© privat
von Olivia Neumeyer
Ring. Die Türklingel. Ich starre weiter auf das schmale Teil aus Plastik. Riiiiing. Plastik, Teststreifen und … Wie heißt das Ding nochmal? Indikator! Ja. Grundkurs Chemie zehnte Klasse. Der Indikator verfärbt sich, wenn HCG im Urin ist. Meine Blutung ist in fünf Tagen fällig und in meiner Hand halte ich den Frühtest. Ich konnte nicht warten. Ich konnte auch die letzten Monate nicht warten. Meine Finger krallen sich so fest um das Ding, dass ich befürchte, es am Ende zu zerbrechen. Aber ich kann nicht lockerlassen. Ich kann einfach nicht. Riiiiiiiing! Es ergibt keinen Sinn und doch scheint mein Unterbewusstsein den Test einfach mit genug Hingabe davon überzeugen zu wollen, das richtige Ergebnis anzuzeigen. Noch ist das kleine Display nach unten gedreht. Noch weiß ich nicht, ob ich Mama werde. Noch klammere ich mich an das Stückchen Plastik, wie ich mich an den Traum eines winzigen Babys in meinen Armen klammere. Piiiiep. Piiiiep. Piiiiep. Der Timer. Ich könnte den Test jetzt umdrehen. Bumm! Bumm! Mein Herz. Riiiiiiiiiiiiiing! Die Türklingel. Meine Hand zittert. Was ist, wenn er negativ ist? Was ist, wenn es wieder nicht funktioniert hat? Es ist das letzte Mal, hat mein Mann gesagt. Er kann sich das nicht noch einmal antun. Noch einmal zusehen, wie ich in dieses Loch falle. Wir werden es nicht noch einmal versuchen. Statt den Test umzudrehen, sehe ich meine größte Angst vor meinem inneren Auge. Die Linie ist blau. Sauber durchgezogen. Und es ist genau eine. Grrrrchhhhhh! Es faucht schmerzerfüllt. Es, das Monster in meiner Brust.
Mir ist übel. Mein Magen krampft sich zusammen. Ich. kann. das. nicht. Nicht jetzt. Nicht schon wieder. Nicht allein. Ich stehe auf. Mir wird schwindlig. Ich fange mich wieder. Ohne ihn umzudrehen, lege ich den Test ins Regal neben die Zahnbürsten. Riiiiiiiiiiiiiing! Warum habe ich die Badezimmertür abgesperrt? Ich bin allein. Warum frage ich mich das jetzt? Im Flur unserer Altbauwohnung hallt jedes Geräusch aus dem Treppenhaus kakophonisch wieder. Ich drücke auf den Knopf. Summmm. Der Türöffner. Klack. Der Riegel wird zurückgeschoben. Schritte. Krach! Die Türe fällt wieder ins Schloss.
»Sag mal, spinnst du? Ich stehe seit gefühlt einer halben Stunde da unten!« Meine Schwester funkelt mich zornig an.
»Es waren genau zehn Minuten. Stell dich nicht so an. Ich hatte einen Timer laufen. «
»Was? «
»Das heißt: ›Wie bitte? ‹.«
»Leck mich! «
»Kaffee? «
»Unbedingt! «
Als würde ich in einen Spiegel schauen. Oder in ein Paralleluniversum. Die meisten Zwillinge entwickeln sich im Laufe ihres Lebens auseinander. Wir nicht. Gesichtszüge. Frisur. Kleidungsstil. Natürlich werden wir nicht mehr von unseren Eltern in identische Outfits gestopft. Unsere Garderobe ist sich aber so ähnlich, dass es manchmal so aussieht.
Tiefschwarz plätschert der Kaffee aus der Maschine. Zwei identische Tassen füllen sich synchron. Der Kaffee hat dieselbe Farbe wie das Blut, mit dem ich mein erstes Baby verloren habe. Braun, fast schwarz. Und dann rot. Immer mehr und mehr, während sich mein Unterleib zusammenkrampft. Nein. Nicht identisch. Nicht mehr. Ich habe einmal ein Leben in mir getragen und ich habe es verloren. In mir ist ein Loch. Und genau dort ist das Monster, mein treuster Begleiter, eingezogen.
Ich spüre den Blick meines Zwillings zwischen meinen Schulterblättern. »Alles gut bei dir? «, fragt sie mich mit für sie ungewöhnlich besorgter Stimme.
»Ja? Ja! Klar, du hast doch angerufen. Ich dachte, du willst mir was erzählen«, nuschele ich geistesabwesend. Meine Gedanken wandern zum Schwangerschaftstest. Wie gerne würde ich ihr erzählen:
»Ich bin schwanger«, sagt sie.
»Was? «
»Das heißt: ‚Wie bitte?‘. « Sie lacht. »Ich werde es nicht behalten. Ist gerade einfach nicht der richtige Zeitpunkt. «
Ich sage nichts. Ein Baby. In ihrem Bauch. Falscher Bauch. Ich will es aus ihr herausreißen.
Aus dem Loch, dort direkt zwischen meinen Rippenbögen, reckt das Monster seinen hässlichen Schädel und fletscht seine Fänge.
»Ich bin noch ganz früh. Hab espäter den Beratungstermin und dann geht es nächste Woche zur Ärztin. Das wird fix mit Medikamenten gemacht. So nervig. Das passt mir gar nicht. Nimmt einen ja körperlich trotzdem voll mit und das, obwohl es jetzt ja erst ein kleiner Zellhaufen ist.«
Ich schweige. Ich sehe das winzige Baby. Mein winziges Baby. Auf einem Klopapier. Umgeben von Blut. Es hat Arme. Es ist im Garten beerdigt. Ich stelle mir vor, wie sie ihren Zellhaufen in der Toilette herunter spült.
»Sag doch was! Ich bin doch nicht zu dir gekommen, um angeschwiegen zu werden!«
Sie will meinen Beistand. Natürlich. Anders als ich damals. Ich wollte mein Kind. Das Baby hätte meins sein sollen. Etwas, das wir nicht teilen. Sogar unsere Männer sind sich ähnlich. Aber nicht das Baby. Das wäre meines gewesen. Nur mein Baby. Aber es ist tot. Tot unterm Apfelbaum. Sie kann ihres ja dazu legen.
Emotionen, die ich nicht benennen kann, kämpfen in mir um die Überhand. Neid? Frustration? Trauer? Ja, aber da ist noch mehr. Es scheint mich von innen heraus zu verbrennen, ätzt sich durch meine Gedärme, vergiftet mich. Es ist der faulige Atem des Monsters, das sich in diesem Moment nichts mehr wünscht, als meiner Zwillingsschwester an die Kehle zu springen.
Klonk. Klonk. Klonk. Ihr Kaffeelöffel. Warum rührt man schwarzen Kaffee um?
»Weißt du, es ist ja nicht so, als würde es überhaupt nicht passen. Ich meine, der Job passt, der Mann passt, unser Alter passt.«
Spricht sie von sich oder von mir?
»Aber ich habe immer gedacht, das wäre auch so eine Sache, die wir gemeinsam machen. Ich habe mir immer vorgestellt, wie unsere Kinder gemeinsam aufwachsen. So wie du und ich. Stell dir mal vor, wie schrecklich es sein muss, so ganz allein. Ohne Zwilling.«
Stille. Sie dröhnt in meinen Ohren. Nein, das habe ich mir nicht vorgestellt. Ich wollte mein Baby für mich behalten. Aber das sage ich ihr nicht. Sie könnte es nicht verstehen. Sie fand es immer großartig, dass wir zu zweit waren.
Sie hält kurz inne und ich erkenne, wie sich ihre größte Angst in ihrem Blick abzeichnet. Die Angst, allein zu sein. Ihre Angst. Mein größter Wunsch.
»Du hast ja gesagt, du willst noch keine Kinder.« Lüge.
Quiiiiiiiietsch. Der Stuhl auf den Fliesen.
»Ich muss kurz ins Bad. Bin gleich wieder da. « Schon ist sie weg. Fuck. Der Test. Wenn ich ihr jetzt nachgehe, wird sie ihn auf jeden Fall sehen wollen. Egal. Er wird ihr schon nicht auffallen. Mittlerweile ist sich das Monster sicher, dass der Test sowieso negativ ist. Es ist dasselbe Monster, das sich gereckt und gestreckt hat, als nicht ich, sondern wir eine 1,0 im Abi hatten. Dasselbe Monster, das laut gebrüllt hat, als die Zulassungen für das Studium ankamen … für das gleiche Studium. Das Monster, das sie jedes Mal zerreißen wollte, wenn sie aus meinem Leben schon wieder unser Leben machte.
Und wie sie alle dastanden, und uns anstarren, affektiert grinsend und säuselnd, wie lieb wir doch seien. So süß, so ein perfektes Zwillingspaar.
Das Brüllen des Monsters ist der Soundtrack meines Lebens. Und je lauter es wird desto leiser werde ich im Schatten meiner Schwester.
Knall. Die Küchentür. So fest aufgestoßen, dass sie gegen die Wand fliegt. Sie hält den Test in der Hand. Meinen Test.
Ihre Züge formen sich zu einem freudigen Grinsen.
»Wir werden Mamas!«
Olivia Neumeyer geboren 1998 führt in ihrem eigenen Kopf mindestens so viele Gespräche wie außerhalb davon. Hin und her gerissen zwischen Gegenwart, Zukunft und Traumwelt bietet ihr das Schreiben eine Möglichkeit, alle diese Gedanken schwarz auf weiß zu sortieren.