brin­gen. Cas­pi­as Ein­stel­lung zur Stadt ändert sich jedoch schnell, als sie in der von ihren Eltern kurz­fris­tig ange­mie­te­ten Woh­nung eine Samm­lung alter Brie­fe fin­det. Die ver­stor­be­ne Bewoh­ne­rin hat­te in den 1950ern ein Spiel mit ihrer Schwes­ter gespielt: Jeder Brief ent­hält ein Rät­sel, in dem die blin­de jün­ge­re Schwes­ter auf beson­de­re Art eine Pflan­ze beschreibt, die ihr auf Rei­sen mit dem Vater begeg­net war.

Cas­pia macht sich dar­an, die Rät­sel zu lösen – aller­dings nicht allein. Unter­stüt­zung bekommt sie sowohl per Text­nach­rich­ten von ihren Freun­din­nen zuhau­se als auch vor Ort von der Frau im Gewürz­la­den, der Teen­age­rin aus dem Blu­men­la­den und dem Sohn eines Gärt­ners aus dem Bota­ni­schen Gar­ten. Zudem ent­wi­ckelt Cas­pi­as Mut­ter, die in die­sem Som­mer an einem eige­nen Koch­buch arbei­tet, für jede Pflan­ze ein neu­es Rezept. Cas­pia und ihre Freund*innen ler­nen sowohl eini­ge bota­ni­sche Fak­ten als auch Details über die bei­den Schwes­tern und machen sich schließ­lich dar­an, die Ver­fas­se­rin der Brie­fe aus­fin­dig zu machen. 

© Ver­lags­grup­pe Oetinger

Das grü­ne König­reich ver­bin­det gekonnt Groß­stadt und Natur und zieht Par­al­le­len zwi­schen Ver­gan­gen­heit und Gegen­wart. Der Löwen­zahn am Stra­ßen­rand spielt eben­so eine Rol­le wie exo­ti­sche­re Gewürz­pflan­zen und letzt­end­lich geht es um Freund­schaft, Fami­lie und das „Wur­zeln schla­gen“ – dort, wo man es am wenigs­ten erwar­tet. Es kommt nicht wirk­lich dar­auf an, wo man sich befin­det – an wel­chem Ort, oder auch in wel­chem Lebens­ab­schnitt – wich­tig sind die Men­schen, die einen umge­ben. Die­se beru­hi­gen­de Bot­schaft ver­mit­telt das Buch neben zahl­rei­chen inter­es­san­ten Pflan­zen­fak­ten und sogar der Anhang punk­tet mit einem illus­trier­ten Pflan­zeng­los­sar und allen Rezep­ten, die im Lau­fe der Geschich­te erwähnt wer­den. Das grü­ne König­reich ist somit nicht nur eine tol­le Lek­tü­re für Kin­der, son­dern bie­tet auch für Erwach­se­ne Ent­schleu­ni­gung vom All­tag, Rät­sel­spaß und viel­leicht sogar die ein oder ande­re Inspi­ra­ti­on fürs Abendessen. 

Nina studiert Neuere Literaturen im Master und fühlt sich mittlerweile alt, aber noch lange nicht weise.

2023 war für mich ein beson­de­res Jahr. Im Sep­tem­ber stand der „gefürch­te­te“ 30. Geburts­tag vor der Tür und die­ser hat­te bereits im Vor­feld die gro­ßen Fra­gen in mir auf­ge­wor­fen: „Wo ste­he ich im Leben?“, „Wo will ich hin?“ und „Was ist der ‚Sinn‘ des Lebens??“ Mei­ne Lieb­lin­ge in die­sem Jahr haben mir gehol­fen, mich die­sen Fra­gen zu stel­len und ihnen die Macht zu neh­men. Am Ende kommt es näm­lich nicht auf Fra­gen und Ant­wor­ten an, son­dern auf das Leben und das kann sehr viel­sei­tig sein. Ich habe 2023 das Leben von sei­ner unvor­her­seh­ba­ren, über­rum­peln­den sowie berüh­ren­den Sei­te kennengelernt.

Past Lives (2023)

Nicht nur das Leben kann unvor­her­seh­bar sein. Es gibt tat­säch­lich auch noch Fil­me, die wirk­lich bis zur letz­ten Minu­te unvor­her­seh­bar blei­ben und sich jeg­li­cher Kli­schees ent­hal­ten. Celi­ne Songs Debüt­werk Past Lives gelingt dies auf beein­dru­cken­de Wei­se. Der Film beglei­tet Nora und Hae-Sung, zwei korea­ni­sche „Child­hood-Swee­the­arts“, deren Wege sich im Alter von 12 Jah­ren tren­nen, weil Nora mit ihrer Fami­lie nach Kana­da zieht. 12 Jah­re spä­ter neh­men sie über das Inter­net wie­der Kon­takt zuein­an­der auf – Nora lebt mitt­ler­wei­le in New York, Hae-Sung in Seo­ul. Wei­te­re 12 Jah­re spä­ter, mit Mit­te 30, tref­fen sich die bei­den erst­mals wie­der per­sön­lich. Nora, zu die­sem Zeit­punkt mit Arthur ver­hei­ra­tet, wird durch das Tref­fen mit Hae-Sung von ihrer Ver­gan­gen­heit, ihrem frü­he­ren Leben in Süd­ko­rea und ihren Gefüh­len ihm gegen­über ein­ge­holt. Hört sich nach einer typi­schen Drei­ecks-Geschich­te mit abseh­ba­rem Aus­gang an – dem ist aller­dings nicht so. Dem Film gelingt es, sich jeg­li­cher kli­schee­haf­ter Hand­lung zu ent­zie­hen und ohne ste­reo­ty­pe Figu­ren­zeich­nun­gen aus­zu­kom­men. Das ist neben der fein­füh­li­gen sowie authen­ti­schen schau­spie­le­ri­schen Dar­bie­tung von Gre­ta Lee, Teo Yoo und John Maga­ro vor allem dem Dreh­buch und der Regie­ar­beit von Celi­ne Song zu ver­dan­ken. Past Lives kommt anfangs lei­se und viel­leicht etwas unschein­bar daher, doch nach dem Sehen hallt der Film noch sehr lan­ge laut nach. Für mich nicht nur der bes­te Film des Jah­res, son­dern ein zeit­lo­ses Meis­ter­werk, wel­ches die Kom­ple­xi­tät und Unvor­her­seh­bar­keit des Lebens auf wun­der­schö­ne Wei­se darstellt!

Nicht wie ihr

Völ­lig über­rum­pelt wur­de ich die­ses Jahr von Tonio Schachin­gers Erst­lings­werk Nicht wie ihr (bereits 2019 erschie­nen). Der öster­rei­chi­sche Schrift­stel­ler hat mit sei­nem Debüt mit­ten in den Kern mei­ner Per­sön­lich­keit getrof­fen, bes­ser kann ich es nicht for­mu­lie­ren. Zum ers­ten Mal hat­te ich beim Lesen eines Romans das Gefühl, dass die­ser direkt für mich geschrie­ben wur­de. Hört sich etwas pathe­tisch an, daher wird der Inhalt des Romans ver­mut­lich über­ra­schen. Nicht wie ihr han­delt von einem fik­ti­ven öster­rei­chi­schen Pro­fi­fuß­bal­ler, wel­cher den Zenit sei­ner Leis­tung erreicht hat und sich dar­über Gedan­ken macht, wie es einer­seits kar­rie­re­tech­nisch für ihn wei­ter­ge­hen soll und was von ihm als Per­son, von sei­ner Iden­ti­tät, noch bleibt, wenn er kein Fuß­bal­ler mehr ist – für mich als Lite­ra­tur­wis­sen­schaft­le­rin, die Fuß­ball als ers­te Lie­be und größ­te Lei­den­schaft bezeich­net, ein abso­lu­ter Voll­tref­fer! Die Tat­sa­che, dass der Roman gleich­zei­tig auch noch eine Lie­bes­er­klä­rung an Wien und eine gro­ße Por­ti­on Schmäh mit­lie­fert, ist für mich, die seit dem „Aus­lands­se­mes­ter” in der öster­rei­chi­schen Haupt­stadt 2019 an chro­ni­schem Wien-Weh lei­det, das höchs­te der Glücks­ge­füh­le. Nicht wie ihr hat mir mei­ne inne­ren Sehn­süch­te auf­ge­zeigt und die­se gleich­zei­tig gestillt. Für mich ist es daher das tolls­te Buch des Jah­res …wenn nicht sogar das tolls­te Buch überhaupt!

Jake Bugg – Saturday Night, Sunday Morning

Der eng­li­sche Musi­ker aus Not­ting­ham mit der mar­kan­ten Stim­me beglei­tet mich nun schon seit sei­nem selbst­be­ti­tel­ten Debüt­al­bum, wel­ches 2012 erschien. Das Album Jake Bugg begeis­ter­te mich damals auf eine Wei­se, die kom­plett neu für mich war, und zum ers­ten Mal kon­zen­trier­te ich mich nicht nur auf ein­zel­ne Songs, son­dern nahm das Album als Gan­zes wahr. Das ist mir seit­her geblie­ben. Jake Bugg, Jahr­gang 1994, hat in den dar­auf­fol­gen­den Jah­ren wei­te­re Alben sowie meh­re­re EPs ver­öf­fent­licht. Alle Alben waren gut, aber hat­ten nicht mehr den glei­chen ein­schla­gen­den Effekt wie das ers­te. Aus die­sem Grund ver­lor ich mei­nen ehe­ma­li­gen Lieb­lings­künst­ler in den letz­ten Jah­ren auch etwas aus den Augen und beschämt muss ich geste­hen, dass ich mir erst die­ses Jahr sein bereits 2021 erschie­ne­nes Album Satur­day Night, Sun­day Mor­ning zum ers­ten Mal anhör­te … und die­ses hat mich wirk­lich umge­hau­en und tief berührt. Wochen­lang lief es in End­los­schlei­fe – vor allem der letz­te Song Hold tight ließ mich nicht mehr los. Buggs Stim­me – rau, nasal und gleich­zei­tig den­noch sanft –  in Kom­bi­na­ti­on mit dem melan­cho­li­schen sowie hoff­nungs­vol­len Song­text, geht unter die Haut, beflü­gelt und kommt einer Hym­ne an das Leben gleich. „Hold tight ´cau­se none of it lasts“ – alles ist ver­gäng­lich. Das mag stim­men, gleich­zei­tig hat mir das Album gezeigt, dass man­che Din­ge blei­ben. Man­che Lieblingskünstler*innen schaf­fen es auch nach Jah­ren noch mit ihrer Kunst zu berühren.

Der col­la­gier­te Blau­druck stammt von Fabi­an Schwankhart.

Fabi­an Schwank­hart absol­viert ein Stu­di­um der Kunst­päd­ago­gik an der Uni­ver­si­tät Augs­burg. Sein Fokus liegt in der Male­rei und Zeich­nung. Gleich­zei­tig inter­es­siert er sich für ver­schie­dens­te Tech­ni­ken und hat sich so auch mit der Cya­no­ty­pie beschäftigt.

Neben der Bil­den­den Kunst wen­det er sich außer­dem ger­ne der Lyrik zu. Dabei ver­packt er meist sehr per­sön­li­che The­ma­ti­ken und Sicht­wei­sen in weni­gen Versen.

Insta­gram: fab.schwank.art