© Vyacheslav Okun, Good Friday 2020
Ein Gespräch mit Dorothea Erbele-Küster über christliche Glaubenslehre im Kontext der Pandemie
von Denise Kelm
Der 2021 erschienene Band Theologie infiziert des Autorenkollektivs Dorothea Erlebe-Küster, Volker Küster und Michael Roth thematisiert die Rolle der evangelisch-christlichen Lehre in der Lebensgegenwart der Corona-Pandemie. Die Kernthese des Buches dreht sich um die Annahme, dass die Glaubenslehre niemals losgelöst vom Leben der Christen ausgelegt werden kann, sondern zwangsläufig durch die Verknüpfung von Glaubensvorstellungen mit dem Erleben infiziert wird. Das Christentum erscheint plastisch und körperhaft, es ist keine abstrakte und entrückte Lehre, sondern findet in menschlichen Körpern statt und wird gleichsam von der Bedrohung der Krankheit heimgesucht. Wie sich einst Jesus den Kranken und Ausgestoßenen näherte, so ist es auch heute noch der Anspruch des Christentums, sich dem Unschönen der Welt auszusetzen, in Kontakt zu treten, sich betreffen und davon bedrohen lassen – wie es zumal durch schädliche Theologie geschieht, wenn in populistischer Manier behauptet wird, Krankheit sei eine Strafe Gottes für ein sündiges Leben. Der Wert einer positiven und allen Widrigkeiten zum Trotz lebensbejahenden Theologie, wie sie die Autoren fordern, geht einher mit einer Aufwertung der kränkelnden Leiblichkeit – denn erst der Leib macht den Menschen zum lebendigen Wesen, wird zum Resonanzraum der Gotteserfahrung. Dabei geht es keineswegs um eine Verklärung der Pandemie. Vielmehr stehen bestärkende Auslegungen des Bibeltextes im Mittelpunkt, die darauf zielen, den leidenden Menschen empathisch entgegenzutreten, ihn einzubinden in die Historie beladener Christen, die sich wie alle Lebewesen durch Leid und Leben kämpfen.
schauinsblau: Der Titel Ihres Buches erklärt sich daraus, dass die Theologie kontextuell gedacht wird, das heißt die Situation der Pandemie auch die christliche Religionsausübung berührt und somit beschmutzt (infecere = beschmutzen, einfärben, S. 9).
Erbele-Küster: Wie treffend Sie das zusammengefasst haben ‒ dankeschön. Ja wir betonen, die Theologie ist infiziert von der Pandemielage und muss darauf reagieren. Dabei schwingt in dem Titel die Doppeldeutigkeit mit: Theologie selbst steckt an im metaphorischen Sinne einer Immunreaktion bzw. einer Krisenbewältigungsstrategie.
schauinsblau: […] In diesem Kontext verweisen Sie auch auf die Pestwellen des späten 16. Jahrhunderts, welche die Inklusion des Wortes „infizieren“ zum deutschen Sprachgebrauch nach sich zogen. Ist diese Kontextualisierung und Herleitung nicht etwas zynisch, wenn man bedenkt, dass während der Pestwellen christliche Rituale (wie das Herumreichen des Abendmahlkelches) die Verbreitung der Seuche noch beförderten und somit die im Glauben seelische Reinheit Suchenden faktisch infizierte?
Erbele-Küster: Ein zynischer Ton schwingt nicht mit. Im Gegenteil genau dieses Wissen darum, dass Religionspraxis auch eine Verantwortung hat. In der Tat haben sich dann auch im ersten Lockdown zum Schutz vor einer Infektion die Gottesdienstformen schlagartig verändert. Der Verweis auf infecere ist zuerst einmal eine historische begriffsgeschichtliche Herleitung, die durchaus widerspiegelt, dass Theologietreiben und Religionsausübung nicht ungefährlich sind. Der Titel nimmt die Rede von der Infektion ja metaphorisch auf und will damit zum Ausdruck bringen, dass unser Theologietreiben als Hochschullehrer*innen und unsere religiöse Praxis nicht jenseits der Krise vollzogen werden kann. Wir stecken als christliche Theologen und Theologinnen mittendrin und versuchen uns den Fragen zu stellen, die das Pandemiegeschehen offenlegt. Das hat uns dann auch als Autorenkollektiv zusammengebracht.
schauinsblau: Auf Seite 13 zitieren Sie eine These Chung Hyun-Kyungs, nach welcher der Gläubige Text sei, Bibel und Christentum jedoch der Kontext. Dies erscheint paradox, wenn man bedenkt, dass der Text üblicherweise das Gelesene ist. Wenn nun die Gläubigen der Text sind, wer ist dann der Rezipient? Im Kontext welcher Texttheorie erklären Sie diese These?
Erbele-Küster: Das ist in der Tat eine Umkehrung der traditionellen Hermeneutik. Die südkoreanische Theologin, die seit Jahrzehnten in New York lehrt, formulierte dies sehr prägnant: Wir sind der Text. Feministische Theologinnen und Befreiungstheologen in unterschiedlichen Kontinenten entwickelten eine ähnliche Hermeneutik oder Texttheorie. Der Leib, die konkreten Erfahrungen, der geschichtliche Kontext muss ausgelegt werden. Im lebensgeschichtlichen und sozialen Kontext muss sich Gotteserfahrung abbilden. Genau diese Grundannahme, dass die Erfahrungswelt der Ort der Auslegung und somit der Text ist, bildet einen Ausgangspunkt oder fast eine Notwendigkeit unseres Buches. Die Erfahrung der Pandemie will theologisch ausgelegt werden. Im ersten Kapitel des Buches, aus dem dieses Zitat stammt, legen wir alle unsere hermeneutischen Grundvoraussetzungen dar.
schauinsblau: Sie sagen, dass die Krise der Pandemie keine rein hygienische Krise sei, sondern eine enthüllende Krise, da sie gesellschaftliche Probleme besonders im Hinblick auf soziale Ungleichheit drastisch offenbare: „Das Virus überschattet dann nicht alle anderen Themen, sondern erhellt diese.“ (S.20) Dies scheint jedoch im Widerspruch zu den von Ihnen gegen Ende des Buches angesprochenen humanitären Problemen zu stehen. Sie nennen dort als Beispiel die Aussetzung der Seenotrettung der EU im Mittelmeer ab dem Frühjahr 2020 (S. 113), also zu demselben Zeitpunkt, als die erste Pandemiewelle ihren Höhepunkt erreichte. Entsteht hier nicht vielmehr der deutliche Eindruck, dass die Pandemie und ihre Folgen für die deutsche Bevölkerung sehr wohl die Auseinandersetzung mit außereuropäischen Krisen unterdrückte und in den Schatten stellte, da sie schlicht aus dem Bewusstsein verdrängt wurden und eine Empörungsreaktion der Bevölkerung ausblieb?
Erbele-Küster: Sie benennen die Problemlage: die Pandemiebekämpfung drängte andere Themen in den Hintergrund, obgleich genau die Pandemie unsere Verstrickungen theologisch gesprochen die strukturelle Sünde offenlegte. Die Pandemie legte den Finger auf Dinge, die wir schon längst wissen und hätten verändern müssen: wie die Arbeitsbedingungen der Menschen, die in der Pflege und im Gesundheitswesen insgesamt arbeiten, die Situation in den Schlachthäusern…etc. „Das Virus legt uns aus“, so lautet die zugespitzte These, die im Buch vertreten wird. Die Covid-19 Pandemie wurde zum Brennglas für die unterschiedlichen Krisen: die Klimakrise, die ökologische Zerstörung, die mangelnde Anerkennung un/bezahlter Sorgearbeit, der neoliberale Kapitalismus.
schauinsblau: Eine weitere zentrale These Ihres Buches lautet, dass Covid-19 die Menschen auf ihren Leib reduziert und ihnen die Vulnerabilität desselben spüren lässt. Dies bringt den Menschen in eine zwielichtige Distanz zu sich selbst: Er empfindet sich zugleich als infizierten Körper, andererseits hat er ihn nur, da der Geist sich nicht mit der leidenden Hülle identifiziert (S. 34 f.). Die Leiblichkeit des Menschen wird hier bejaht, da Empathie mit dem leidenden Körper gefordert wird, dessen Verletzlichkeit nur die Kehrseite seiner Lebendigkeit ist, die von Gott in den aus Ackerboden geformten Adam eingehaucht wurde (S. 37). Wie kommt es, dass der Leib, der in der Geschichte des Christentums meistens abgelehnt wurde, sofern er beschädigt war (Krankheit als Symptom moralischer Beschmutzung) nun derart aufgewertet wird?
Erbele-Küster: Ihre Frage macht deutlich, dass uns an einer Neubewertung der Leiblichkeit liegt, das möchte ich festhalten. Ich würde deshalb auch nicht sagen, dass die Pandemie uns auf die Leiblichkeit reduziert, sondern, dass sie uns mit der Leiblichkeit konfrontiert. Es sind die Statistiken der Infektions- und Todeszahlen in ihrer Omnipräsenz, die unsere Leiblichkeit auf eine Statistik reduzieren bzw. sie lassen die leibhafte Geschichte nicht mehr sichtbar werden. Wir als Autorenkollektiv rücken die Leiblichkeit als anthropologische und theologische Kategorie in den Vordergrund. In Ihrer Frage nehmen Sie den Gedanken aus der biblischen Schöpfungserzählung auf, der für mich als Bibelwissenschaftlerin zentral ist für das Verständnis von menschlicher Leiblichkeit: Wir sind aus dem Erdboden geformte Wesen mit göttlich eingehauchtem Atem. Vulnerabilität und Lebendigkeit sind also aufeinander bezogen. Nochmals anders gesagt: Unsere von der Pandemie infizierte Theologie, die wir als Autorenkollektiv entfalten, nimmt ihren Ausgangspunkt in den infizierten Körpern.
schauinsblau: Auf Seite 82 ff. verweisen Sie darauf, dass die Unmöglichkeit von Präsenzgottesdiensten neue Formen religiöser Kommunikation belebt, beispielsweise Online-Gottesdienste, Flugblätter mit Gedichten und religiösen Denkanstößen, TV- Gottesdienste und Telefonseelsorge. Dies sei theologisch angemessen, da Jesus in der Abendmahlspraxis schon immer zugleich leiblich präsent in der Hostie und doch abwesend war, da es sich um ein Erinnerungsmahl handelt (S. 83). Dennoch stellt sich bei den distanzierten religiösen Praktiken nicht die Frage, ob sie Gefahr laufen, zur leicht konsumierbaren zum-Mitnehmen-Variante der Glaubenspraxis zu verkommen, wobei der Aspekt kulturell-spiritueller Geselligkeit verloren geht?
Erbele-Küster: Das berührt die Frage der Bewertung von der Übertragbarkeit religiöser Praxis in den digitalen Raum. Digitalität bedeutet so Distanz bzw. Distanziertheit, wie auch Ihre Frage suggeriert und wie sich in der Tat im Anschluss an unsere Ausführungen zur Leiblichkeit formulieren ließe. Im Band ist ja auch eines der viral gegangenen Bilder zum social distancing bzw. digitalen Abendmahl aufgenommen: Leonardo da Vincis Abendmahl als Zoom-Konferenz in den Kachelgesprächen. Auch kommen hier zentrale theologische Fragen auf. Mit Blick auf das Abendmahl fragt sich, gerade auch in Hinblick auf den Aspekt des Gemeinschaftsmahls, wie dieser digital eingeholt werden kann. Ja und auch unsere leibliche Präsenzgottesdienste haben sich verändert. Der Schutz vor der Infektion bestimmt immer noch die religiöse Praxis in christlichen Kirchen in Deutschland. Gemeindegesang ist wieder möglich ‒ aber mit Maske. Das Singen unter der Maske konfrontiert mich jedes Mal mit der Leiblichkeit und Vulnerabilität. Wir hatten gerade schon davon gesprochen wie zentral der Leib als Erfahrungsort von Welt und Gott ist. Wie soll ich sagen, das Lob Gottes unter der Maske – affiziert oder „infiziert“ auch das Lob, um nochmals unseren Titel des Bandes aufzunehmen und infiziert dabei gerade nicht mit dem Virus.
schauinsblau: Sie lehnen eine Interpretation der Krise als Strafe Gottes in ihrem Buch strikt ab, sie sei einseitig und fundamentalistisch. Dennoch bieten die von Ihnen zitierten Bibelstellen unter anderem auch einer solchen Auslegung Vorschub, beispielsweise Psalm 6. Das Gottesbild hier sei schillernd, denn Gott sei zugleich strafend, heilend und erhörend (S. 54). Zeichnet sich hier nicht ein generelles Problem der Bibel ab, die einen derart interpretationsoffenen Text bildet, dass eben auch moralisierende Auslegungen legitim sind, die einen cholerischen Gott predigen?
Erbele-Küster: Interessant, wie Sie unsere Auseinandersetzung mit der Frage, ob die Covid-19 Pandemie eine Strafe Gottes ist oder nicht, gelesen haben. Wir betonen zum einen die Gefahr der Aussage und zum anderen lehnen wir moralisierende Interpretationen ab bzw. wollen diesen etwas entgegensetzten. Jetzt hoffe ich, dass sich alle Co-Autoren in meiner Antwort wiederfinden.
Aber konkret zu Ihrer Beobachtung, ob die Bibel nicht zu interpretationsoffen ist. Wir sprechen deshalb von Kriterien der Interpretation, die der biblische Kanon meines Erachtens selbst auch anzeigt. Wichtig ist für mich dabei die rhetorische und ästhetische Form des Textes wahrzunehmen sowie den sozialen und historischen Kontext, auf den der Text reagiert. Ein Text, der einen zornigen schnaubenden Gott predigt, ist gefährlich. Psalm 6 predigt nicht. Eine Ich – Stimme, deren Kehle zugeschnürt ist, klagt. Sie bittet gerade darum, dass der Zorn abgewandt wird. Der Zorn Gottes ist hier keine Erklärung, schon gar nicht eine Belehrung, die von Seiten Dritter kommt.
schauinsblau: Anknüpfend an Frage 7.: Auf Seite 72 f. problematisieren Sie den von Luther angesprochenen „verborgenen Gott“, der sich der Erkenntnis durch den Menschen entziehe, der den Gläubigen erschrecke und schwer mit dem Gott identifizierbar sei „[…] als der er sich offenbart und zugesagt hat, nicht als den, auf den Christinnen und Christen ihr Vertrauen richten.“ (S. 73). Gerät Gott hier nicht in den Verdacht, schizophren oder gar janusgesichtig zu sein? Wenn seine Identität nicht deckungsgleich ist mit der Entität, als die er sich selbst angekündigt hat, wie kann es dann überhaupt theologische Gewissheit über sein Wesen geben? Infolgedessen: Wie kann ein zornig- strafender Gott ausgeschlossen werden, der die Menschen mit Krankheiten bestraft?
Erbele-Küster: Martin Luther betont daher auch sich an den offenbaren Gott zu halten. Der verborgene Gott ist uns verborgen. Es gibt die sichtbare Seite Gottes: in Gottes Befreiungshandeln. Sie fragen nach dem Wesen Gottes. Dies zeigt sich in Gottes Menschenwerdung. Gott nimmt darin selbst Krankheiten auf sich. Eindrücklich ist dies festgehalten in Abbildungen des gekreuzigten Leichnams wie etwa auf dem Isenheimer Altar als Reaktion auf die Pest im 16. Jahrhundert oder des Kunstwerkes, das eine Pieta mit Beatmungsgerät zeigt, das im Kontext der Covid-19 Pandemie entstand, das wir im Buch abgedruckt haben.
schauinsblau: Sie sprechen das Problem an, dass besonders sozial schwache Menschen unter der Corona-Pandemie leiden. Hier gilt es den Blick auch über die Grenzen Deutschlands hinaus zu weiten, etwa auf Länder mit derart schlechter medizinischer Versorgung, dass die Personen dem Virus gänzlich schutzlos ausgeliefert sind. Wenn diese Menschen die Krise als persönliche Botschaft Gottes verstehen, wie können sie dann zu einer anderen Interpretation kommen als der einer Strafe? Wäre da nicht tatsächlich jene Auslegung afrikanischer Menschen sowohl realistischer, humanitärer, laut der Covid-19 eine Krankheit der Weißen sei, da diese „[…] mehr reisen und ein Leben im Überfluss führen, das sie achtlos anderen gegenüber werden lässt.“ (S. 49). Ist hier nicht der profane Blick eher dazu geeignet, Missstände zu benennen und zornig dagegen vorzugehen? Was hier deutlich wird, ist die von Ihnen angesprochene „sündhafte Struktur menschlicher Existenz“ (S. 112): „Leben ist immer Leben auf Kosten anderer, gerade dies wird in der Pandemie schmerzhaft spürbar.“ (S. 112). Wie lässt sich dies in Einklang bringen mit der Annahme, dass die Widerfahrnisse des Lebens stets eine Botschaft Gottes an den Gläubigen sind? Wie kann es dann sein, dass in armen Ländern lebende Christen so viel negativere Botschaften (u.a. durch die Pandemie) erhalten als die (durch die Kolonialgeschichte besonders sündenbeladenen) Europäer?
Erbele-Küster: Sie zeigen nochmals, wie gefährlich die Rede von einer Strafe Gottes sein kann und aus europäischer Sicht dazu missbraucht wurde und wird die eigene Schuldverstrickung zu negieren. „Theologie infiziert“ will nicht mit der sündhaften Struktur menschlicher Existenz eine resignative Erklärung liefern. Ich möchte hier nochmals den Begriff der strukturellen Sünde einwerfen. Es geht darum die globalen Schuld-Verstrickungen aufzudecken und wie wir am Schluss des Buches formulieren die durch das Virusgeschehen offengelegten Gerechtigkeitsproblematiken anzugehen.
Danke Ihnen für Ihre Lektüre und Ihre kritischen Rückfragen.
Erbele-Küster/Küster/Roth (Hg.): Theologie infiziert. Verlag W. Kohlhammer, Stuttgart 2021.
Apl. Prof. Dr. Dorothea Erbele-Küster hat eine Lehr- und Forschungsstelle für Gender, Diversität und Biblische Literaturen an der JGU Mainz inne. „Theologie infiziert. Religiöse Rede im Kontext der Pandemie“ hat sie gemeinsam mit ihren beiden Kollegen Prof. Dr. Dr. h.c. Volker Küster und Prof. Dr. Michael Roth verfasst.
derbelek@uni-mainz.de