Es war ein langer Sommer, den er aushalten musste. Wie die sechs Wochen zuvor verbrachte er auch diesen Tag freudlos auf seinem Rad und fuhr durch einen Irrgarten von Häusern, den er noch nie zuvor betreten hatte. Bisher hatte ihn diese Wohngegend nie angezogen, doch die Siebzehn-Uhr-Sonne lockte ihn in diesen unbekannten Teil der Kleinstadt. Schweißperlen rannten ihm von der Stirn herunter, als er in die nächstbeste Straße abbog. Hier befanden sich Häuser in regelmäßigen Abständen zueinander, ihre Rasen alle gemäht. Ein Geruch von frischem Gras schwebte in der Luft. Neben jedem Haus stand eine Garage und davor jeweils ein poliertes Auto. Im Sonnenlicht brüsteten sich die Fahrzeuge mit einem grellen Glanz. Jeder dieser Anblicke war identisch, ganz gleich, in welche der Straßen er abbog. Diese Gegend schrie nach geordnetem Wohlstand. Solch Sicherheit kannte er nicht in seinem Leben.
Er erforschte einige Gassen und Nebenstraßen, ohne einen Unterschied an der vorherigen Szenerie festzustellen. Ein Wind säuselte ihm einen Sommerhauch um den Nacken. Schweißperlen sammelten sich auf seiner Stirn. Das Sonnenlicht schmetterte ihm direkt ins Gesicht, mit seinem ausgewaschenen T‑Shirt wischte er sich den Schweiß von den mit Akne vernarbten Zügen. Das T‑Shirt verfloss immer weiter in ein Dunkelgrau. Im Winkel seines Blickes fiel ihm ein unscheinbarer Weg auf, der zu einem Hügel führte. Reife Früchte einzelner Brombeerbüsche verzierten den aus Schotter bestehenden Pfad. Es breitete sich ein eigenartiges Gefühl in seiner schmächtigen Brust aus, als ob ihn dieser Weg zwischen den Wohlstandshäusern den ganzen Sommer lang zu seinem Hügel rief. Er griff in seinen Rucksack nach seiner Wasserflasche, öffnete sie, trank einige Schlucke. Das Wasser war ungenießbar warm, während der Schweiß unaufhörlich seinen Rücken herabrann und die letzten Fasern seines alten Shirts dunkelgrau färbte. Er verstaute die Flasche wieder in seinem Rucksack und zückte die Zigaretten, welche er seinem Vater am gestrigen Abend heimlich entwendet hatte. Sein Blick huschte nervös von links nach rechts, als er argwöhnisch die Schachtel in eine Hosentasche steckte. Den Ruf des Hügels konnte er nicht mehr überhören und die Augen nicht von der prallschwarzen Reife der Brombeeren losreißen. Diesem Gefühl fügte er sich und die Fahrt des Schotterwegs nahm er mit seinem Rad auf sich.
Es war ein kleiner Hügel, an dessen obersten Punkt ein Kastanienbaum stand. Neben diesem Baum weste eine alte Holzbank vor sich hin, auf der er mit seinem Rucksack saß. Sein Fahrrad lehnte er gegen den Baum an. Er griff nach den Zigaretten und zündete sich eine an. Erst als er sich auf die Glut an ihrer Spitze konzentrierte, bemerkte er den Ausblick auf das gesamte Viertel. Die geometrische Anordnung, das repetitive Format von Garten und Haus, der reibungslose Übergang von Straße zu Straße faszinierten ihn. Ihm erschien es, als wären es tausende Bilder, welche in einen Filmstreifen endlose Variationen des immergleichen Motivs verschmolzen. Von hier oben aus wirkte alles wie gezeichnet. An diesem einsamen Kastanienbaum erschien alles wie ein wahrgewordener Traum. Der Rauch fühlte sich unangenehm an und kratzte in seinem Hals. Es wurde ihm heißer. Die Zigarette drückte er auf der morschen Bank aus, die in sich zusammenzufallen drohte, nahm einen Schluck seines warmen Wassers und stieg wieder auf sein Rad. Diesen Anblick, den er gerade noch so fasziniert genoss, konnte er im nächsten Moment nicht mehr ertragen. Seine Faszination für die Gegend schlug von einem Moment auf den anderen in Abscheu um. Schlagartig verspürte er sein armes Ungenügend-Sein, mit dem sein Leben definiert wurde. Gerade als er auf den Sattel stieg und losfahren wollte, blickte er unwillkürlich in einen der Gärten herab und nahm die erste Person in diesem Viertel bewusst wahr. Eine Frau lag einfach auf ihrer Sonnenliege da. Genüsslich streckte sie sich aus und räkelte sich mit ihrem schwarzen Badeanzug im Sonnenlicht. Sie lag einfach da auf ihrem Liegestuhl, unter ihr war ein weißes Handtuch ausgebreitet. Die Augenlider wurden von einer Sonnenbrille verdeckt. Ihre Haut bot die Bräune eines langen Sommers dar. Sein Sattel schwitzte. Der Griff um den Lenker verfestigte sich. Auf der Haut der Frau schimmerten Schweißtropfen am Körper, während in der Ferne Hundegebell die Stille störte. Das Handtuch überragte ihre Füße, die Strahlen erfassten sie komplett. Beinahe empfand er, dass sie dem Sommerhimmel der Spätnachmittagssonne glich. Er stand wie festgewurzelt, beobachtete sie, während die Sonne mit ihren letzten potenten Strahlen ihm den Rücken befeuchtete und ihr den Bauch streichelte. Etwas in ihm begriff nicht, wie man ohne eine Sorge oder einen Schmerz verweilen konnte. Dieser Anblick gab ihm eine fremde Ahnung von Frieden, welchen er nie verspüren würde. Seine Augen erblickten einen Traum im Sommer. Es war keine Liebe oder Lust, die er in diesem Anblick empfand. Zwischen ihrem angewinkelten Bein und ihren an die Stirn angelegten Armen fühlte er sich insgeheim geborgen und im nächsten Moment so alt und fremd.
Das Schwarz ihrer Haare zog seinen Blick an, als ob jedes Geheimnis seiner Seele sich im Glanz dieser Haarpracht wieder fände. Das Gebell der Hunde verstummte so plötzlich, dass es ihn aus seiner Trance herausriss. Er wandte seine Augen von ihr ab, trat in das Pedal und hetzte den Schotterweg herab. Ohne einen triftigen Grund zu wissen, raste er ziellos durch die Straßen hinaus aus dem Viertel. Hinter seinem Rücken verschmolzen die rötlichen Sonnenstrahlen des frühen Abends in einen weichen Violettton. Seine Finger krallten sich tief in den Lenker hinein, der Griff wurde fester und fester. Plötzlich fing er an zu weinen. Sein Rücken verdrängte die Sonne, während sich der nie endende Schweiß und die Tränen zu einem lichtlosen Ozean vereinigten. Eine Sehnsucht wurde zurückgelassen und aus seinem Körper floss Schmerz.
Der Fernseher flimmerte stumm vor sich hin, während der Vater im Sessel davor schnarchte. Sein Bier war in der Hand halbleer, die Zigarette lag immer noch glühend im Aschenbecher zwischen leeren Bierflaschen. In der Küche leuchtete die Digitaluhr 22:13 und der Kühlschrank war seit Tagen leer. Auf dem Bett liegend starrte er mit seinen rotunterlaufenen Augen auf die Decke. Während die Lichter gelöscht waren, warfen nur die alten Straßenlaternen von draußen Licht herein. Das Flimmern des Fernsehers, das Schnarchen des betrunkenen Vaters, sein eigenes Atmen erfüllten die Stille seines tristen Zimmers. Sein Vater schlief weiter, wie er es die letzten drei Jahre tat. Seine Mutter fehlte weiter, wie sie es die letzten drei Jahre tat. Er lag da und existierte. Die Zeit verstrich, sein Blick verharrte an der Decke und der Vater war weiterhin im suffgetränkten Schlaf gefangen. Die Gedanken des Jungen flossen gleich einer Strömung immer zu einer bestimmten Erinnerung zurück. Der späte Nachmittag holte ihn mit jeder Sekunde näher ein, egal wie lange er auf seine Decke starrte. Er hörte immer noch das letzte Rufen des fernen Hügels, welcher ohrenbetäubend seinen Namen rief. Sein Verstand wurde von einer Sintflut aus Gedanken ertränkt, sein Körper zuckte rastlos, war zu keiner Ruhe fähig. Diesmal breitete sich keine Leere in ihm aus, wie sie es eigentlich in den letzten drei Jahren stets tat. Die Bilder schwebten vor seinem Geist umher. Der Hügel, der Schweiß, die alte Bank, der Kastanienbaum und inmitten von alledem war immer sie. Das Schimmern der Haut funkelte weiterhin auf seinen dunklen Pupillen, versetzte seinem Herz einen herben Stich. Währenddessen schrie der Hügel, rief unermüdlich aus der Ferne nach ihm. Er bemerkte, dass seine Deckenwand sich unter seinen Atemzügen und unter dem fluoreszierenden Licht der Straßenlaterne wandelte. Oder spiegelte diese Decke nur seine Seele wider? Die Küchenuhr leuchtete 00:04 als er leise am betrunkenen Schlafenden vorbeischlich, seine Schuhe anzog und zu jenem Ort fuhr, der ihn beständig anzog. Er trat in die Pedale, während dank der Nacht keine Schweißperle seine Poren verließ. Der Fahrtwind war kühl und er fühlte sich in ihm befreit. Sein Wandel in dieser Nacht wurde ihm mehr und mehr bewusst.
Mit einer Zigarette in der Hand lauschte auf der Bank dem Rascheln der Kastanie. Nur er allein, das Flüstern des Baumes und der schweigsame Hügel vereinten sich mit dem Weiß des Sichelmondes. Sein Blick heftete er fest auf dem Nachthimmel. Reglos verfolgte er, wie die Wolken sich in ihrem Grauton veränderten. In dieser Wolfsstunde bemerkte er zum ersten Mal, wie die tiefgrauen Wolken sich zu einem Blassgrau wandelten. Unter dem Glanz vereinzelter Sterne teilten sie sich auf und so zerrissen verweilten sie im Schein der sichelmond-gekleideten Nacht. Er saß nur da und sinnierte. Seine Gedanken brachen sich an der Schweigsamkeit des nachtumwobenen Hügels, auf welchem er bewegungslos verharrte. Seine Welt zerfiel in Tatsachen. Er besann sich der inneren Einöde, welche er diesen Sommer täglich verspürte. Er dachte an die Lieblosigkeit, welche er in seiner Familie erleben durfte. Er machte sich Gedanken, die Wolken und der Sternenhimmel dahinter in seinen Pupillen fest verankert. Im sichelweißen Schein teilte er mit dem Hügel diese kosmische Einsamkeit, welche nun sein Herz erfüllte. Um sie herum verlor alles seine einst feinen und kongruenten Linien.
Es war ein Moment, welcher den Schwellpunkt überschritt, die Unschuld überwandte und sich in ihm ausbreitete. Ihm dünkte, dass die Nacht ihm das Kindliche rauben werde. Seine Seele war reif. Auf diesem Hügel war er sich dessen bewusst, dass die Träumereien von Unschuld und Hoffnung an diesem Tag beerdigt worden waren. Um ein letztes Mal Kind zu sein, ein letztes Mal sich von diesem Abschnitt seines Lebens zu verabschieden — deswegen war er hier und verharrte hier auf der Hügelkuppe in den kostbaren letzten Augenblicken seiner Unschuld.
Die Sonnenliege war unbesetzt. Seine Augen hatten sie dennoch vor sich. Er sah in ihr alles, was in seiner Welt war. Zwischen dem Glanz ihrer verschwitzten Haut und ihren braunen Armen erspähte er, dass seine Mutter nie zurückkehren würde. Auf ihrem angewinkelten Bein erblickte er seinen Vater, der ihn misshandelte. In ihrem schwarzen Haar verfing sich die Gier, mit welcher sich der Vater Tag für Tag zu Tode soff. Das Leuchten der Sonnenbrille spiegelte die fehlenden Freundschaften seiner bevorstehenden Jugendzeit. In diesem von der Sonne so schön gemeißelten Körper erblickte er die Wahrheit. Reglos erahnte er, was es bedeutete, erwachsen zu sein. An diesem Hügel erlebte er einen Ausblick auf seine Zukunft. Die Zigarette glühte verschwommen rot und der Sichelmond schien prächtig auf eine traurige Jugend herab. Auf der Sonnenbank lag das weiße Handtuch, vergessen von ihr.
Gabriel Gavran, 1994 in Zagreb geboren und in Aalen aufgewachsen studiert in Augsburg den Masterstudiengang Germanistik. Die Begeisterung für die Werke von Hesse, Murakami, Mishima und Bukowski schöpfte ein Verlangen in ihm, selbst Geschichten zu kreieren. Inspiration findet er in Film, Gemälden und Musik, aber auch Ereignisse aus dem eigenen Leben definieren seine Texte. Von einem Traum angetrieben, mit seinen Werken und zukünftigen Ideen in der Literatur einen prägenden Fußabdruck zu hinterlassen, widmet er sich dem Erstellen von einzigartigen Texten.