Schreiben für die Erinnerung und gegen die Langeweile

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Ein Gespräch mit dem Schriftsteller Peter Wawerzinek

von Aria­ne Glin­de­mann und Tabea Krauß

“Das ist, wie wenn jemand beim Pil­ze­sam­meln oder beim Spa­zier­gang durch die Natur, plötz­lich etwas hört, was eigent­lich gar nicht da sein kann. Genau das pas­siert in mei­nem Roman. Du kannst einen Text lesen und plötz­lich kommt etwas hin­zu, das eigent­lich gar nicht sein darf.”

SCHAU INS BLAU: Herr Wawer­zi­nek, Sie erzäh­len in Ihrem neu­en Roman “Raben­lie­be” von einem Heim­kind, das sich Jahr­zehn­te spä­ter erin­nert und die Geschich­te der Suche nach sei­ner Mut­ter auf­schreibt. Die Erin­ne­rung an Kin­der­heim­zei­ten ist ja ein Topos, der nicht nur in der Lite­ra­tur­ge­schich­te, son­dern auch im Film häu­fig auf­taucht. Was hebt Ihren Roman von all die­sen Kin­der­heim­ge­schich­ten ab?

PETER WAWERZINEK: Dies­mal geht es dar­um, dass sich ein rei­fer Mensch erin­nert, der das lan­ge vor sich her­ge­scho­ben hat. Das Neue ist, dass hier ein Mensch in die Erin­ne­rung ein­steigt, ohne sich sicher zu sein. Heim­kin­der haben etwas Komi­sches an sich, sie lei­den mit ande­ren Kin­dern mit und wenn denen etwas pas­siert, haben sie oft den Ein­druck als wäre es ihnen sel­ber pas­siert. Man kann Kin­der tref­fen, die nach kur­zer Zeit behaup­ten, sie hät­ten einen Unfall gehabt, oder sie wären geschla­gen wor­den. Und man sagt: Du hast kei­ne Schürf­wun­den, kei­ne blau­en Fle­cken, da ist nichts gewe­sen. Und trotz­dem bleibt es in der Erin­ne­rung hän­gen, als hät­te es sein kön­nen. Das ist glau­be ich das Neue, was ich ver­sucht habe: in die Erin­ne­rung ein­zu­stei­gen, sich aber nicht sicher sein zu dür­fen. Ich bin immer froh gewe­sen, wenn ich mich geirrt habe.

SCHAU INS BLAU: Wie­so, mei­nen Sie, erschreckt und berührt das The­ma “Kin­der­heim” immer wie­der? Liegt es in Ihrem Fall viel­leicht am auto­bio­gra­phi­schen Cha­rak­ter des Buches? Eben dar­an, dass es sich um eine “wah­re Geschich­te” han­delt — um Ihre Geschichte?

PETER WAWERZINEK: Die Berüh­rung, die kann man nicht steu­ern. Ich war mir nicht bewusst, wie sehr das berüh­ren wür­de. Aber man kann sich bei Erin­ne­run­gen, wenn man gerecht blei­ben will, nicht zurück­neh­men. Ich muss­te in Kauf neh­men, dass das berührt. Ich bin ja auch berührt von Geschich­ten. Die müs­sen gar nicht mal tief­trau­rig sein oder unge­recht. Ich bin ziem­lich erstaunt über die star­ken Reak­tio­nen. Es über­rascht mich und ich habe nicht gedacht, dass das mal so ein all­ge­mei­nes The­ma sein könnte.

SCHAU INS BLAU: Das Fas­zi­nie­ren­de an Ihrem Roman ist nicht nur das Schick­sal des Heim­kin­des, das sie beschrei­ben, son­dern auch Ihre Art mit der Spra­che umzugehen.

PETER WAWERZINEK: Mit dem Vor­wurf: der erlaubt sich alle mög­li­chen Mätz­chen, die man sich nicht erlau­ben darf und ver­sucht in der Lite­ra­tur immer irgend­was zu machen, was gegen den Strich gekämmt ist — damit lebe ich ja. Das Neue ist, dass das wirk­lich wahr­ge­nom­men wird; dass selbst die gan­ze Lite­ra­tur­be­wer­tungs­ma­schi­ne­rie sich da plötz­lich mit rein­hängt. Ich habe immer schon Din­ge anders gesagt und dort poe­ti­sche Frei­räu­me gelas­sen, wo die Schre­cken zu groß sind. Ich mag die­se glas­kla­re Erzähl­struk­tur nicht, wo man schon weiß, was als nächs­tes kommt. Ich möch­te über­ra­schen, denn das Leben über­rascht mich auch. Schrei­ben, das darf man nie ver­ges­sen, ist ein Pro­zess, das ist eine lang­wei­li­ge Arbeit am Schreib­tisch. Und da will ich mich sel­ber auch mal über­ra­schen, indem ich irgend­wann beschlie­ße, ich erzäh­le die gan­ze Geschich­te heu­te mal ganz anders. Das macht dann Spaß. Mit­un­ter ist das sogar sehr lustig.

SCHAU INS BLAU: Sie sind ein gro­ßer Wort­schöp­fer. Zum Bei­spiel ver­bin­den Sie die Schlüs­sel­be­grif­fe “Rabe”, “Schnee” oder “Mut­ter” mit ande­ren Wor­ten und erzeu­gen dadurch ganz neue Begrif­fe, die in Leser­köp­fen ver­schie­dens­te Asso­zia­tio­nen erzeugen.

PETER WAWERZINEK: Es geht dar­um: Wie kann man etwas kür­zer fas­sen? Drei Sät­ze in einem Wort zusam­men­fas­sen. Zusam­men­zie­hen, im wahrs­ten Sin­ne des Wor­tes. Man kann die Leser auf einen Weg füh­ren, ver­su­chen, sie auf irgend­et­was hin­zu­sto­ßen, sagen: Das kann man auch mal so sehen. Wenn ich das mache, dann kom­men dabei neue Wort­schöp­fun­gen her­aus. Neue Wor­te schöp­fen, das mache ich, seit ich schrei­be. Das ist kein Pro­gramm, aber eine Auf­ga­be, weil Schrei­ben wirk­lich lang­wei­lig ist. Und man muss sich sel­ber — als Schrei­ber — in der lang­wei­li­gen Pha­se soviel gön­nen, dass man Wit­ze macht. Und wenn das dann zum Schluss noch poe­ti­sche For­men sind, dann erfreut mich das.

SCHAU INS BLAU: Sie arbei­ten in ihrem Roman mit einer Mon­ta­ge­tech­nik, die in der zeit­ge­nös­si­schen Lite­ra­tur so kaum zu fin­den ist. Auf ver­schie­dens­ten Ebe­nen spie­len sie mit Inter­tex­tua­li­tät und arbei­ten sowohl Nach­rich­ten­mel­dun­gen, als auch Mär­chen, Volks­lied­gut und Kin­der­rei­me in ihren Text ein. Wie wür­den Sie Ihre Vor­ge­hens­wei­se beschreiben?

PETER WAWERZINEK: Das ist sim­pel. Mei­ne Adop­ti­ons­groß­mutter hat mir in der Küche Lie­der vor­ge­sun­gen, Gedich­te auf­ge­sagt — sie konn­te die Glo­cke von Schil­ler aus­wen­dig. Sie las mir aber auch See­räu­ber- und Pira­ten­ge­schich­ten vor, und dabei hing ich an ihren Lip­pen. Wenn ich sie irgend­et­was gefragt habe, sang sie oft anstatt zu ant­wor­ten. Die­ses Lied blieb dann hän­gen. Mit Augen­zwin­kern hat sie sich gesagt: ?Der Klee­ne wird das schon ver­ste­hen, und wenn er es jetzt nicht ver­steht, dann ver­steht er es viel­leicht als alter Mann”. Und davor ver­beu­ge ich mich. Das war eine hohe Form von Poe­sie! Lie­der brin­gen immer irgend­et­was Hei­te­res rein. Das mag ich gerne.

SCHAU INS BLAU: Teil­wei­se gehen von einem Wort zum nächs­ten die Erin­ne­run­gen des Ich-Erzäh­lers in volks­lied­haf­te Ver­se oder Mär­chen­zi­ta­te über. Was evo­ziert die­se Vor­ge­hens­wei­se Ihrer Mei­nung nach im Leser?

PETER WAWERZINEK: Das ist, wie wenn jemand beim Pil­ze­sam­meln oder beim Spa­zier­gang durch die Natur, plötz­lich etwas hört, was eigent­lich gar nicht da sein kann. Genau das pas­siert in mei­nem Roman. Du kannst einen Text lesen und plötz­lich kommt etwas hin­zu, das eigent­lich gar nicht sein darf. An man­chen Stel­len habe ich etwas völ­lig Abwe­gi­ges mit in den Text geholt. Die­se Frei­heit ist fan­tas­tisch für den Schrei­ben­den. Aller­dings han­delt es sich dabei nicht um eine Stra­te­gie, die ich dem Leser prä­sen­tie­ren woll­te. Ich wuss­te nur, dass es in jedem ein­zel­nen Leser etwas ande­res aus­löst. Ich sel­ber, wenn ich das Buch jetzt lese, stau­ne immer wie­der, wie mich an die­ser oder jener Stel­le der Lied­text doch wie­der auf einen ganz ande­ren Rhyth­mus bringt, eine ganz ande­re Brü­cke ist, die mich plötz­lich vom erwar­te­ten Weg abführt. Schon allein, um mich selbst abzu­len­ken, erlau­be ich mir die­sen Spaß. Wenn es sol­che Text­stel­len gibt, die man schüt­teln kann, wie eine Schnee­ku­gel, das fin­de ich gut.

SCHAU INS BLAU: Sie schüt­teln eigent­lich bei­de Arten von Tex­ten: ein­mal ihre eige­ne Spra­che, die Sie, indem Sie die Volks­lie­der ein­fü­gen, ver­frem­den. Man liest den Satz ganz anders, wenn er in ein Volks­lied über­geht, gleich­zei­tig liest man aber auch das Volks­lied anders.

PETER WAWERZINEK: Abso­lut. Und dadurch hat jemand auch Chan­cen, wenn er das Buch in zehn Jah­ren noch ein­mal liest, es wie­der­um an den Stel­len ganz anders zu erle­ben, oder sich zu wagen, das mal ganz anders zu lesen. Ich bin im Prin­zip ein wit­zi­ger Mensch — ich mache ger­ne Scher­ze. Die The­ma­tik ist nicht ganz so wit­zig, aber ich den­ke, das soll­te man im Leben öfters machen: Wenn einen etwas lang­weilt, kann man gehen. Man kann sagen: “Ich hab mir von der Par­ty oder dem Roman mehr erwar­tet”, oder man ver­sucht die Lan­ge­wei­le zu been­den indem man etwas tut. Und so ist es in mei­nem Buch. Da pas­siert immer wie­der an völ­lig harm­lo­sen Stel­len uner­war­tet etwas, das die Par­ty des Lesens sprengt. Das gebe ich ger­ne zu. Das ist beab­sich­tigt. Ich habe ein­fach den Mut gehabt, mei­nen eige­nen Text zu unterbrechen.

SCHAU INS BLAU: Um noch ein­mal auf die Erin­ne­rung zurück­zu­kom­men. Es scheint, als gin­ge es Ihnen weni­ger um die Fak­ten Ihres Lebens, als um die spe­zi­fi­sche Art der Erin­ne­rung. Doch die Erin­ne­rung — wie Sie ganz expli­zit sagen — trügt; ist eine “Trick­be­trü­ge­rin”. Schrei­ben Sie also kei­ne Geschich­te des­sen, was war, son­dern eine Geschich­te der Erinnerung?

PETER WAWERZINEK: Eine Geschich­te des­sen, was sein könn­te. Ich sehe das als eine Art des Pup­pen­spiels. Aller­dings mit dem Ziel, dass der Pup­pen­spie­ler — der Len­ker der Geschich­te — ver­ges­sen wird. Jene Erin­ne­run­gen, die eine Eigen­dy­na­mik bekom­men, machen mir am meis­ten Spaß. Die Erin­ne­run­gen, die eine Eigen­welt ent­wi­ckeln, obwohl ich immer noch als Pup­pen­spie­ler agiere.

SCHAU INS BLAU: Ist es auch der Erin­ne­rungs­the­ma­tik geschul­det, dass Sie ihr Buch dezi­diert als “Roman” betiteln?

PETER WAWERZINEK: “Roman” war wich­tig um der künst­le­ri­schen Frei­heit eine Chan­ce zu geben. Der Ver­lag hat­te ange­dacht, den Text mit “Eine Erschüt­te­rung” zu unter­ti­teln. Aber mit die­sem Buch geht es ja wei­ter, es kom­men bestimmt in der nächs­ten Zeit ganz vie­le Leu­te auf mich zu, die sich erin­nern. Das ging nur, weil ich mich nicht so sehr für ein­zel­ne Fak­ten inter­es­siert habe. Wenn ich ein­zel­ne Fak­ten auf­ge­schrie­ben hät­te, hät­ten man­che gesagt: ja, das stimmt oder stimmt nicht. Da die Erin­ne­rung aber immer in einem unsi­che­ren Raum bleibt, kom­men Leu­te auf mich zu, die mit der Zeit und mit dem Leben zu tun hat­ten und sagen: Weil du es so nebu­lös gehal­ten hast, weil es nicht ganz klar ist, sage ich jetzt was dazu. Die­se Chan­ce auf ein Gespräch durch den Text hät­te ich nicht, wenn ich gesagt hät­te: So war es.

SCHAU INS BLAU: Das heißt, Sie sehen sich selbst nicht als den­je­ni­gen, der die Auto­ri­tät über das Gesche­hen hat?

PETER WAWERZINEK: Es ist abzu­se­hen, dass ich den Stoff aus der Hand geben muss. Ich bin nicht mehr der­je­ni­ge, der das Gan­ze beherrscht. Das ist wie eine Spru­del­ta­blet­te. Genau das habe ich ja als Mot­to vor­an­ge­stellt. Ich woll­te dem Teu­fels­kreis des Erin­nerns ent­kom­men und komi­scher­wei­se gera­te ich immer tie­fer hin­ein… Als hät­te ich es gewusst.

SCHAU INS BLAU: Herr Wawer­zi­nek, vie­len Dank für das Gespräch.

Peter Wawer­zi­nek wur­de unter dem Namen Peter Run­kel 1954 in Ros­tock gebo­ren. Er wuchs in ver­schie­de­nen Hei­men und bei ver­schie­de­nen Pfle­ge­fa­mi­li­en auf. Seit 1988 frei­er Schrift­stel­ler, Regis­seur, Hör­spiel­au­tor und Sän­ger, Ver­öf­fent­li­chun­gen u.a.: Mop­pel Schap­piks Täto­wie­run­gen (1991); Das Kind das ich war (1994), Das Des­in­ter­es­se (2010), Ber­li­ner Kri­ti­ker­preis für Lite­ra­tur (1991), Hör­spiel­preis der Ber­li­ner Aka­de­mie der Küns­te (1993), Bach­mann­preis und Publi­kums­preis 2010.